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Die emotionalen Verwirrungen des Zöglings Emilio

Rezension von: Italo Svevo: Ein Mann wird älter.

Volksbuchverlag Wien 1969 (Lizenzausgabe, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg).

Wien, am 13. Apr. 2020

Als ich das Buch ausgelesen hatte, machte ich mich über das im Anschluss abgedruckte „Vorwort Svevos zur zweiten italienischen Ausgabe“ (S. 203-205) her, um zu sehen, was der Autor zu seiner Entschuldigung zu sagen hat. Doch weder in Svevos Vorwort noch im „Nachwort zur englischen Ausgabe von Stanislaus Joyce“ (S. 206-212) fand ich etwas, was mir das in diesem Roman Gelesene irgendwie erklären beziehungsweise rechtfertigen konnte. Denn was ich in dem Roman gelesen habe, ist eine inhaltliche Katastrophe.

Den Romaninhalt würde ich so zusammenfassen: Ein Mann verliebt sich in eine Frau, kommt mit seinen Gefühlen nicht zurecht, versucht auch nicht, mit ihnen klarzukommen, analysiert sie nicht, sondern lebt in seinen Tagträumen dahin, bis ihm als Resultat bleiben: eine gescheiterte Beziehung, eine tote Schwester und eine verlorene Freundschaft.

Cover: Italo Svevo: Ein Mann wird älter

Was der Autor zum Ausdruck bringen will, ist etwas ganz anderes: Dass der Protagonist Emilio sich lebendig fühlt, während er Angiolina liebt und seine Lebendigkeit verliert, nachdem er sie verlassen hat. (Der Originaltitel lautet Senilità, zuerst erschienen im Jahre 1898; erst James Joyce, dem der Roman gefiel, hat für die englische Übersetzung den Titel „As a Man Grows Older“ vorgeschlagen.) Aber diese Aussage gelingt ihm nicht. Denn wenn es darauf hinausliefe, dann wäre Emilios „Lebendigkeit“ der reinste emotionale Alptraum: Der arme Kerl kommt so wenig mit sich zurecht, dass er alles, was er will, sofort wieder bereut, dann wütend wird und es zu zerstören versucht, dann tut es ihm wieder leid, und er will es zurückhaben, dann genießt er es wieder, aber mit schlechtem Gewissen, weil es für moralisch abscheulich hält, etc. Mit einem Wort, so wird kein Leben draus, jedenfalls keines, das man leben möchte.

Der Grund, warum ich trotzdem über dieses Buch schreibe, ist, dass darin noch etwas anderes erzählt wird, nämlich von Verhaltensweisen von Männern, die dazu führen, dass man besser oder schlechter mit Frauen zurechtkommt. Aber diese Inhalte werden von der Erzählung nicht aufgegriffen und thematisiert, sodass sie zwar da sind, aber von den Lesern wahrscheinlich nicht bewusst wahrgenommen werden. (Inwieweit dem Autor, Italo Svevo, selbst zu Bewusstsein gekommen ist, was er da eigentlich geschrieben hat, weiß ich nicht.)

Die Mitteilung solcher Erfahrungen von Männern mit Frauen wäre wichtig, denn ich habe zunehmend den Eindruck, dass wahrscheinlich viele Männer eine Anleitung durch andere Männer benötigen würden, um mit Frauen emotional zurechtkommen zu können. Zu diesem Eindruck kommt man übrigens auch, wenn man Svevos Roman liest, denn er zeigt, welches Gefühlschaos dabei herauskommt, wenn sich in einem jungen Mann alle auf dieses Thema bezogenen Einflüsse von außen – gesellschaftliche Moralvorstellungen, religiöse Vorstellungen, Angelesenes aus der schöngeistigen Literatur und wirtschaftliches Alltagsverständnis – in einem unverarbeiteten Chaos vermischen.

Das Dumme im konkreten Fall ist, dass Emilio in Stefano Balli sogar einen solchen männlichen „Lehrer“ hat, auf den er aber nicht hört. So gesehen würde der Roman also auch vom Scheitern einer solchen éducation sentimentale eines Mannes durch einen anderen erzählen. Außerdem gibt es da noch eine weitere Möglichkeit: Emilio ist vielleicht von seiner emotionalen Grundausstattung her gesehen mit Frauen grundsätzlich inkompatibel ist. Vielleicht gibt es also auch noch die Möglichkeit, dass manche Männer überhaupt mit Frauen überhaupt nicht können – und zwar einfach deshalb, weil sie so sind, wie sie sind.

Es ist mir wichtig, auch meine eigene Position darzustellen: Ich schreibe diesen Aufsatz nicht als jemand, der glaubt, mit Frauen umgehen zu können. Das kann ich sicher nicht. Aber ich war beim Lesen peinlich davon berührt, einem anderen Mann zuzusehen, der sich noch blöder aufführt als ich. An den Stellen, wo sich Emilio ganz besonders blöd verhält, notierte ich mir „Uff“ an den Seitenrand. Jetzt wimmelt es vor „Uffs“ im Buch.

