Botton-Up
und Top-Down in der Maslowschen Bedürfnispyramide
Etwas,
das für mich immer wieder mal Anlass zur Verwunderung
gibt, ist die Maslowsche Bedürfnispyramide. Diese hierarchische
Reihung menschlicher Bedürfnisse wurde vom amerikanischen
Psychologen Abraham Maslow (1908-1970) 1943 in seinem Aufsatz
„A Theory of Human Motivation“ (http://psychclassics.yorku.ca/Maslow/motivation.htm?guid=on)
vorgestellt. Diese Bedürfnispyramide nimmt in der deutschsprachigen
Version gewöhnlich folgende Gestalt an:
Selbstverwirklichung
Soziale Anerkennung
Soziale Beziehungen
Sicherheit
Grundbedürfnisse
Diese
Bedürfnisse werden in der Gestalt einer Pyramide dargestellt,
was zum Ausdruck bringen soll, dass ein ranghöheres
Bedürfnis erst dann entstehen kann, wenn die darunter
liegenden Bedürfnisse bereits befriedigt sind. Mit
dieser Grundidee wird die Maslowsche Bedürfnispyramide
gewöhnlich im Marketing angewendet, also z.B.: Frau
Bossi möchte eine Pizzasauce vermarkten, die mit Lebensmittelfarbe
pink gefärbt ist. Sie stellt fest, dass Bossis PinkSauce
nicht in erster Linie die menschlichen Grundbedürfnisse
(nach Nahrung) befriedigt; auch das Bedürfnis nach
Sicherheit befriedigt sie nicht. Also wird sie wohl das
Bedürfnis auf Stufe drei nach sozialen Beziehungen
(man geht mit Freunden gemeinsam Pizza essen) und auf Stufe
4 nach sozialer Anerkennung (Herr Maier wird von seinem
Umfeld als Trendsetter bewundert, weil er schon eine PinkPizza
gegessen hat) erfüllen. Das Ergebnis dieser Analyse,
die aus meiner Sicht eigentlich nur zeigt, dass dieses Produkt
keinen Nutzen hat, ist, dass man mehr Geld dafür verlangen
kann, denn da man einen Kundenkreis ansprechen wird, der
seine Bedürfnisse auf Stufe 1 und 2 schon befriedigt
hat, wird es sich dabei wohl um Menschen handeln, die mehr
Geld im Portemonnaie haben (Vgl.: http://www.easybusiness.at/Material/pdf/Leseprobe_StufeBT1.pdf)
Das
Erste, was mich bei der Maslowschen Bedürfnispyramide
immer schon gewundert hat, seitdem ich sie kenne, ist, dass
sexuelle Bedürfnisse ganz unten bei den Grundbedürfnissen
eingeordnet werden. Dabei kann man diese doch wohl oft erst
erfüllen, wenn man soziale Beziehungen hat (und diese
bekommt man oft erst, wenn man soziale Anerkennung erreicht
hat). Also alles verkehrt herum? Aber wie dem auch sei:
Jedenfalls ist die Sexualität ein Hunger, der dauerhaft
ungestillt bleiben kann. Ein jeder Priester, der im Zölibat
lebt, beweist das; ich vermute aber, dass noch viel mehr
Menschen ohne Sex leben, als man das gewöhnlich annehmen
würde. Andererseits, wenn man natürlich beobachtet,
wie viel die Menschen zu tun bereit sind, um ihre sexuellen
Bedürfnisse zu befriedigen, dann könnte man wiederum
annehmen, dass Abraham Maslow ganz und gar Recht hatte.
Denn da beobachtet man ja wirklich, wie die Leute am Wochenende
in großen Zahlen aus dem Haus laufen und die gesamte
Gastronomie mit Geld versorgen, um möglicherweise einen
Sexualpartner kennen zu lernen und sich dann bisweilen auch
noch in sexuelle Abenteuer zu stürzen, welche das menschliche
Bedürfnis zweiter Stufe nach Sicherheit in der Gestalt
körperlicher Gesundheit gefährden.
