Anton
Pawlowitsch Tschechows Erzählung "Die Steppe"
als ethische Parabel über den Wert des menschlichen
Lebens
Soeben
habe ich Anton Tschechows fast 100-seitige Erzählung
„Die Steppe. Die Geschichte einer Reise“ gelesen
(in: Anton Pawlowitsch Tschechow: Das Duell
und andere Erzählungen. Verlag Kremayr & Scheriau,
Wien 1970. S. 140-234.) und bin tief beeindruckt
von ihr. Sie lässt mich nicht los, weil sie mir eine
inhaltliche Dimension zu besitzen erscheint, die weit über
das unmittelbar in ihr Erzählte hinauszugehen scheint.
Ich würde wohl sagen, sie sei mehr als Literatur, wenn
ich von guter Literatur nicht generell dieses Sich-selbst-Transzendieren-Können
verlangen würde. Im Fall dieser Erzählung frappierte
mich ihre Fähigkeit, das Wesen des menschlichen Lebens
veranschaulichen zu können. Sie erscheint mir somit
als eine zutiefst ethische Erzählung über das
Leben, wenn wir Ethik in ihrer ursprünglichen Bedeutung
der Frage nach dem guten Leben auffassen und nicht in ihrer
heutigen Bedeutung der Frage nach der guten Handlung in
einer bestimmten Situation, gleich welche die weiteren Umstände
dieser Handlung sein mögen.
Ethik
im ursprünglichen Sinn, das war die Frage nach dem
guten Leben, danach, wie wir es erlangen können, was
wir dazu tun müssen, aber sicherlich auch in dem Sinne,
was uns Menschen das Leben überhaupt anzubieten hat,
welchen möglichen Wert es haben kann. Auf diese Frage
hat der kleine, neunjährige Jegoruschka auf der Reise,
die ihn von der Kreisstadt N. durch die Steppe in jene andere
Stadt brachte, in der er ins Gymnasium gehen sollte, eine
Antwort erhalten, denn am Ende der Geschichte „begrüßte
[er] dieses neue, unbekannte Leben, das nun für ihn
begann, mit bitteren Tränen...“ (S. 234). Doch
es scheint mir eine besondere Hellsichtigkeit des kleinen
Buben in diesen Tränen zu liegen, etwas, das mich davon
überzeugt, dass sein Weinen nicht bloß dem Umstand
zuzuschreiben ist, dass er nun in einer ihm unbekannten
Umgebung gegen Bezahlung durch seinen Onkel bei einer für
ihn fremden Frau zurückgelassen wurde, von der er nur
weiß, dass sie eine ehemalige Freundin seiner Mutter
ist, sondern dass sich dieser emotionale Ausbruch in logischer
Weise aus dem zuvor von ihm auf der Reise durch die Steppe
Erlebten und von Tschechow Festgehaltenen ergibt.
Was aber
war so furchtbar auf der Reise? Was hat Jegoruschka so schockiert,
so erschreckt oder so traurig gemacht? Angesichts der Tatsache,
dass eine so weite und anstrengende Reise für einen
kleinen Kerl von neun Jahren natürlich immer mehr sein
wird als er vertragen kann, ist natürlich alles Spekulation.
Aber das macht ja nichts: Wenn einen eine Geschichte zu
einer ethischen Spekulation anregt, warum sollte man sie
nicht unternehmen? Also was war so schrecklich? Eigentlich
nichts, alle Menschen, denen Jegoruschka auf der Reise durch
die Steppe begegnet ist, waren freundlich zu ihm; das Furchtbare
oder Ungute lag, wenn überhaupt, auf einer anderen
Ebene, auf einer Ebene hinter den vordergründigen Erlebnissen.
Und worum könnte es sich dabei handeln? Nun, Jegoruschka
hat auf seiner Reise ein kleines Panoptikum von Menschen
gesehen, die ihm zeigten, was das Leben aus ihnen gemacht
hat bzw. was das Leben imstande ist, aus den Menschen zu
machen.