 

1. Die soziale Macht der Frau

Als Emilio Brentani zum ersten Mal mit Angiolina Zarri bei Tageslicht durch die Straßen Triests geht bemerkt er, dass ihr alle Männer nachschauen und dass sie diese Blicke genießt.

„Er konnte sich nicht entschließen, sich von ihr zu trennen, und so gingen sie zum erstenmal bei hellem Tageslicht zusammen durch die Straßen.
„Mir scheint, wir geben ein schönes Paar ab, sagte sie lächelnd, da sie bemerkte, daß jeder, der vorüberging, einen Blick für sie übrig hatte. Es war ja auch unmöglich, an ihr vorüberzugehen, ohne sie anzusehen.
Emilio sah sie gleichfalls an. Ihr weißes Kleid betonte die damalige Modelinie in übertriebener Weise, es war äußerst eng in der Taille, die weiten Ärmel waren ballonartig gerafft: Es forderte die Männerblicke heraus, es diente dazu, Eroberungen zu machen.“

S. 37.

Dieser Umstand löst bei ihm heftige Eifersucht aus. Aus der Tatsache, dass ihr die Männer nachschauen, schließt er, dass Angiolina kokettiert und zur Untreue bereit ist. Er glaubt also, wenn sie die Männer auf der Straße nicht mit ihren koketten Blicken herausfordern würde, dann würden sie ihr nicht nachschauen. Das ist natürlich Unsinn. Die Männer sehen ihr nach, weil sie eine schöne Frau, und ihr Verhalten macht dabei keinen Unterschied. Auch wenn sie ihm treu ist, werden die Männer nicht aufhören, ihr nachzusehen.

„„Warum kokettierst du?“ fragte er sie und zwang sich ein Lächeln ab.
Ohne im mindesten zu erröten, antwortete sie lachend: „Ich? Ich habe meine Augen zum Schauen.“ Sie war sich also der Tätigkeit ihrer Augen voll bewußt. Sie täuschte sich nur, wenn sie diese Tätigkeit als „Schauen“ bezeichnete.
Bald danach kam ein gewisser Giustini an ihnen vorbei, ein kleiner Angestellter, ein hübscher Junge übrigens, den Emilio vom Sehen her kannte. Angiolinas Auge belebte sich. Emilio [S. 38] wandte sich zurück, um den glücklichen Sterblichen zu betrachten, der an ihnen bereits vorüber war. Der kleine Angestellte war stehengeblieben und sah ihnen nach. „Er ist stehengeblieben, um mir nachzusehen“, sagte sie mit glücklichem Lächeln.“

S. 37-38.

Wenn Svevo die Situation ein wenig analysiert hätte, dann wäre er zu folgender Grundverfasstheit gekommen: Wenn ein Mann mit einer schönen Frau zusammen ist, dann ist er mit einem Menschen zusammen, der viel mehr soziale Macht hat als er selber. Die soziale Macht besteht darin, dass die Frau das Begehren und die Aufmerksamkeit von vielen Menschen auf sich zieht, der Mann hingegen nicht. Mit einem Bild gesagt: Mit einer schönen Frau zusammen zu sein ist wie ein wildes Pferd zu reiten, das einen jederzeit abwerfen kann. Man hat es mit einer Kraft zu tun, die viel größer ist als die eigene. Man versucht, etwas festzuhalten, das einem jederzeit entgleiten kann. Und es ist notwendig, als Mann zu diesem Kräfteungleichgewicht die geeignete emotionale Einstellung zu finden.

Die moralische Einstellung der Treue und der gegenseitigen Verpflichtungen zweier Liebender gegeneinander ist da sicherlich nicht die richtige Herangehensweise. Denn sobald Emilio Angiolina vorwirft, mit anderen Männern zu kokettieren (und sie auf diese Weise an ihre vermeintlichen oder echten Verpflichtungen „erinnert“), zeigt er ihr dadurch, dass er sich ihr gegenüber in der schwächeren Position sieht. Es ist ein Eingeständnis der eigenen Schwäche.

Besser ist es wahrscheinlich, die Situation so zu akzeptieren, wie sie ist: D.h. sich als allein zu betrachten, wenn man mit einer schönen Frau zusammen ist. Das Pferdchen kann einen jederzeit abwerfen – warum also sich nicht so verhalten, als ob es das schon getan hätte? Dann ist man über seine Verlustängste hinweg und gewinnt seine Unabhängigkeit zurück. (Vielleicht ist das ja auch alles, was in dieser Situation ist? Denn: Warum die Frau immer noch mit einem zusammen ist, weiß man ja nicht, und alles, was man im gegenwärtigen Augenblick tun muss, ist vielleicht nur: die Angelegenheit sein lassen und sie nicht mit Ausdrücken von Eifersucht zu stressen.)