Das
Zweite, das mich an dieser Bedürfnispyramide immer
schon gewundert hat, ist, dass das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung
in der Praxis eigentlich nie vorkommt. Denjenigen Leuten,
die die Maslowsche Bedürfnispyramide verwenden, scheint
sie eigentlich immer dazu zu dienen, um den Menschen nach
unten hin „abzuerklären“ (vielleicht so
ähnlich wie man einen Betrag „abzinsen“
kann). Also sie verwenden sie dann, wenn vom menschlichen
Bedürfnis nach Selbstverwirklichung die Rede ist, um
mit ihr zu sagen: „Und – was ist mit den Bedürfnissen
auf den Stufen darunter? Solange diese nicht befriedigt
sind, gibt es gar kein Bedürfnis nach Selbstverwirklichung!“
Insbesondere interessant ist in dieser Hinsicht, dass das
Bedürfnis nach Selbstverwirklichung bei den Marketingleuten
ja praktisch nie vorkommt – zumindest bin ich dem
noch nicht begegnet. Es scheint sogar so zu sein, als ob
man sich unter Selbstverwirklichung gar nichts Rechtes vorstellen
könnte. Dazu kommt noch, dass Selbstverwirklichung
etwas zu sein scheint, was das Individuum selbst durchführen
kann, während alle übrigen Bedürfnisse von
Werbung und Industrie befriedigt werden können. Das
bedeutet, Marketing könnte auch außer in ganz
wenigen Ausnahmefällen gar nicht höher steigen
als bis zur Stufe der sozialen Anerkennung. Denn darüber
hinausgehend könnte die Wirtschaft dem Menschen ja
bloß Hilfsmittel anbieten, mit welchen er sich selbst
verwirklichen kann. Aber was wäre denn das zum Beispiel:
Künstlerbedarf? Schon möglich, nur lässt
sich jetzt schon absehen, dass alle derartigen Hilfsmittel,
von Pinsel und Farbe angefangen, über Fotoapparate
und hin bis zu Musikinstrumenten sich auch leicht auf den
Stufen 3 und 4 – also Streben nach sozialen Beziehungen
und nach sozialer Anerkennung –einordnen lassen. Mit
einem Wort: Die Selbstverwirklichung brauchen wir nicht
wirklich, sie erscheint überflüssig.
Dabei
genügt es, ein wenig in den Wikipedia-Artikeln über
Abraham Maslow und seine Bedürfnispyramide zu lesen,
um zu sehen, dass das so von ihm nicht gemeint gewesen sein
kann. Maslows Idee war es, nicht psychisch kranke, sondern
gesunde Menschen zu untersuchen, um eine Psychologie des
gesunden Menschen zu entwerfen. Und um die psychische Gesundheit
des Menschen zu verstehen, hat er Menschen beobachtet, die
er für besonders gesund hielt, das waren solche, die
sich in besonderem Ausmaß selbst realisierten. Die
englische Wikipedia-Seite erwähnt hier insbesondere
die Anthropologin Ruth Benedict und den Psychologen Max
Wertheimer, denen Maslow in New York begegnet ist und die
er sehr bewundert haben soll. Abraham Maslows Idee scheint
also ganz im Gegensatz zum heute verbreiteten Verständnis
seiner Bedürfnispyramide darin gelegen zu haben, dass
er meinte, ein jeder Mensch sollte, um psychische Gesundheit
und persönliches Glück zu erreichen, möglichst
sein gesamtes Potential verwirklichen, also er sollte auch
die höchste Stufe erklimmen und sich selbst verwirklichen.
Auch
mir selbst war das immer schon so erschienen, wenn ich die
Maslowsche Bedürfnispyramide betrachtete, nur hatte
ich dabei immer das Gefühl, sie gegen den Strich zu
lesen. Meine eigene Einsicht bezüglich der menschlichen
Bedürfnisse hätte ich so zusammengefasst: Ohne
Selbstverwirklichung ist alles nichts! Denn was ist schon
die Befriedigung der Grundbedürfnisse? Will man am
Ende seines Lebens vielleicht zu sich sagen können:
„Ich habe in meinem Leben gut gegessen?“ Auch
Gesundheit ist ein grundlegender Wert, denn ohne Gesundheit
ist alles nichts. Aber hat man nur Gesundheit und sonst
nichts, dann kann man seine Gesundheit doch auch nur in
den Schmutz treten und sie zerstören, weil man unglücklich
ist. Und was die Erfüllung sexueller Bedürfnisse
betrifft: Diese können einem zu einem starken Glücksgefühl
verhelfen, aber wiederum ist die Frage: Und was ist, wenn
man zurücktritt und sein Leben aus einer größeren
Perspektive betrachtet? Will man dann sagen können:
Zumindest habe ich in meinem Leben Sex gehabt?