KONSTANTIN MIT DER SCHÖNEN FRAU
Mir gefällt
am besten die Episode mit Konstantin Swonik aus der Stadt
Rowno, der die Fuhrknechte, die mit Jegoruschka und der
Wolle seines Onkels Iwan Iwanytsch Kusmitschow des Nachts
in der Steppe lagern, zu dieser ungewöhnlichen Tageszeit
aufsucht, um ihnen zu erzählen, dass er, obwohl er
selbst nicht gut aussieht, eine schöne Frau bekommen
hat. Im Augenblick ist sie gerade bei ihrer Mutter, und
Konstantin irrt in der Steppe herum, weil ihm sein Glück
keine Ruhe lässt, wenn er nicht irgendwem davon erzählen
kann. Die Begegnung mit diesem glücklichen Mann, machte
die Fuhrleute schwermütig – und man kann sich
gut vorstellen warum: Konstantin hat zwar das große
Los gezogen, aber das Glück, diese schöne Frau
bekommen zu haben, von der er nicht gedacht hatte, dass
er sie mit seiner minderen körperlichen Attraktivität
erlangen könnte, ist zu groß für ihn. Es
lässt ihn nicht zur Ruhe kommen und ist von daher schon
das Gegenteil echten Glücks. Aber man kann sich auch
jetzt schon vorstellen, was passieren wird, sobald sich
dieses erste Glücksgefühl einmal gelegt hat: Konstantin
wird sich wahrscheinlich sein Leben lang Sorgen machen müssen,
ob er seine schöne Frau halten wird können, ob
sie bei ihm bleibt und ob sie ihm nicht untreu geworden
ist. Seine schöne Frau enthält noch viel mehr
Potential, ihn nicht zur Ruhe kommen zu lassen.
Jegoruschka
fasst dieses Problem, das man(n) mit den schönen Frauen
hat, in der naivsten und unverstelltesten Weise auf, wie
ich es bislang in der Literatur dargestellt gefunden habe:
„Auch
Jegoruschka wurde von der allgemeinen Wehmut erfaßt.
Er ging zu seinem Wagen, kletterte auf den Ballen und
legte sich nieder. Er blickte in den Himmel und dachte
an den glücklichen Konstantin und dessen Frau.
Warum nur heirateten die Menschen? Wozu nur gab es die
Frauen auf der Welt? Solche und ähnliche dunkle
Fragen quälten ihn, und er kam zu dem Entschluß,
dass sich ein Mann eben sehr wohl fühlen müsse,
wenn er eine zärtliche, lustige und schöne
Frau beständig um sich hatte. Da fiel ihm auf einmal
die Gräfin Dranizkaja ein, und er überlegte,
wie angenehm es wäre, mit dieser Frau zu leben;
ja, er hätte sie mit dem größten Vergnügen
geheiratet, wenn er sich nicht so geschämt hätte.“
(S. 207-208) |
Wozu
es die Frauen auf der Welt gibt, das weiß ich auch
nicht. Aber angesichts der Tatsache, dass es sie gibt, scheint
es mir doch möglich zu sein festzustellen, in welcher
Situation man sich als Mann in dieser Welt ihnen gegenüber
befindet, nämlich in der wenig beneidenswerten, in
der auch Konstantin steckt: Man kann nicht ohne sie und
nicht mit ihnen glücklich sein. Wird man von ihnen
zurückgewiesen, ist man enttäuscht und niedergeschlagen;
wird man nicht von ihnen zurückgewiesen, so kommt man
durch dieses große Glück um seinen inneren Frieden
und muss noch dazu darum fürchten, dass einem dieses
Glück allzu schnell wieder entgleitet. Freilich, gesünder
wäre es vielleicht gewesen, wenn der Konstantin eine
Frau bekommen hätte, die nicht so schön gewesen
wäre und die er nicht so sehr begehrt hätte. In
dem Fall hätte er gleichmütig weiterleben können.
Auf der anderen Seite hätte eine solche Frau aber auch
kein großes Glücksgefühl in ihm verursacht.
Wer weiß, vielleicht passiert das ohnehin in den meisten
Fällen auf dem Heiratsmarkt: Die ausgleichenden Gesetze
von Angebot und Nachfrage haben die Konsequenz, dass ein
jeder eine Partnerin von ungefähr der eigenen körperlichen
Attraktivität bekommt, was nicht zu Unglück, aber
eben auch nicht zu großem Begehren und zu Glücksgefühlen
führt. Egal, wie man die ganze Sache mit den schönen
Frauen dreht und wendet, es gibt darin keine Konstellation,
in der man als Mann glücklich sein könnte. Ja,
mehr noch: in der man nicht bemitleidenswert wäre.