Freilich: Mit so einer Einstellung seiner Geliebten gegenüber würde man sich allein fühlen. Und man ist ja aus dem Grund mit einem anderen Menschen zusammen, um ein tiefinniges Gefühl von Zweisamkeit zu empfinden. Aber genau das ist ja die Frage: Man erzählt uns immer, dass emotionale Verbundenheit mit dem anderen Menschen das Ziel sein sollte, aber ist das überhaupt möglich, wenn man mit einer schönen Frau spazieren geht und bemerkt, wie sich alle Blicke ihr zuwenden und man selbst unbemerkt bleibt? Und wenn einem zu Bewusstsein kommt: Sie hätte jetzt jede Menge Alternativen zu mir, aber ich keine zu ihr! Oder ist es in dem Fall nicht besser, man besinnt sich auf das, was man wirklich hat, nämlich sich selber, und man versucht, sein Selbstverständnis und sein Selbstwertgefühl darauf zu bauen, anstatt sich von der Beziehung abhängig zu machen?

Einem Einwand, der immer wieder kommt, ist: Ja, aber könnte es nicht genauso gut umgekehrt sein? Könnte es nicht genauso der Fall sein, dass eine unattraktive Frau einen attraktiven Mann begehrt? Ja, das könnte der Fall sein, und dieser Fall kommt in diesem Roman Italo Svevos sogar vor, nämlich in Gestalt von Amalia, Emilios unattraktiver Schwester, die den gutaussehenden Stefano Balli begehrt. Nur ist dazu zu sagen: Eine unattraktivere Frau kann die weibliche Rolle freilich nicht so gut spielen wie eine attraktive Frau, aber die Geschlechterrollen verkehren sich dadurch nicht. Denn ein attraktiver Mann kann in der zwischengeschlechtlichen Beziehungsdynamik bestenfalls der Hauptgewinner ist, aber nie der Hauptgewinn. Der Hauptgewinn ist immer die schöne Frau, denn sie ist es, die das Begehren auf sich zieht. Ein gutaussehender Mann ist gefragt als Begehrender, als Liebhaber, aber er wird deshalb noch lange nicht begehrt.

 

2. Stefano Ballis System der Grobheit im Umgang mit Frauen

Stefano Balli, ein erfolgloser, eigenwilliger Bildhauer, ist Emilios bester Freund. Er ist älter als Emilio und hat viel Erfahrung im Umgang mit Frauen. Um Emilio eine Lehrstunde zu geben, schlägt er ihm vor, sich gemeinsam mit Angiolina und Stefanos Freundin Margherita zu treffen. Beim gemeinsamen Abendessen führt Balli in übertriebener Weise vor, wie er Frauen behandelt: Er neckt sie auf beleidigende Weise und kommandiert sie herum. Beide Frauen sind von Ballis Verhaltensweise begeistert, ihre Herzen fliegen ihm zu. Nur Emilio ist erschüttert, weil er nicht versteht, wie die beiden Frauen Ballis Behandlung hinnehmen können.

„Margherita war die einzige, die Emilios Gemütszustand erriet. Ihre Augen wurden ernst, während sie auf Angiolina ruhten. Dann wandte sie sich Emilio zu, widmete sich ihm ganz, aber nur, um von Stefano zu reden: „Er ist ja manchmal grob, aber nicht immer, und auch wenn er es ist, braucht man sich vor ihm nicht zu fürchten. Man tut einfach, was er will, denn man muß ihn liebhaben.“ Dann fügte sie mit leiser, von Innigkeit erfüllter Stimme hinzu: „Ein Mann, der denkt, ist doch etwas ganz anderes, als solche, die nicht denken.“

S. 50

Angiolinas Namen verballhornt Balli sogar, er nennt sie Giolona. (Was einen starkem Kontrast zu Emilios Umgangsformen gegenüber Angiolina herstellt, denn er nennt sie französisch „Ange“, um einen Engel aus ihr zu machen.) Aber obwohl ihr Vorname von Balli durch den Schmutz gezogen wird, nimmt ihm Angiolina das nicht übel.

„Balli wurde gleich wieder grob. „Sie heißen Angiolina“, sagte er, und entstellte gleich darauf den Namen zu Angiolona. Auch damit nicht zufrieden, verballhornte er ihn zu Giolona. In den tiefen und breiten Vokalen schien die Verachtung selbst Klang geworden zu sein.
Von nun an nannte Balli sie immer mit diesem Namen, und Emilio wunderte sich, daß dies Angiolina keineswegs mißfiel. Sie war nicht nur nicht gekränkt, sondern, wenn Balli ihr den Namen ins Ohr brüllte, lachte sie, als empfände sie einen Kitzel.“

S. 51

Auch das Herz von Emilios unattraktiver Schwester Amalia gewinnt Balli nebenbei und ohne es zu wollen, und zwar indem er hemmungslos prahlt und angibt. Die Frauen lieben an ihm den laut, polternden, fröhlichen Aufschneider.
„Wie schön war doch Ballis Los: Er war nicht einmal verpflichtet, sich für die Wohltaten, die vom Himmel auf ihn herabregneten, dankbar zu erweisen.