Ohne
Selbstverwirklichung ist also irgendwie alles nichts. Und
dennoch scheinen die meisten Menschen anders zu leben, nämlich
in einer Weise, so dass man meinen könnte, die Marketing-Lesart
der Maslowschen Bedürfnispyramide, welche die Grundbedürfnisse
der Reihe nach befriedigt und zur Selbstverwirklichung nie
kommt, würde Recht über den Menschen behalten.
Aus dieser Überlegung heraus lässt sich überhaupt
vermuten, dass der große Erfolg der Maslowschen Bedürfnispyramide
sich aus der paradoxen Möglichkeit heraus erklärt,
dass man sie auf zwei Weisen lesen kann: von unten nach
oben, so wie das heute die meisten tun, und von oben nach
unten, so wie ich es tue und wie es aber offenbar auch Maslow
tat! Abraham Maslow gilt ja auch als der Begründer
der „Humanistischen Psychologie“, hätte
er seine Bedürfnispyramide von unten nach oben gelesen,
müsste er wohl eher als der Begründer der „Animalischen
Psychologie“ gelten.
Doch
genau wegen dieser Doppeldeutigkeit der Maslowschen Bedürfnispyramide
stellt sich die Frage, wie denn der Mensch wirklich ist?
Spielt die Selbstverwirklichung bei ihm eine Rolle oder
spielt sie keine Rolle? Schien mir bislang die Maslowsche
Bedürfnispyramide eine definitive Aussage über
das Wesen des Menschen anzubieten, nämlich die, dass
er seine Bedürfnisse der niedrigeren Stufen befriedigt
und bis zur Selbstverwirklichung überhaupt nie kommt,
so wurde ich jetzt zwar über die theoretischen Intentionen
Maslows eines Besseren belehrt, aber die Frage ist ja dennoch,
ob die Marketingmenschen mit ihrer verdrehten Auffassung
der Maslowschen Bedürfnispyramide nicht doch Recht
behalten?
In
dem Fall hätte ich gesagt: Zur Einsicht und zur Wesensart
eines philosophischen Menschen (im Gegensatz zu allen übrigen
Menschen) gehört es, dass der Mensch ohne Selbstverwirklichung
kein gutes Leben führen kann; wie aber die übrigen
Menschen leben können, das verstehe ich schlicht nicht.
Nun
ist es aber so, dass mir diese Einsicht selbst unter Menschen,
die sich für Philosophie begeistern können, nicht
allgemein geteilt zu werden scheint. Ich halte sie dennoch
für richtig, wundere mich aber nun darüber, wie
es möglich ist, dass manche Menschen als Ziel des Philosophierens
die Auffindung von objektiven und allgemein verbindlichen
Wahrheiten ansetzen und in ihr nicht das sehen, was sie
ist: eine Bedürfnisbefriedigung, etwas, das man unternimmt,
damit es einem besser geht (grundsätzlich in einem
nichttherapeutischen Sinne; manchmal möglicherweise
aber auch in einem therapeutischen), etwas daher auch, bei
dem es um nichts anderes und um nicht mehr geht als um Gefühle:
Philosophieren tut man, um sich vollständig zu realisieren
und deshalb, um sich besser zu fühlen als man sich
ohne Philosophieren fühlen würde.
Wie
kommt es, das Menschen, die philosophieren oder auch, allgemeiner
gesprochen, Menschen, die sich selbstverwirklichen, die
Tendenz haben, den Menschen nach unten „abzuerklären“?
Ein lustiges Beispiel dafür habe ich jetzt vor kurzem
in der Literaturtheorie gefunden. Um zu erklären, warum
Menschen literarische Kunstwerke schaffen, erklärt
Hans-Dieter Gelfert in seinem Buch: Was ist gute Literatur?
Wie man gute Bücher von schlechten unterscheidet.
(C.H. Beck, München 2004) die Ursachen der Entstehung
von Kunst so:
„Warum
gibt es überhaupt Kunst?