Für diese Erfahrung steht der „glückliche“
Konstantin, der wohl den größten Treffer gemacht
hat, den ein Mann nur überhaupt machen kann und in
dessen Haut man trotzdem nicht stecken möchte.
DIE FUHRKNECHTE
Wen trifft
Jegoruschka noch auf seiner Reise durch die Steppe? Nun,
er trifft vor allem eine ganze Reihe von kaputten Menschen,
von Menschen, die das Leben beschädigt hat und die
dasselbe eher nur mehr von der hinteren Seite betrachten,
darauf wartend, es zu verlassen. Für sie stehen vor
allem die Fuhrknechte, die Iwan Iwanytschs Wolle transportieren
und denen er seinen Neffen überlässt, weil er
nachts noch mit seiner Kutsche und dem Priester Vater Christofor
dem geheimnisvollen und reichen Warlamow hinterherfährt,
mit dem er Geschäfte vorhat. Für die Fuhrknechte
allgemein steht folgende Aussage, die wahrscheinlich von
Jemeljan stammt: „So ist eben unser Leben: vertan
und hart!“ (S. 214) Diejenigen, die es am härtesten
getroffen hat, sind aber wohl der alte Pantelej, der barfüßig
neben dem Wagen, auf dem Jegoruschka liegt, hergeht, weil
er sich einmal seine Füße erfroren hat und seitdem
keine Stiefel mehr erträgt. Pantelejs Frau und seine
Kinder sind bei einem Brand umgekommen. Dann ist da Jemeljan
selber, der „Fuhrmann mit dem fuchsroten Mantel und
der Schwammbeule“ (S. 181). Er war fünfzehn Jahre
lang Sänger in einem Chor, doch seit drei Jahren bringt
er, nach einem Bad im Donez, wie er selbst sagt (S. 182),
keinen Ton mehr hervor. Und dann ist da noch Wassja, der
früher in einer Zündholzfabrik gearbeitet hatte,
wovon ihm der Kiefer angeschwollen ist. Diese Erkrankung
heißt Phosphornekrose und führte im 19. Jahrhundert
dazu, dass Arbeitern in Zündholzfabriken der Unterkiefer
abfaulte, bis 1907 (laut wikipedia) die Herstellung von
Zündhölzern aus weißem Phosphor verboten
wurde.
BÖSE UND MÄCHTIGE MENSCHEN
Böse
Menschen sind auf Jegoruschkas Reise fast nur in Erzählungen
präsent oder aber sie sind gar nicht wirklich böse.
Was die bösen Menschen in Erzählungen betrifft,
so lagern die Fuhrknechte eines Abends zwischen zwei Kreuzen.
Auf Jegoruschkas Frage nach dem Grund ihrer Existenz, erhält
er die Antwort, dass hier zwei Kaufleute, ein Vater und
sein Sohn, wegen ihres Geldes von Schnittern umgebracht
worden seien. Der alte Pantelej erzählt daraufhin noch
ein paar mehr Geschichten, in welchen es darum geht, wie
er und sein früherer Herr, ein Kaufmann, beim Übernachten
in Herbergen ausgeraubt werden sollten. Es wimmelt in diesen
Erzählungen von „langen Messern“ und „das
Phantastische von Legende und Märchen“ (S. 202)
vermischt sich in ihnen mit der Wirklichkeit.
Realer
ist da schon die Grobheit des Fuhrknechts Dymow, eines bärenstarken
Kerls, der einmal beim Essen Jemeljan anpöbelt. Doch
es stellt sich heraus, dass er solche Sachen nur macht,
weil ihm gar so langweilig ist, und nachdem Jegoruschka
ihn angeschrieen und ihm gedroht hat, seinem Onkel Iwan
Iwanytsch das Vorgefallene zu erzählen, bittet Dymow
den kleinen Buben, ihn ins Gesicht zu schlagen.