Reichtum und Glück waren ihm vom Schicksal bestimmt; warum sollte er sich wundern, wenn sie ihm zufielen, oder warum sollte er gar demjenigen dankbar sein, den die Vorsehung ihm sandte, um ihm ihre Gaben zu überreichen? Amalia hörte ihm verzückt zu. Diese Erzählungen bestätigten ihr, daß das Leben ganz anders war, als sie es bisher gekannt hatte. Sie fand es natürlich, daß es für sie und ihren Bruder so hart war, und nicht minder natürlich, daß es für Balli so glücklich ausfiel. Sie bewunderte Ballis Glück, sie liebte in ihm die Kraft und die Heiterkeit, die wichtigsten Gaben, die das Glück ihm beschert hatte.“

S. 60

Nun ist es so, dass man nicht einfach sagen kann: „So soll man die Frauen behandeln!“ (weil „so funktioniert es“) und „so nicht“, denn: Für jede Rolle, die man spielen will, muss man gebaut sein. Wenn ein kleiner, dicklicher Mann, mit weicher, rosiger Haut und sanfter, piepsiger Stimme den polternden Angeber spielen will, dann wird das nicht klappen. Ein jeder Mensch muss auf dem Wege von Versuch und Irrtum ausprobieren, welche Verhaltensweisen ihm seine Mitmenschen abnehmen und durchgehen lassen.

Ja, und dann ist es außerdem noch so, dass man eine Rolle nicht gut spielen kann, wenn man sie nicht fühlt. Wenn man nicht selbstkritiklos und schamlos genug ist, um den polternden Aufschneider zu machen, dann ist einem dieser Weg verschlossen und man muss nach einer anderen Option suchen.

Aber der polternde Aufschneider Balli ist ja auch nur ein Beispiel, das Svevo uns gibt. Es wäre wohl schwierig, mehrere mögliche männliche Rollenvorbilder nebeneinander zu beschreiben. Wichtiger ist es zu verstehen, was die Frauen von so einem groben Angeber haben, denn auf den ersten Blick sieht es ja so aus, als ob Ballis Verhaltensweise beleidigend wäre bei den Frauen auf Ablehnung stoßen müsste.

Nun, was man sich vorstellen könnte, dass die Frauen von Ballis lauter Männlichkeit haben, ist vor allem eines: Handlungsentlastung.

  • Er kommandiert sie fortwährend herum, das bedeutet: Er denkt sich das Programm aus und bestimmt, was als nächstes getan wird. Die Frauen müssen sich darüber keine Gedanken machen (und sind auch nicht dafür verantwortlich, wenn es nicht lustig ist).
  • Er redet immer und ist permanent laut, deshalb kommt es zu keiner peinlichen Stille. Alles bleibt immer an der Oberfläche. Als Balli beim gemeinsamen Abendessen fragt, warum Emilio so still sei, sagt Angiolina missmutig: „Er ist ein ernster Mensch.“ (S. 50.) Situationen der Handlungsunsicherheit, wie sie Angiolina mit Emilio erlebt, treten mit Balli nicht auf.
  • Er prahlt, dass sich die Balken biegen, und selbst wenn nur ein Teil davon wahr ist, dann eröffnet das für die Frauen schon ein Tor zu einem anderen, möglichen Leben. Amalia drückt das aus mit den Worten „daß das Leben ganz anders war, als sie es bisher gekannt hatte“. Das nährt bei den Frauen die Hoffnung, an diesem „ganz anderen Leben“ auch teilnehmen zu können, wenn sie mit diesem Mann zusammen sind.

 

3. Was man auf keinen Fall tun soll: seiner Freundin ein schlechteres Leben vorschlagen

Emilio beobachtet seinen Freund Stefano Balli – und ist sogar eifersüchtig auf ihn – aber er lernt nichts aus seinen Beobachtungen. Den Grad seiner Desorientiertheit zeigen folgende zwei Episoden. Einmal erzählt Emilio Angiolina die Geschichte von einem deutschen Astronomen, der in seinem Observatorium auf einem Alpengletscher wohnt und fragt sie, ob sie mit Emilio dort oben wohnen wollen würde. Seine Erzählung ist von Eifersucht getrieben: Er entwickelt die Phantasie, sie ganz allein, fernab von allen Menschen, zu haben, was natürlich unmöglich ist. Angiolina spürt die Absicht der Geschichte antwortet brav, doch wenig überzeugend, dass das wunderbar wäre.

„Ein deutscher Astronom lebte seit zehn Jahren in seinem Observatorium auf einem der höchsten Alpengipfel im ewigen Schnee. Das nächste Dorf lag etwa tausend Meter tief unter ihm. Von dort brachte ihm ein zehnjähriges Mädchen täglich das Essen herauf. Im Verlauf der zehn Jahre war das Mädchen, das täglich eine Klettertour von zweimal tausend Metern zurücklegen mußte, zu einem großen, schönen und kräftigen Geschöpf herangewachsen. Es wurde die Frau des Gelehrten. Erst vor kurzem war [S. 43] die Hochzeit im Dorf gefeiert worden. Dann wanderte das Paar gemeinsam zu seiner Behausung hinauf, und das war die Hochzeitsreise gewesen. […] „Und du…“, fragte er ungeduldig, da sie nicht gleich begriff, wozu er diese Geschichte erzählte, „würdest du gern mit mir dort oben hausen?“
Sie zögerte. Kein Zweifel, sie zögerte. Von der ganzen Geschichte hatte lediglich die Gletschereinsamkeit auf sie Eindruck gemacht. Während ihn die Liebesepisode fesselte, fand sie nur, daß es dort oben kalt und langweilig sein müsse. Sie sah ihn an, begriff, welche Antwort er von ihr erwartete, und nur, um ihm entgegenzukommen, sagte sie dann ohne jedwede Begeisterung: „O ja, es wäre wunderbar.“