Was bringt Menschen dazu, Gegenstände herzustellen
und Handlungen auszuführen, die außer der
Erzeugung von Wahrnehmungslust keinen praktischen Nutzen
haben? Geht man weit genug in der Menschheitsgeschichte
zurück, wird man auf zwei Wurzeln der Kunst stoßen.
Die eine ist das angeborene Schmuckbedürfnis, das
sich bereits im Tierreich beobachten lässt. Lange
Zeit hatte es beim Menschen zweifellos den gleichen
Zweck, nämlich die Erhöhung der eigenen Attraktivität
bei der Werbung um den Sexualpartner.“ (S.
15) |
Also
jemand, der sich selbst intensiv mit Literatur auseinandersetzt
und von daher eigentlich wissen müsste, warum er sich
mit Literatur gerne auseinandersetzt (er bräuchte ja
nur in sich selbst hineinschauen und sich danach fragen),
setzt als Erklärung für die Schaffung und die
Attraktivität von Kunst die Werbung um den Sexualpartner
an, er nimmt also Bezug auf die Stufen 1 und 3 der Maslowschen
Bedürfnispyramide. Vielleicht ist der Grund dafür,
warum er das tut, auch im Wesen wissenschaftlicher Erklärungen
zu suchen: Hier versucht man ja immer etwas weniger Greifbares
durch etwas Greifbareres zu erklären, etwas Entfernteres
und Prekäreres durch etwas Näherliegenderes und
Festeres. Das Resultat ist: Man erklärt Kunst oder
Selbstverwirklichung durch Sex (weil „Sex sells“,
wie man in der Werbung sagt). Wobei dazuzusagen ist, dass
das ja auch sicher nicht falsch ist: Kunst im Besonderen
und Ästhetisierung haben immer schon und heute immer
noch die Funktion erfüllt, sich für einen möglichen
Sexualpartner attraktiver zu machen. Das Problem ist nur,
dass diese Erklärung auch nicht immer richtig ist:
So kann Kunst oder auch Literatur beispielsweise in der
Situation Verwendung finden, wenn kein möglicher Sexualpartner
in Sicht ist und einem langweilig ist, um sich mit ihr die
Zeit zu vertreiben. Dennoch setzt Hans-Dieter Gelfert seine
Erklärung der Kunst unter besonderer Berücksichtigung
der unteren Stufen der Maslowschen Bedürfnispyramide
und unter besonderer Ausklammerung der oberen Stufen fort:
„Bis
heute macht Verschönerung der eigenen Person, der
Speisetafel, der Wohnung, des Gartens und des weiteren
Lebensraums den größten Teil unserer ästhetischen
Bemühungen aus. Hier haben wir es mit einer Sphäre
zu tun, die den Wurzelboden der Kunst abgibt, obwohl
die zugrunde liegenden Erzeugnisse und Handlungen zweckorientierten
Gebrauchswert haben, auf dem der Selbstzweck des Kunsthaften
sich sekundär wie eine Orchidee auf einem Baum
gewickelt hat.“ (S.
16) |
Die
Frage ist nun nicht, ob das stimmt. Nein, es wird schon
stimmen. Die Frage ist nur, ob man auf diese Weise das herausbekommt,
was Kunst eigentlich ausmacht? Oder ob man durch diese Erklärungsweise
nicht dasjenige herausbringt, was solche Menschen, die eigentlich
für Kunst nichts übrig haben, trotzdem mit Kunst
verbindet, sodass man ihnen das eine oder andere Kunstwerk
„verkaufen“ kann, wenn es nur die menschlichen
Bedürfnisse auf diesen unteren Stufen der Maslowschen
Bedürfnispyramide erfüllen kann?
„Die
zweite Wurzel der Kunst beruht auf der Erfahrung der
Menschen, dass sich die Wirkung ästhetischer Reize
verallgemeinern lässt. Wenn man durch sie den Sexualpartner
gewinnen kann, weshalb sollte es dann nicht möglich
sein, auch andere Wesen wie z.B. die Naturkräfte
für sich einzunehmen? Selbst primitivste Naturvölker
schufen Gegenstände und Rituale, die dem Zwecke
dienten, sich die guten Geister geneigt zu machen und
die bösen zu beschwichtigen. Folglich waren auch
die kultischen Objekte anfangs zweckorientiert.“
(S.