Einmal
begegnet die Wagenkolonne frühmorgens sogar dem geheimnisvollen
Warlamow. Jegoruschka beobachtet ihn genau, weil er schon
so viel über diese obskure Figur gehört hat, doch
er sieht nur ein „kleine[s], graue[s] Männlein,
das so große Stiefel trug, einen unansehnlichen Gaul
ritt und sich mit einfachen Bauern zu einer Zeit unterhielt,
zu der alle rechtschaffenen Leute schliefen“ (S. 209).
In seinem Gesicht sieht Jegoruschka den gleichen „Geschäftsfanatismus“
(S. 210) wie bei seinem Enkel Iwan Iwanytsch, nur mit dem
Unterschied, dass dieser bei seinem Onkel immer mit Angst
und Sorge vermischt ist, während Warlamow die Selbstsicherheit
einer Person besitzt, die selbst die Preise bestimmt und
von niemandem abhängig ist. Insgesamt erweist sich
Warlamow, der bei dieser frühmorgendlichen Begegnung
einen berittenen Boten demütigt, als „harter
Alter“ (S. 210), den der alte Pantelej zwar trotzdem
anerkennt („Schrecklich, wie hart er ist! Aber trotzdem
ein ordentlicher Mensch... beleidigt niemanden grundlos...
Da gibt’s nichts zu sagen...“ (ebd.)), bei dem
sich aber trotzdem aus der Perspektive des neunjährigen
Jegoruschka die Frage stellt, ob man denn so sein möchte
wie er?
GEWINNER, VERLIERER UND DIE WELT, DIE SIE GEMEINSAM
ERSCHAFFEN
Es ist
wohl ebenso die Frage, ob Jegoruschka so sein wollen würde
wie sein Onkel Iwan Iwanytsch, der so ist wie Warlamow,
nur ein wenig erbärmlicher, oder vielleicht wie Vater
Christofor, der dicke, alte, selbstzufriedene Pope, der
in dieser Erzählung ein bisschen für die Bildung
steht. Er hat sich in seiner Jugendzeit erfolgreich durch
das Lateinische gequält, und wenn das Jegoruschka ebenso
gelänge, dann stünde ihm wohl auch eine Laufbahn
wie jene Vater Christofors prinzipiell offen. Wer weiß,
vielleicht wäre das ja auch wirklich nicht so schlecht
für ihn, aber ob Jegoruschka Gefallen finden wird an
dem Unterricht, der ihm in einem wahrscheinlich autoritären
Gymnasium weit weg von daheim angedeihen wird, ist unsicher.
Sicherlich
keine Vorbilder für ihn stellen jedoch auch die zwei
jüdischen Brüder in der ersten Herberge dar, die
Jegoruschka noch gemeinsam mit Onkel Iwan Iwanytsch und
Vater Christofor erreicht. Der eine heißt Moissej
Moissejitsch, er ist der Besitzer der Herberge, die er sich
einst um das Erbe seines Vaters gekauft hat. Er verhält
sich seinen Gästen gegenüber so unterwürfig
und kriecherisch, wie er nur kann. Sein Bruder Salomon hat
den genau gegenteiligen Charakter seines Bruders: Er blickt
alle mit Hass und Verachtung an. Seinen Erbteil hat er im
Ofen verbrannt und arbeitet seitdem in der Herberge seines
Bruders mit. Während der eine Bruder sich also in die
Gesellschaft einfügt – und dabei einen Anblick
abgibt, dass es einem jämmerlich zumute werden könnte
– gibt der andere den hilflosen Rebellen. Auf diese
Weise markieren die beiden zwei Extrempunkte für Haltungen,
die man als erwachsener Mensch der Welt gegenüber einnehmen
kann. Und keine von ihnen – und vielleicht auch keine
zwischen diesen beiden Extrempunkten – erscheint als
erstrebenswert.
Insgesamt
ergibt sich beim Überblicken dieses Menschenpanoptikums,
dem Jegoruschka auf seiner Reise durch die Steppe begegnet,
der Eindruck, dass sie nicht so geworden wären, wenn
sie nicht unter dem Druck der menschlichen Gesellschaft
so geformt worden wären. Sicherlich ist da auch die
Härte der Natur oder jene der simplen Armut, die Jegoruschka
in dramatischer Weise erfährt, als er auf der letzten
Etappe mit dem Wagenkonvoi in ein Gewitter kommt, nass wird
und dann gezwungen ist, auf einem ärmlichen Bauernhof
in seinen nassen Kleidern zuerst auf einer nackten Holzbank
und dann auf einem Haufen getrockneten Mists, den er im
Stall findet, zu übernachten. Jegoruschka bekommt davon
Fieber und erholt sich erst wieder, als er am Zielort in
einer Herberge in einem ordentlichen Bett schlafen kann.