S. 42-3

Bei anderer Gelegenheit entwickelt Emilio die Phantasie, dass er gern krank wäre um von Angiolina als Krankenpflegerin betreut zu werden. Wiederum sagt Angiolina brav die erwartete Antwort: „Es wäre wunderschön.“

„Er stellte sie sich in seinen Träumen so oft als Krankenpflegerin vor, daß er den Versuch unternahm, diesen Traum auch an ihrer Seite fortzusetzen. Er drückte sie mit der Heftigkeit seiner Traumwünsche fest an sich und sagte: „Ich möchte krank werden, nur damit ich von dir gepflegt werden kann.“ Sie erwiderte: „Ach [S. 136] gewiß, das wäre wunderschön.“ Es gab Momente, wo sie bereit gewesen wäre, alle seine Wünsche zu erfüllen, aber Sätze wie dieser waren natürlich geeignet, jeden Traum zu zerstören.“

S. 135-6

Erstaunlicherweise kommt Emilio nicht die Idee, dass eine Frau mit einem Mann zusammen sein will, um ihr Leben zu verbessern und nicht, um es zu verschlechtern. Er kommt nicht auf die Idee, dass er ihre Begeisterung für sie dämpfen könnte, wenn er sie mit Zukunftsvisionen von einem schlechteren Leben konfrontiert, statt von einem besseren. In der schönen Literatur hat er gelesen, dass eine Liebe umso wertvoller ist, je mehr sie kostet, je mehr Opfer man sie für sie bringen muss – also will er Angiolina mit Eis und Schnee und der Einsamkeit auf einer Bergspitze überschütten. Aber er begreift nicht, dass das kein attraktives Angebot für eine schöne Frau ist, die sich ihrer körperlichen Anziehungskraft bewusst ist und sich überlegt, gegen welches andere Gut sie diesen Vorteil, den die Natur ihr gegeben hat, eintauschen könnte.

Emilio kommt auch nicht auf die Idee, dass eine Frau wie Angiolina, die aus der Arbeiterklasse kommt und zu Hause eine Familie hat, um die sie sich kümmern muss („Die Brüder wollten nichts arbeiten, der Vater war krank – wie sollte das weitergehen?“ (S. 33)), sich nicht auch noch einen kranken Liebhaber wünschen wird, um den sie sich kümmern kann.

 

4. Geld und sozialer Aufstieg

Ja, warum liebt die schöne Angiolina den kleinen Angestellten Emilio Brentani überhaupt? Das ist natürlich schwer zu sagen, allein schon, weil die ganze Geschichte aus seiner Perspektive erzählt wird und er sich für diese Frage nicht interessiert. Aber mit Erstaunen können wir bei der Lektüre feststellen, dass sie viel Geduld mit ihm hat und bis zum Schluss bei ihm bleibt, bis er sie auf dramatische Weise verlässt. (Dass sie ihm im Verlauf ihrer Affäre untreu ist, könnte der Fall sein, aber auch darüber erfahren wir nichts Gewisses.)

Es könnte auch daran liegen, dass Angiolina trotz ihrer körperlichen Attraktivität eben doch nicht jeden anderen Mann bekommen kann. (Einer schönen Frau hinterherzuschauen, ist schließlich mit weniger Aufwand verbunden, als etwas zu unternehmen.) Svevo erzählt uns von einer früheren Affäre von ihr mit dem reichen Kaufmann Merighi. Doch als sie zusammengezogen sind, hat Merighis Mutter sie hinausgebissen. Angiolina ist auch bekannt mit der reichen männlichen Jugend Triests, aber offenbar fand sich auch darunter kein Kandidat für eine längerfristige Beziehung mit ihr. Am Ende des Romans ist sie mit einem betrügerischen Buchhalter nach Wien abgehauen, was auch darauf hindeutet, dass ihre Handlungsoptionen im Triest der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert nicht das Gelbe vom Ei waren.

Während der Geschichte ist wiederholt vom Schneidermeister Volpini die Rede, der Angiolina ein Heiratsversprechen gegeben hat. Er ist ein kleines, rothaariges Männchen, das ihr nicht gefällt, doch er liebt sie abgöttisch, und sie würde ein angenehmes Leben an seiner Seite haben. So steht Emilio, der Angiolina keine Hoffnung auf die Ehe macht, in direkter Konkurrenz zu Volpini, der zwar ein Heiratsversprechen geleistet hat, ihr aber nicht gefällt. Vielleicht macht sie sich Hoffnungen, dass Emilio einsieht, dass er so verliebt in sie ist, dass er sie doch um die Heirat bitten muss? Wie auch immer, diese Umstände gehen alle an Emilios Überlegungen weit vorbei. Er bemerkt sie nicht, allerdings gibt er Angiolina Geld.