16, gleich anschließend) |
Am
Ende dieser historischen Herleitung der Ursachen für
das Kunstschaffen, von der man nicht weiß, welchen
Zweck sie eigentlich haben soll – will sie die historische
Wahrheit über die Entstehung der Kunst zum Ausdruck
bringen oder will sie etwas allgemein über das Wesen
des Menschen sagen (oder will sie sogar beides in einem)?
– überträgt Gelfert das Gesagte noch auf
die Dichtkunst, die im Großen und Ganzen dieselben
Ursachen zu haben scheint:
„Was
die Dichtkunst betrifft, so müssen die Menschen
schon bald nach der Entwicklung einer ausdrucksfähigen
Sprache gemerkt haben, dass man mit rhetorischer Verfeinerung
andere Menschen beeindrucken kann. Es entstand das Amt
des Sängers bei Häuptlingen und Fürsten,
dessen Aufgabe darin bestand, die Taten seines Herrn
in schmuckreicher Sprache zu rühmen und der Nachwelt
zu überliefern. Wenn aber solche Sprache den mächtigen
Häuptling beeindruckte, dann durfte man annehmen,
dass sie auch auf Dämonen und Götter wirkte.“
(S.
17) |
Ein
boshafter Gedanke dazu: Besteht das Wesen eines populärwissenschaftlichen
Buchs (wie dem von Gelfert) vielleicht darin, dass man den
Menschen die Dinge aus dem heraus erklärt, was sie
schon kennen, um es ihnen auf diese Weise zu ersparen, eine
neue Erfahrung zu machen? (Dabei besteht Kunst oder auch
Philosophie wesentlich in dieser neuen, zusätzlichen
Erfahrung und lässt sich nicht völlig aus dem
Streben nach sexueller Befriedigung oder nach Ansehen bei
den Mitmenschen erklären, obwohl diese Faktoren in
der Realität gewiss immer auch eine Rolle spielen oder
gespielt haben.) Dabei bin ich übrigens gar nicht der
Ansicht, dass Selbstverwirklichung eine besonders elitäre
Erfahrung wäre, die einfachen Menschen nicht zugänglich
ist, im Gegenteil: Ich würde eher vermuten, dass sie
beinahe einem jeden Menschen zugänglich ist, der nach
ihr strebt, aber es sieht eher so aus, als würden sich
die meisten Menschen vor ihr sogar verteidigen: im Wesentlichen
dadurch, dass sie sich in der Befriedigung der Bedürfnisse
der unteren Stufen der Maslowschen Pyramide so gut einrichten,
dass sie möglichst gar kein Bedürfnis mehr nach
etwas darüber Hinausgehendes empfinden. Das hängt
auch damit zusammen, dass die Erfüllung der Bedürfnisse
der unteren Stufen allein schon eine unendliche Aufgabe
ist: Mit Versuchen, bei seinen Mitmenschen Eindruck zu schinden
und ihre Anerkennung zu gewinnen, kann man beispielsweise
sein ganzes Leben zubringen, ohne je an ein Ende zu gelangen.
Nun
gut, Hans-Dieter Gelferts Erklärung des Ursprungs von
Kunst und Literatur rechne ich eher zu den Kuriositäten.
Es wird wohl nicht wirklich wer glauben, dass der Sinn von
Kunst gut mit deren Hilfestellung bei der Werbung um einen
Sexualpartner erklärt ist, noch dazu, weil Kunst und
Literatur ja vor allem für denjenigen Menschen eine
Hilfe zur Lebensgestaltung sein können, dessen Äußeres
nicht attraktiv genug ist, um einen Sexualpartner zu finden.
Denn wenn man nicht so aussieht, wie man aussehen soll,
dann wird auch die Kunst nicht ausreichen, um einen attraktiver
zu machen. Im Gegenteil, man wird Zeit genug haben, sich
mit Kunst oder etwas anderem zu beschäftigen.