Gewiss ist also auch die Armut hart und schwer zu ertragen,
aber man bekommt beim Lesen von Tschechows Erzählung
„Die Steppe“ dennoch unweigerlich das Gefühl,
dass das Leben in Wirklichkeit deshalb so hart ist, weil
es die einen den anderen so hart machen.
![](../../images/philohof_kleinhellgrau_denkermitschrift.gif)
Zu diesen
Hart-Machern gehört sicherlich in erster Linie Warlamow
und andere Reiche wie er, die daran schuld sind, dass anderen
Menschen, die für sie arbeiten, in der Steppe die Füße
abfrieren oder in den Fabriken die Unterkiefer abfaulen.
Aber in abgemilderter Form ist dieselbe Härte ja auch
in Jegoruschka nahe stehenden und freundlich gesinnten Menschen
spürbar, wie z.B. in Iwan Iwanytsch, der ja selber
nur ein kleiner Warlamow ist, oder auch in Vater Christofor,
der keine Bedenken hat, den kleinen Knaben dem russischen
Bildungssystem des 19. Jahrhunderts auszuliefern. Eine jede
der in dieser Erzählungen auftretenden Figuren hat
ihrer Verhärtungen in sich, sei es, dass sie bestimmte
Härten als gut und notwendig akzeptiert und somit in
die eigene Persönlichkeit übergenommen hat oder
sei es, dass sie die bestehenden Härten dieser Welt
als notwendige und zu ertragende setzt, so wie der alte
Pantelej das tut, der sich mit einem Spruch über die
Güte Gottes auf den Lippen in alles fügt.
Es
sieht fast so aus, als könnte der Mensch genau soweit
mit dem Leben unter Menschen fertig werden, als er selbst
hart wird und zum Warlamow wird. Oder aber, wenn er das
nicht werden will – und es gibt gute Gründe,
das nicht werden zu wollen, denn Warlamow ist ein Wesen,
das nichts tut, außer den ganzen Tag hinter Geschäften
herzujagen und das von nichts als seiner Gier nach Geld
angetrieben wird, eine sehr langweilige Person im Grund
also – dann wird man unausweichlich zum Verlierer
werden in dieser Menschenwelt, die bloß aus Gewinnern
und Verlierern besteht, und in dieser Situation ist es angesagt,
die Tugenden des Dulders anzunehmen und das bedeutet: die
erfrorenen Füße ebenso wie beleidigendes Anschreien
durch den Chef schweigend hinzunehmen.
SCHWEIGSAMKEIT, SPRACHLOSIGKEIT UND INHALTLICHE
VERARMUNG ZWISCHENMENSCHLICHER KOMMUNIKATION
Insgesamt
ergibt sich aus dieser Komplementarität von Gewinnern
und Verlierern, von Reichen und Armen, von Harten im Geben
und Harten im Nehmen (aber solchen mit zerbrochenen und
kranken Körpern) – und das ist der Punkt, auf
den ich bei dieser Analyse von Tschechows ethischer Erzählung
„Die Steppe“ hinschreibe – der Eindruck
einer Sozialwelt, in der zwischenmenschlich nicht viel möglich
ist. Man hat den Eindruck, dass, wenn dieses gegenseitige
Ineinander-Verhakt- und Miteinander-Verstrickt-Sein von
Gewinnern und Verlierern, von Mächtigen und Ohnmächtigen,
nicht so eng wäre, eine größere Variation
von menschlichen Handlungsweisen möglich wäre,
denn durch diese enge Verflochtenheit (die ein Gegeneinander
ist, kein Miteinander), reduziert sich die menschliche Ausdrucksfähigkeit
auf der einen Seite auf die Sprachlosigkeit der Fuhrknechte,
die nur in einem allgemein gehaltenen Klagen besteht, und
auf der anderen Seite auf die Sprachlosigkeit des bloßen
Redens über Geschäfte wie bei Iwan Iwanytsch,
der nicht fähig ist, sich für seinen kleinen Neffen
zu interessieren oder seine Gefühle für ihn zu
zeigen.
