Was
ist Philosophie?
Was
die Philosophie betrifft, so ist für mich die Frage
„Was ist eigentlich Philosophie?“ eines meiner
Lieblingsthemen.
Und ich hätte wirklich Lust, vielleicht einmal eine
Einführung in die Philosophie zu schreiben, und zwar
eine, die die Menschen wirklich hinführt zur Philosophie.
Die meisten sind ja nur für diejenigen Menschen gemacht,
die ohnehin schon drinnen sind in der Philosophie und nicht
mehr zu ihr überredet werden müssen.
Das
Thema „Was ist eigentlich Philosophie?“ scheint
mir jedenfalls von größter Dringlichkeit zu sein
in unserer Zeit, in der, wie es aussieht, viele Menschen
einfach jede Vorstellung von Philosophie verloren haben.
Ich
will das, was ich sagen will, zeigen anhand eines Artikels
von Frank Hartmann mit dem Titel „Gott, Schafe und
Psychopharmaka“, der über den Philosophen Sören
Kierkegaard abhandelt und am 5. November 2005 in der österreichischen
Tageszeitung „Der Standard“ erschienen ist;
der Autor des Artikels ist Dozent für Medientheorie
an der Universität Wien.
Der
Artikel beginnt folgendermaßen:
„Der
exzentrische dänische Philosoph Kierkegaard, den uns
die Magie der runden Zahl als Thema aufzwingt, ist für
aufgeklärte Philosophen kaum mehr von Interesse.“
Das
fängt ja gut an! – dachte ich, als ich das gelesen
hatte: Da hat man offenbar speziell jemanden gesucht, den
es nicht interessiert, über Kierkegaard zu schreiben.
Die Erwartungen sind nach einem solchen Einleitungssatz
also bereits entsprechend zurückgeschraubt. Und tatsächlich
polemisiert der Autor in der Folge heftig gegen Kierkegaard
und wettert gegen die Existenzphilosophie, mit der ihn in
der Schule schon sein Philosophielehrer gequält hat.
Dann erreicht der Text seinen ersten Höhepunkt in der
Aussage:
„Zugegeben,
dies alles sind wichtige, ja geradezu schwergewichtige Fragen.
Aber haben sie denn heute noch Bestand? Oder hat hier nicht
doch eine historische Person ihre persönlichen zu philosophischen
Problemen stilisiert?“
Hier
findet sich bereits das, worüber ich reden möchte:
Der Autor ist offenbar der Meinung, dass philosophische
Probleme etwas anderes - Größeres, Höheres,
Allgemeineres – seien als persönliche Probleme;
Probleme, die jedenfalls mehr Menschen betreffen als nur
die Persönlichkeit des Philosophen. Dieser Anschauung
liegt, wie ich meine, ein falsches Verständnis von
Philosophie zugrunde. Ich wüsste gar nicht, was philosophische
Probleme anderes sein sollten als persönliche Probleme.
Ich würde sogar sagen: Noch nie hat irgend ein Philosoph
etwas anderes gemacht, als seine persönlichen Probleme
zu philosophischen zu stilisieren.
Das
eigentliche Problem in der zitierten Aussage liegt aber
in der in ihr enthaltenen Wertung: Es gilt offenbar als
schlecht oder minderwertig, wenn jemand „nur“
seine persönlichen Probleme vorbringt. Genau hier liegt
das Problem: Weil das Persönliche nämlich die
eigentliche Stärke der Philosophie ist – oder
wäre, wenn man das akzeptieren könnte.
Wenn
man in diesem Punkt den Vergleich mit der Wissenschaft sucht,
wird die Sachlage sofort klarer: Die Wissenschaft sucht
nach Erkenntnissen, die für alle Menschen gelten, aber
keinen Menschen wirklich interessieren. Die Philosophie
hingegen sucht nach Gedanken, die wenigstens einen Menschen
wirklich interessieren – ob sie dann auch noch andere
Menschen interessieren, das darf sich dann von selber herausstellen.
Wenn
ich eine wissenschaftliche Erkenntnis vermittelt bekomme,
dann liegt ihr Wert für mich darin, dass ich annehmen
darf, dass sie wahr ist. Wenn ich einen philosophischen
Gedanken lese oder höre, liegt der Wert für mich
darin, dass ich weiß, dass dieser Gedanke wenigstens
einen Menschen bereits sehr interessiert hat – und
das ist mir sehr wertvoll, weil das die Wissenschaft nicht
leistet!