„Soweit er sich erinnern konnte, hatte sie nie von ihm Geld verlangt. Hingegen – und das konnte er auch vor sich selbst nicht bestreiten – war es ihm zur Gewohnheit geworden, ihr statt der an-[S. 137]fänglichen Geschenke und Süßigkeiten, Geld anzubieten. Er hatte sich dazu entschlossen, als er sah, wie nötig sie Geld brauchte. Sie nahm es dankbar an, stellte sich dabei aber immer sehr schamhaft. Ihre Dankbarkeit war jedesmal unvermindert groß, sooft er ihr ein Geldgeschenk machte. Er wußte also, was er zu tun hatte, wenn er sie zärtlich und liebevoll erhalten wollte. Sein Bedarf an Zärtlichkeiten war so groß, daß er sich bald mit leeren Taschen vorfand.“

S. 136-7

Ohne Angiolinas Handlungsalternativen zu kennen, ist es schwer, sich darüber Gedanken zu machen, warum sie bei Emilio bleibt. Die plausibelste Antwort ist, dass sie eben zurzeit keinen besseren Alternativkandidaten für eine Beziehung hat als ihn. Freilich würde sie ihn sofort gegen Balli eintauschen, aber Balli steht ihr aus freundschaftlicher Treue Emilio gegenüber nicht zur Verfügung.
Was wir von Emilios Person erfahren, deutet auf einen statischen Zustand hin. Er ist in einem Büro beschäftigt. Dort scheint er nicht sehr hart zu arbeiten, denn er hat viel Freizeit. Aber er verdient wahrscheinlich auch nicht viel Geld.

Er hat keine Ambitionen, dort Karriere zu machen. Deutlich ist, dass seine Arbeit nicht sein Lebensmittelpunkt ist. Mit seiner Schwester wohnt er wie mit einer Ehefrau in einer Wohnung zusammen. Er meint, für sie sorgen zu müssen. Emilio hat keinerlei Lebensziele, auch nicht das zu heiraten und eine Familie zu gründen; hier ist also für Angiolina keine Veränderung zu erwarten. Das Wahrscheinlichste ist, dass sie bei ihm bleibt und seine Geldgeschenke annimmt, bis sich etwas Besseres ergibt.

Wenn wir nun wiederum von dem Modell ausgehen, dass eine Frau für einen Mann attraktiv ist, weil sie schön ist und die körperliche Attraktivität des Mannes für die Frau nicht denselben Stellenwert hat, dann muss es etwas anderes sein, das er ihr geben kann, damit ein Tausch zustande kommt. Dabei könnte es sich um Geld, sozialen Status oder andere Beiträge zur Erhöhung ihrer Lebensqualität handeln. In Svevos Roman wird das – außer nebenbei, anhand der Person des Schneidermeisters Volpini – nicht thematisiert.

Aber es ist klar, dass der Mann notwendigerweise mehr besitzen muss als die Frau, um an einem Tausch Schönheit gegen materielle Ressourcen teilnehmen zu können. In der Zeit um 1900, als das Buch publiziert wurde, war es noch so, dass die Frauen in der Regel weniger besaßen als die Männer, der Tausch Schönheit gegen Ressourcen konnte also problemlos funktionieren. Aber in einer zunehmend egalitären Gesellschaft wie unserer heutigen wird es für die Männer natürlich zunehmend schwieriger, den Frauen noch etwas Interessantes zu bieten, wenn diese ohnehin schon alles selber haben.

 

5. Männliches Dominanzverhalten und weibliche Unterwerfung

Zu Ballis Lehrstunde für Emilio gehört es, den Frauen immer wieder submissives Verhalten abzuverlangen. Margherita lacht dabei und gehorcht, und Angiolina nimmt es Balli auch nicht übel. Es wird dann eine Szene geschildert, in der Emilio Angiolina vergewaltigt und sie ihn durch ihr Verhalten danach gleichsam „belohnt“.

„Eines Abends wies sie ihn wieder zurück. Sie kam von der Beichte und wollte an diesem Tag nicht sündigen. Es lag ihm gar nicht so sehr daran, sie zu besitzen, aber in ihm regte sich die unabweisliche Lust, wenigstens einmal noch roher und gemeiner zu sein als sie. Er zwang sie mit Gewalt und rang mit ihr bis zum letzten Augenblick. Als er, vollkommen außer Atem, bereits begann, sich seiner Brutalität zu schämen, traf ihn zur Belohnung ein bewundernder Blick Angiolinas. An dem Abend war sie ihm restlos ergeben. Das Weib, das seinen Herrn und Meister liebt, war in ihr erwacht. Er nahm sich vor, in Hinkunft in der gleichen Weise vorzugehen. Es gelang ihm nicht mehr.“

S. 140

Ich habe bereits erörtert, dass dominante Verhaltensweisen von Männern Frauen das Leben erleichtern, weil sie sich keine Gedanken darüber machen müssen, was als nächstes kommt. Dominante Personen gestalten die Situation. Doch es könnte eben sein, dass für Frauen die Lust am dominanten Verhalten von Männern noch über die Bequemlichkeit, die es ihnen einbringt, hinausgeht und auf einer tieferen psychologischen Ebene zur Erotik gehört.