Es ist
mit Macht und Reichtum also ein bisschen so ähnlich
wie mit Konstantin, dem unschönen Ukrainer und seiner
schönen Frau: Erlangt man sie nicht, muss man sich
in denjenigen Lebensunterhalt fügen, den einem die
anderen, die die Macht dazu haben, eröffnen, und zwar
auch dann, wenn es einen zu einem Leben in Armut zwingt
oder einem die Gesundheit raubt; erlangt man sie aber, so
ist man in seinem Kopf mit nichts anderem mehr als mit ihnen
beschäftigt; Macht und Reichtum lassen einen nicht
zur Ruhe kommen, weil man ihnen doch pausenlos hinterherlaufen
muss, um sie sich zu erhalten.
Es ist
nicht leicht, sich die Schwere der Wahl vorzustellen, vor
der Jegoruschka steht: Soll er ein solcher werden oder ein
solcher oder irgendwelche Zwischenpositionen ausprobieren?
Sehr wahrscheinlich ist jedoch eines: Wenn er weinen wird,
wird er es alleine tun, und seinen Kummer wird er für
sich behalten, weil er auf seiner Reise durch die Steppe
gelernt hat, dass man seine Sorgen und seinen Schmerz nicht
mit den anderen (erwachsenen) Menschen teilen kann –
sind die einen doch viel zu hart, als dass der so zur Sprache
kommende Schmerz für sie etwas Erwähnenswertes
darstellen würde, na und die anderen haben in ihrem
Leben schon soviel einstecken müssen und sind so hart
drangenommen worden, dass man den eigenen Schmerz ihnen
gegenüber gar nicht erwähnen möchte. Man
würde sich ihnen gegenüber ja schämen.
Übrig
bleibt das Schweigen, jenes Schweigen und Verstummt-Sein,
das so ganz normal unter den Menschen ist, dass wir es im
Alltag gar nicht mehr bemerken. Wenn da nicht die Literatur
wäre, die es in manchen ganz besonders gelungenen Stücken
wie dieser ethischen Parabel von Tschechow zur Sprache bringt,
würde uns gar nicht auffallen, dass da etwas nicht
stimmt und dass das doch eigentlich eigenartig ist, wie
wir leben, indem es uns schlecht geht und wir aber gar nicht
begreifen, was mit uns los ist, weil doch unserer Erfahrung
nach alles ganz normal ist.
Warum
ist das Leben unter Menschen eigentlich so unangenehm? Warum
ist es so arm an Handlungs- und Kommunikationsmöglichkeiten?
Und woher kommt diese Sprachlosigkeit, die sich zumeist
im Reden über Alltäglichkeiten kundtut, während
das nicht gesagt wird, was zu diesem Zeitpunkt eigentlich
zu sagen wäre? Und was ist der Wert eines Menschenlebens
in einer Menschenwelt, in der ein jeder unter anderen für
sich bleibt, in der ein jeder alles selber wissen muss und
selbst mit sich zurechtkommen muss, ohne sich mit den anderen
Menschen darüber auch nur austauschen zu können?
Nun, es erscheint mir so, dass es in einer solchen Welt
einem jeden Menschen im Grunde so geht wie dem kleinen Jegoruschka:
Wir alle sind weit weg von daheim, irgendwo in der Fremde,
wo es keinen vertrauten Menschen gibt, dem wir uns anvertrauen
würden. In dieser Welt, in der wir hier leben, haben
wir von Anfang an Mutter, Vater sowie ein jedes Zuhause
und eine jede Heimat verloren, wir leben überall, ob
zu Hause oder in der Fremde, in jener beredten Sprachlosigkeit,
welche von den Verhärtungen und den Verletzungen sowie
körperlichen und seelischen Zerstörungen kündet,
die die Menschen in unserer Umwelt in ihrem bisherigen Leben
erfahren haben. Ihre Kommunikationen sind inhaltlich oft
nicht viel reicher als die des Windes in der Steppe.
5. April
2010
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