Als
nächstes möchte ich folgenden Satz des Autors
betrachten:
„Die
Geschichte zeigt, was dabei herauskommt. Ja, es ließe
sich mit einigem Grund vermuten, dass eine rechtzeitige
Therapie und einige ausgesuchte Psychopharmaka uns die „Philosophie“
Kierkegaards erspart hätten.“
Der
Autor geht offenbar davon aus, dass WIR UNS mit Philosophie
beschäftigen müssen in Analogie dazu, wie WIR
UNS mit Wissenschaft beschäftigen müssen. Er meint
also offenbar, dass Philosophie und Wissenschaft einen vergleichbaren
Wahrheitsanspruch haben, der sich an UNS richtet. Auch hier
liegt meiner Ansicht nach eine falsche Vorstellung von Philosophie
zugrunde: Philosophie richtet sich im Gegensatz zur Wissenschaft
nicht an UNS, sondern an MICH. Das würde die Angelegenheit
übrigens auch für den Autor einfacher machen:
Wenn er möchte, dass IHM die Philosophie Kierkegaards
erspart bleibt, dann genügt es an sich, wenn er nichts
mehr von Kierkegaard liest.
Was
die Geschichte mit der Therapie und den Psychopharmaka betrifft,
so ist dazu folgende Anmerkung zu machen: Ob ein Philosoph
normal oder verrückt ist, macht keinen Unterschied,
wenn er nur interessante Gedanken produziert – und
das zu entscheiden liegt ja bei mir, beim Leser; selbst
wenn Kierkegaard also verrückt gewesen sein sollte,
ich wüsste nicht, wie das gegen ihn als Philosophen
sprechen könnte.
In
folgender Aussage nun fand der Artikel für mich seinen
Gipfelpunkt:
„Immer
geht es, vor der Instanz des Einzelnen, gegen das Allgemeine,
gegen Vermittlung gegen die Perspektive dessen, was später
„gesellschaftlich“ heißen sollte. Das
macht „Victor Eremita“, den in Einsamkeit Siegenden
(eins der vielen Pseudonyme Kierkegaards), so unausstehlich:
Sein Philosophieren hat nur mit ihm selbst zu tun, soll
aber publiziert und allgemein maßgeblich sein.“
Da
bin ich wirklich ratlos: Was hier erstaunlich ist, ist,
dass hier offenbar jemand genau das, was mir so sehr gefällt
an der Philosophie, „unausstehlich“ findet:
Die Instanz des Einzelnen, der über die ihn umgebende
Welt nachdenkt und zwar so nachdenkt, dass dieses Nachdenken
etwas mit ihm selber als Person zu tun hat – ich glaube,
das ist das Wertvollste, was die Philosophie uns zu bieten
hat, und es ist zugleich auch das, was mir in der Wissenschaft
so schmerzlich abgeht. Wenn jetzt jemand sagt, er mag genau
das nicht, dann wird es für mich schwer, mich mit einem
solchen Menschen überhaupt noch zu verständigen.
Verblüffend
ist bei dieser Aussage auch die totale Umkehrung der realen
Verhältnisse: Durch die Weise der Formulierung wird
vom Autor suggeriert, dass sehr viele Menschen in ihren
Schriften das Wort „ich“ verwenden und ihre
persönliche Meinung zum Ausdruck bringen würden,
was ein Übel sei, während jene Stimmen, die das
„Allgemeine“ und das „Gesellschaftliche“
vertreten, ganz selten wären. Genau das Umgekehrte
ist aber der Fall: Texte, in denen es sich jemand traut,
seine eigene Meinung zu sagen, sind äußerst selten.
Als
ich aber weiter über die zitierte Aussage nachdachte,
da fiel mir ein, dass ich in Wien während meines Studiums
mehrere Menschen von dieser Sorte kennen gelernt habe. Das
scheint also ein eigener Menschentypus zu sein. Es handelt
sich dabei offenbar um sehr intelligente Menschen, die
nicht nur unphilosophisch sind, sondern richtiggehend antiphilosophisch.
Die philosophische Neigung, in sich selber herum zu graben,
zu grübeln, bis man vielleicht einmal was findet, finden
sie nicht einfach nur dumm oder unnütz, sondern sie
bereitet ihnen richtiggehend körperlichen Abscheu,
sodass sie sich davor ekeln.
Ich
weiß nun nicht, wie diese Menschen funktionieren,
wie sie „ticken“? Ich weiß bislang nur,
dass das eigene Ich und das Persönliche, dasjenige,
was mir ein so großes Bedürfnis ist, dass ich
deswegen zur Philosophie gerannt komme, weil ich es sonst
nirgendwo finde, ihnen ein Graus ist und sie es am liebsten
restlos vernichtet sähen. Ich vermute, dass sie in
ihrem Leben irgendwo eine Kompensation finden für das,
was ich in der Philosophie finde. Oder es ist auch möglich,
dass die eigene Persönlichkeit für sie einen Abgrund
darstellt, dem sie um jeden Preis ausweichen müssen.