Das ist insbesondere deshalb relevant, weil in einer zwischengeschlechtlichen Beziehung die Frau der stärkere Partner ist, weil sie bestimmt, ob die Beziehung zustande kommt und fortgesetzt wird oder nicht. Erinnern wir uns an Emilios Spaziergang mit Angiolina durch das taghelle Triest: Sie wird von allen begehrt und könnte andere Beziehungsoptionen ergreifen, er nicht.

Nun haben wir die merkwürdige Konstellation, dass der stärkere Partner (die Frau) vom schwächeren (dem Mann) fordert, den Starken zu markieren, um als attraktiv wahrgenommen zu werden. Und als ob das nicht schon an sich eine paradoxe und schwierige Situation wäre, in die man sich als Mann gedrängt sieht, hat sie zusätzlich das Potenzial, einen mit der gesellschaftlichen Moral und dem Strafgesetzbuch in Konflikt zu bringen. Denn Gewaltanwendung und Vergewaltigung von Frauen sind verboten. Falls es also tatsächlich vorkommen sollte, dass Frauen starke Männer als attraktiv empfinden und sich von diesen Männern in irgendeiner Form überwältigt erleben wollen, damit die männliche Stärke für sie zum Ausdruck kommt, dann birgt das für die Männer ein großes Risiko.

 

6. Das passende Gefühlskorsett für eine Beziehung mit einer Frau

Emilio erzählt Stefano einmal von seiner Beziehung zu Angiolina und bittet ihn um Rat.

„Stefano erwies sich aber auch in diesem Falle als ein Mann von überlegener Intelligenz. Er wollte keinen Rat geben. „Du wirst begreifen“, sagte er herzlich, „daß ich dir nicht gut den Rat geben kann, anders zu sein, als du bist. Ich wußte ja, daß Abenteuer dieser Art nichts für dich sind.“

S. 40

Diese Denkmöglichkeit hatten wir schon: Es kann sein, dass man kein Mann der Frauen ist. Wieso sollte jeder Mann mit Frauen umgehen können – nur deshalb, weil er ein Mann ist? Aber wie ist denn Emilio überhaupt? Was macht er falsch im Umgang mit Frauen?

„Als Emilio nun seine eigenen Worte aus dem Munde eines anderen vernahm, war er von ihnen keineswegs mehr überzeugt. Er erklärte, seine Art zu lieben sei eben so und nicht anders. Sanfte Zärtlichkeit sei für ihn nun einmal Grundvoraussetzung jedes Liebesgenusses.“

S. 56

Damit will er sagen, Ballis grobe Umgangsweisen mit Frauen sind nichts für ihn. Wenn er sie anwenden würde, könnte er keine Liebe empfinden – und Liebe ist ja das, was er von Angiolina will. Andernfalls wäre er gar nicht mit ihr zusammen. Emilio will also Liebe und Zärtlichkeit erfahren, das heißt, er will empfangen. Wenn man grob ist, kann man nicht empfangen. Da macht man sich hart und unempfänglich. Wenn man empfangen will, muss man sich weich machen.

Um es mit einem Wort zu sagen, Emilio ist anlehnungsbedürftig. Er kann nicht allein stehen. Er braucht immer Menschen, denen er von seinen Gefühlen erzählen kann, um sie mit ihnen zu teilen, denn wenn er sie allein ertragen muss, überwältigen sie ihn.

„Außerdem war er sanft von Natur und hatte das Bedürfnis nach zärtlicher Behandlung. Seit dem vergangen Abend hatte er vergeblich nach irgendeiner Anlehnungsmöglichkeit gesucht. Vielleicht war es gerade dieser Mangel an Anlehnung, der in so despotischer Weise die Erregung über ihn hatte Herr werden lassen. Vielleicht wäre er ihr nicht erlegen, hätte er gleich die Gelegenheit gefunden, über seine Gefühle zu sprechen und sie zu erklären, oder wäre er gezwungen gewesen, jemandem zuzuhören.“

S. 94

Wie ist dagegen Stefano:

„Mann im vollsten Sinne des Wortes, war Balli außerstande zu empfangen. Wenn er mit Brentani zusammen war, mochte er das Gefühl [S. 13] haben, sich in Gesellschaft einer der vielen Frauen zu befinden, die ihm hörig waren.“

S. 12-13

Stefano braucht niemanden. Wie ein Duracell-Häschen läuft er unaufhaltsam und geht seinen eigenen Weg. Wenn jemand ein Stück des Weges mit ihm gehen möchte, in Ordnung; wenn nicht, dann nicht. Stefano Balli ist so männlich im Sinne von selbstgenügsam, dass selbst sein Freund Emilio in seiner Gesellschaft in gewisser Weise die weibliche Rolle einnimmt.