Aber
das Kuriose an der Maslowschen Bedürfnispyramide (von
unten gelesen, also den Menschen auf seine Bedürfnisse
der niedrigeren Stufen „aberklärt“) ist,
dass sie stimmt und gleichzeitig nicht stimmt. Sie stimmt
daraufhin besehen, wie sich die Menschen tatsächlich
verhalten, aber sie stimmt nicht daraufhin besehen, wie
der Mensch eigentlich ist (oder eigentlich wäre, wenn
er es erkennen würde). Diejenigen, die erkennen, dass
im Leben letztendlich keine Befriedigung zu erreichen ist
ohne Selbstverwirklichung, nenne ich die philosophischen
Gemüter, und diejenigen, die in der Bedürfnispyramide
der Reihe nach vorgehen, so wie es ihnen die Marketinger
vorschreiben, das sind die normalen Menschen.
Und
paradoxerweise haben die Marketing-Fachleute Recht –
und die philosophisch orientierten Menschen haben auch Recht,
aber aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Aus individueller
und ethischer Sicht, also aus der Sicht der Lebensgestaltung,
würde ich jedoch auf das Element der Lebensgestaltung
nicht verzichten wollen, denn ob ich einen Sexualpartner
finde, das hängt nicht von mir ab, sondern vom Willen
meines eventuellen Sexualpartners. Ob ich soziale Zugehörigkeit
erreiche, hängt ebenfalls nicht von mir ab, sondern
von einer sozialen Gruppe, die mich akzeptiert oder auch
nicht. Im Bereich der sozialen Anerkennung treten wir vollends
in den Bereich des Absurden ein, denn ob ich einen hohen
gesellschaftlichen Status und die Bewunderung meiner Mitmenschen
erringen kann, das hängt von vielen Moden ab, denen
ich zufälligerweise entsprechen kann oder deren Anforderungen
ich nicht erfüllen kann. Das Einzige, das ich ein bisschen
in der Hand habe (neben den Bedürfnissen nach Nahrung
und Wohnung, deren Erfüllung in einem reichen Land
der westlichen Welt meistens möglich sein sollte),
ist Selbstverwirklichung, wenn ich nur ein wenig Freizeit
habe.
6.
März 2010
Hypertrophie
der Bedürfnisebenen 1 und 4 in der Maslowschen Bedürfnispyramide
Vor 8
Jahren (siehe obenstehenden Text) habe ich meine Verwunderung
zum Ausdruck gebracht, dass die Wirtschaft Maslows Bedürfnispyramide
genau umgekehrt verwendet wie von Maslow intendiert:
- Maslow
wollte von den niedrigeren Ebenen der Bedürfnispyramide
zur Selbstverwirklichung gelangen.
- Die
Wirtschaft kombinierte: Die niedrigeren Ebenen der Bedürfnispyramide
sind regelmäßiger und stabiler ("Gegessen
wird immer!"), also bieten wir nur für sie Leistungen
an; für die Selbstverwirklichung bieten wir nichts
an!
Heute
möchte ich dem noch etwas hinzufügen betreffend
der Frage: Warum erfindet die Wirtschaft lieber eine einhunderteinte
Geschmacksrichtung von Kartoffelchips als etwas Interessantes
anzubieten?
1.
Erklärungsversuch: Selbstverwirklichung hat keinen
Nutzen, weil sie nicht in das Bedürfnissystem integriert
ist.
Die
MASLOWsche Bedürfnispyramide:
Das
Bild will zeigen, dass die Vorstellung, dass der Mensch
zuerst die niedrigeren Bedürfnisebenen befriedigt und
dann die höheren falsch ist.
Beispiel:
Ein Mann will Sex.
- Dazu
benötigt er zuerst einmal Geld (finanzielle Sicherheit);
- mit
dem Geld besorgt er sich Wohnung und Kleidung (essen und
trinken muss er natürlich auch);
- so
ausgerüstet geht er fort und gewinnt Freunde;
- kann
er viele Menschen für sich begeistern, hat er Erfolg
und erlangt Status;
- sobald
er sozialen Status hat, kann er um eine Frau werben;
- hat
er das Herz einer Frau gewonnen, so wird sie nicht einfach
Sex mit ihm haben, denn so handeln Frauen nicht, sondern
sie wird eine langfristige Beziehung (Familie, Intimität)
zur Bedingung dafür machen;
- Ist
der Mann auf diesem umständlichen Weg zum Ende gelangt,
kann er endlich Sex haben.