Es
ist nun sicherlich so – und das resultiert schon aus
dem Wesen der Philosophie – dass jedem das Recht zugestanden
werden muss, sich nicht für Philosophie zu interessieren,
wenn er in sich kein Interesse an der Philosophie, kein
Bedürfnis nach ihr vorfindet. Insofern kann ich dem
Autor also auch keinen Vorwurf machen: Ich weiß nicht,
wie ein unphilosophischer Mensch denkt, empfindet, lebt
– aber wenn es für ihn funktioniert, dann soll
er eben mit seiner unphilosophischen Haltung leben. Das
Problem, das sich für mich aus den vier Zitaten ergibt,
ist ein anderes: Es resultiert daraus, dass sie allesamt
so formuliert sind, dass sie eine Sprechhandlung vollziehen,
und zwar handelt es sich um die Sprechhandlung des Bezugnehmens
auf eine Übereinkunft der Gemeinschaft, auf einen allgemeinen
Konsens, der so selbstverständlich ist, dass er nur
mehr angedeutet zu werden braucht und nicht einmal mehr
ausdrücklich formuliert werden muss.
So
scheint es im ersten Zitat eine klare Sache zu sein, die
alle Menschen so verstehen, dass ein guter, ein interessanter
Philosoph aus der Geschichte für alle heutigen Philosophen
von Interesse sein müsste, ein schlechter hingegen
für keinen interessant sein dürfte. Das Gegenteil
ist wahr: Für ein und denselben Philosophen kann sich
ein Mensch interessieren und der andere nicht, je nachdem
ob die eigenen Lebensfragen mit denen des betreffenden Philosophen
eine Verwandtschaft aufweisen oder nicht.
Über
das zweite Zitat habe ich schon geredet: Auch hier wird
auf einen allgemeinen Konsens Bezug genommen, wonach man
nicht seine persönlichen zu philosophischen Problemen
stilisieren dürfe. Dasselbe gilt für das dritte
Zitat: Es scheint keiner Erklärung zu bedürfen,
dass WIR UNS mit einer Philosophie wie der Kierkegaards
auseinandersetzen müssen, woraus folgt, dass Psychopharmaka
für Kierkegaard UNS die Philosophie dieses Denkers
ersparen hätten können. Das vierte Zitat geht
ebenfalls in dieselbe Richtung: Kierkegaards Philosophieren
habe, so wird gesagt, nur mit ihm zu tun, solle aber publiziert
und maßgeblich sein – auch hier wird auf einen
gesellschaftlichen Konsens Bezug genommen, wonach dasjenige,
was publiziert wird, nicht mehr nur rein persönlich
sein dürfe sondern allein durch den Akt des Publizierens
eine Maßgeblichkeit für alle Menschen beanspruche.
Aus
all dem entsteht ein Bild von Philosophie, das sich in aller
Kürze so beschreiben lässt: Eine Philosophie,
das ist eine kulturelle oder intellektuelle Strömung
in einer Gesellschaft (dem entspricht: eine Philosophie
wie die Kierkegaards ist von Bedeutung nur dann, wenn viele
Menschen sich ihr anschließen und sie sich so zu einer
gesellschaftlichen Bewegung auswächst, etwa in der
Form von DER „Existenzphilosophie"); die Aufgabe
dieser Philosophie als gesellschaftlicher Strömung
besteht dann darin, die gesellschaftlichen Zustände
oder den gesellschaftlichen Wandel angemessen zu reflektieren;
und drittens: sie wird innerhalb der Gesellschaft als intellektuelle
Strömung wichtig werden oder ist als gut zu beurteilen,
wenn sie eben diese Aufgabe gut erfüllt, im gegenteiligen
Fall aber wird sie keinen „aufgeklärten Philosophen“
interessieren.
Die
Möglichkeiten, Kierkegaard als einen einzelnen nachdenkenden
Menschen wahrzunehmen (Subjekt individuell), der über
die Probleme seines Lebens (Objekt individuell) nachdenkt
und sich damit an mich als einzelnen Leser (Empfänger
individuell) wendet, der sich von diesen Gedanken dazu inspirieren
lässt, über das eigene Leben nachzudenken (individuelle
Verwendungsweise), werden durch ein solches Philosophieverständnis
alle unterbunden!
Und
es wird dabei, wie gezeigt, so getan, als wäre das
alles „eh klar“, als bestünde ein gesellschaftlicher
Konsens darüber, dass Philosophie so sein müsse
und als ob jeder diese Meinung teilen würde. Ich kann
nur sagen, dass ich diesen Standpunkt nicht teile.
Nun
gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder gibt es diesen
gesellschaftlichen Konsens nicht oder nicht so hundertprozentig,
wie es in dem Artikel „Gott, Schafe und Psychopharmaka“
erscheint; in dem Fall wäre der Artikeltext als manipulativ
zu bezeichnen.
Oder
aber es gibt ihn tatsächlich und die meisten Menschen
stimmen mit dem Philosophieverständnis, das von diesem
Autor proklamiert wird, überein. In diesem Fall hielte
ich es für noch dringlicher, über die Frage, „Was
ist eigentlich Philosophie?“ zu reden, denn ich sehe
nicht, wie man in Gegenwart und Zukunft noch fruchtbar philosophieren
könnte, wenn es nicht gelingt, dieses gesellschaftliche
Vorverständnis von Philosophie zuerst aufzuweichen
und schließlich zu überwinden.
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