Das Beispiel
zeigt: Jedes dieser Bedürfnisse hat einen Nutzen, also
es ist Mittel zur Befriedigung eines anderen Bedürfnisses:
Geld
befriedigt das Bedürfnis nach Wohnung und Kleidung
-> schöne Kleidung hilft bei der Gewinnung von Freunden
-> Erfolg ist der Erfolg bei anderen Menschen -> Status
hilft bei der Werbung um eine Frau -> Frauen wollen langfristige
Beziehungen -> die intime Beziehung verhilft zu Sex.
Sex selber
hat übrigens keinen Nutzen, jedenfalls nicht für
den Mann. Sex ist ein so starker Motivator, dass Männer
den gesamten geschilderten Aufwand in Kauf nehmen, um Sex
erleben zu dürfen. Für Frauen hat Sex durchaus
einen Nutzen: Sie verwenden Sex, um einen Mann in einer
langfristigen Beziehung an sich zu binden und ihn zu zahlreichen
weiteren Leistungen an sie zu "motivieren" (Blumen,
Einladungen ins Restaurant, Geschenke, Urlaube, Einrichung
einer gemeinsamen Wohnstatt, Versorgungsleistungen für
den Nachwuchs).
Was man
aus dem Bild weiters ersieht: Wenn Frauen ihre Partner danach
auswählen würden, ob sie sich selbstverwirklichen,
würden sich alle Männer selbstverwirklichen; wenn
Menschen ihre Freunde danach aussuchen würden, inwieweit
sie sich selbstverwirklichen, dann würden sie sich
selbstverwirklichen. Aber weil Selbstverwirklichung etwas
ist, das man ausschließlich für sich selbst tut,
hat es keinen Nutzen.
Das gilt
auch für die Frage nach dem Nutzen von Philosophie:
Man kann der Philosophie freilich allerhand Nutzen zuschreiben.
Das kommt darauf an, wie aufwändig man sucht und welche
Verrenkungen man dabei akzeptieren will, ihr diesen oder
jenen Nutzen zuzuschreiben. Aber wenn man akzeptiert, dass
man aus Spaß an der Sache philosophiert, dann kann
Philosophie keinen Nutzen haben. Der Fehlschluss ist nur,
dass alles, was keinen Nutzen habe, auch keinen Wert habe.
Nein, Philosophie hat durchaus Wert, es kann nur oft nicht
als Mittel dienen, um andere zu beeindrucken.
2.
Die Hypertrophie der Bedürfnisebenen 1 und 4 der MASLOWschen
Bedürfnispyramide
Der britische
Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes hat geglaubt,
wenn die Produktivität steigt, werde die Arbeitszeit
zurückgehen, die Menschen werden wohlhabender sein
trotz weniger Arbeitsleistung, und sie werden immer mehr
Freiheit haben (freie Zeit) statt einem Leben, das von Zwang
und Notwendigkeit geprägt ist.
Es gilt
zu erklären, warum sich diese Hoffnung nicht erfüllt
hat.
Folgende
Darstellung der Maslowschen Bedürfnispyramide soll
zeigen, dass sich die Produktion von wirtschaftlichen Gütern
und Dienstleistungen auf den Ebenen 1 (körperliche
Bedürfnisse) und 4 (Ego-Bedürfnisse) staut.
Die
Bedürfnisebenen 1 und 4 der MASWLOWschen Bedürfnispyramide
blähen sich in unserer gegenwärtigen Wirtschaft
hypertroph auf:
Dazu
ist anzumerken,
- dass
die Ego-Bedürfnisse falsch benannt sind: Nach Erfolg
und Status strebt man nicht für sein Ego, sondern
man bekommt sie von den anderen Menschen. Sie bringen
nur den Grad der Anerkennung durch andere Menschen zum
Ausdruck.
- Die
sozialen Bedürfnisse (Ebene 3) kann man auch nicht
selbst befriedigen; man bekommt die Bedürfnisbefriedigungen
von anderen Menschen zugeteilt; man kann höchstens
seinen Teil dazu beitragen.
- Das
Sicherheitsbedürfnis (Ebene 2) sehe ich eigentlich
für die meisten Menschen in unserer Gesellschaft
als nicht gestillt an: Wer hat schon so viel Geld, dass
er "finanziell frei" ist? Der Rest von uns muss
um seinen Arbeitsplatz fürchten.
Weil
wir zur Befriedigung unserer Bedürfnisse der Ebenen
2 und 3 nur beschränkt selbst etwas beitragen können
und unsere Grundbedürfnisse - Essen, Trinken, Kleidung
und Wohnen - bereits befriedigt sind, quillt die Wirtschaft
in zwei Bereichen richtiggehend über. Um Verwendung
für die erwirtschafteten überschüssigen Mittel
zu finden, boomen Angebote auf den Ebenen 1 und 4.
Dass
wir "Dinge kaufen, die wir nicht brauchen, um damit
Menschen zu beeindrucken, die wir nicht mögen",
kann fast schon als Definition für ein wirtschaftliches
Angebot mit Kundennutzen gelten. Die Ironie bei der Sache
ist, dass ein nützliches Produkt oft ein solches ist,
dass wir nicht brauchen; wir brauchen es nur, um andere
Menschen damit zu beeindrucken. Hierher gehören all
die Spielzeuge, die wir uns kaufen, um bei dem Spiel "Wer
mit den teuersten Spielzeugen stirbt, hat gewonnen"
mitzuspielen. Hierher gehören aber auch die teuren
Urlaube, Sportarten, Restaurantbesuche und Lebensmittel,
die wir konsumieren, damit Andere uns dabei zusehen und
auf uns neidisch werden. Auf Englisch heißt das "conspicuous
consumption", also Konsumption mit dem Zweck, dass
man herzeigt, wie man konsumiert.
Am unteren
Ende der Bedürfnispyramide können wir uns heute
nicht mehr einfach nur ernähren, kleiden und wohnen,
sondern wir müssen biologische Lebensmittel glutenfrei
genießen. Es gibt eine Flut von Zeitschriften, die
zeigen, wie man schöner wohnt und sein Leben besser
genießt. Die Frage ist, wie man dieses Phänomen
interpretieren will. Es könnte sein, dass
- Genuss
für viele Menschen das höchste Bedürfnis
ist: Wenn sie sonst schon alles haben, dann wollen sie
genießen; das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung
haben sie einfach nicht. Viele Frauen haben eine Abneigung
gegen "Kopflastigkeit" und ersetzen Selbstverwirklichung
durch Genuss beim Essen, Shiatsu und Wellness- oder Spa-Kuraufenthalte.
- Die
Menschen müssen hart arbeiten, um sich die Dinge
kaufen zu können, die sie nicht brauchen, aber mit
denen sie andere Menschen beeindrucken können, die
sie nicht mögen, sodass sie zu müde sind für
Selbstverwirklichung: Der Genuss teuren Essens und eines
guten Weins ist gleichsam eine kleine Rekompensation dafür,
dass man sein Leben versäumt.
- Genuss
ist hängt natürlich auch mit "conspicuous
consumption" zusammen: Vielleicht sind der Sozialtrieb
und die Außensteuerung bei den meisten Menschen
so stark, dass ihre Motivation ihr letztes Ziel darin
findet, andere Menschen zu beeindrucken.
Ich habe
einen Nachbarn, der liest gern Bücher (Literatur) und
weiß selber, ob ihm ein Buch gefällt. Seine Selbstverwirklichung
ist äußerst kostengünstig, denn er braucht
dazu nur etwas Freizeit und ein gutes Buch. Ein gutes Buch
findet sich antiquarisch um 50 Cent bis 2 Euro oder oft
sogar gratis im öffentlichen Bücherschrank. Wenn
er liest, erlebt er dabei zwar Freude, aber das kann natürlich
keinen anderen Menschen beeindrucken.
Meiner
Einschätzung nach - Daumen mal Pi - wäre unsere
Wirtschaftsleistung heute ein 1/4 bis 1/5 so groß,
wie sie gegenwärtig ist, wenn wir nur unsere Bedürfnisse
befriedigen würden. Der Rest, 3/4 bis 4/5 der Wirtschaftsleistung,
befriedigt keine Bedürfnisse, sondern hat nur den Zweck
unsere Mitmenschen zu beeindrucken. Hörten wir damit
auf und würden anstatt unser Bedürfnis der Selbstverwirklichung
befriedigen, so wäre damit ein gewaltiger Einbruch
der Wirtschaftsleistung verbunden sowie des Wohlstands,
wie er heute in Zahlen gemessen wird.
17.9.2018
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