Alles das bringe ich nur vor um zu zeigen: Svevo bringt in seinem Roman Ein Mann wird älter genügend Elemente vor, damit sich ein Muster abzeichnet. Aber er thematisiert sie nicht, macht keine Theorie daraus, er stiehlt sich aus der Verantwortung.

Dabei fände ich es durchaus interessant, mal eine gute Erklärung der männlichen Rolle in zwischengeschlechtlichen Beziehungen zu bekommen, und zwar deshalb, weil diese Rolle so paradox ist: Immer wieder sieht man sich dazu gedrängt, als Schwächerer den Stärkeren zu spielen. („Ich bin ja die Schwächere“, sagt die Frau: „Also musst du der Stärkere sein!“ Aber weil sie die Beliebtere und Begehrtere in der Gesellschaft ist, ist sie die Mächtigere und kann die Stärke von ihm fordern.) Oft ist in diesem Zusammenhang schon die männliche Stärke betont und ein Kult daraus gemacht worden. Aber das eigentlich Interessante ist ja dieses Thema: Wenn der Mann einer Frau gegenüber auf seine Stärke pochen muss (um ihr attraktiv zu erscheinen), dann bleibt er auch innerhalb der Beziehung mit dieser Frau immer allein (weil er sich keine Schwäche erlauben darf). Wenn man aber als Mann auch innerhalb einer Beziehung zu einer Frau allein bleibt, wozu braucht er dann eine Beziehung?

 

7. Schwächlinge waren modern

Interessant ist, dass sich laut dem Nachwort von Stanislaus Joyce auch ein Kritiker, Paul Heyse, eine weniger schwache und unschlüssige Hauptfigur in dem Roman gewünscht hätte. Andererseits gab es in der Epoche mit Marcel Prousts Ich-Erzähler in dessen Romanzyklus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913-27) noch einen anderen unentschlossenen Protagonisten, der sehr berühmt wurde. Eine Erklärungshypothese dafür wäre, dass es sich nur wohlhabende Männer leisten konnten, willensschwach zu sein und Willensschwäche deshalb vielleicht für ein Anzeichen von materiellem Wohlstand gehalten wurde.

Auf dem Buchumschlag meiner Ausgabe steht, der Genueser Lyriker Eugenio Montale rühmte an Svevos Roman eine „moderne Nervosität“. Offenbar gab es also eine ganze Modeströmung, die die männliche Schwäche als positiv umwertete und sogar ein Epochenmerkmal in ihr sah. Die Unfähigkeit, mit sich selbst ins Reine zu kommen, wurde mit einer komplexen, vielschichtigen Seele verwechselt und ihre Darstellung mit literarischem Können und dem Verständnis für die „feinsten, verborgensten, sonst schamvoll verschwiegenen Verästelungen des Denkens und Fühlens“ (Klappentext) verwechselt.

Das ist natürlich alles Unsinn, und zwar besonders in Bezug auf Svevos Ein Mann wird älter, denn schon beim Lesen der ersten Kapitel war mir aufgefallen, dass die Konfusion der Handlung nicht aus der Psychologie des Protagonisten resultiert, sondern daraus, dass er unreflektiert allerlei gesellschaftliche Vorurteile übernimmt, die einander widersprechen.

So beginnt der Roman beispielsweise damit, dass Emilio Angelina erklärt, er werde keine „ernstliche Liebesbeziehung“ zu ihr eingehen, sondern sie werde nur ein „Spielzeug“ in seinem Leben sein. Und mit diesen Bezeichnungen glaubt er offenbar schon den Modus seiner Beziehung zu ihr verstanden zu haben und zu wissen, wie sich diese Affäre auf alle übrigen Bereiche seines Lebens auswirken wird. Als es dann bei der Spielzeugbeziehung nicht bleibt, weil seine Gefühle für sie stärker werden, kommen weitere gesellschaftlich vorgeprägte Begriffe (wie „Liebe“, „Treue“ oder „Reinheit“) dazu, von denen er glaubt, sie in allen ihren Konsequenzen schon verstanden haben, wenn er nur die entsprechenden Worte verwendet.

Am auffälligsten war das für mich beim Begriff des „Besitzes“, damit ist der Vollzug des Geschlechtsverkehrs gemeint. Emilio phantasiert darüber, was der Besitz Angiolinas durch ihn oder durch andere Männer für ihn an der Beziehung verändern würde, aber er denkt nicht ein einziges Mal darüber nach, was der „Besitz“ einer Frau mit dem Besitz materieller Güter zu tun hat und ob ein Mann eine Frau überhaupt besitzen kann. (Was natürlich zu Verlustängsten führt, sobald Emilio mit Angiolina spazieren geht und merkt, wie gefragt sein „Besitz“ ist.)

Aber das ist nur ein Beispiel von vielen dafür, wie Emilio sich in fremde Vorstellungen verstrickt, ohne sie geistig zu verarbeiten. Ich konnte mich beim Lesen des Romans beobachten, wie ich immer weniger bereit war, Emilio zuzuhören, weil er ein so unzuverlässiger Beobachter ist, dass es schade um die Zeit ist, sich mit einen Aussagen auseinanderzusetzen. Man glaubt, einem Irren zuzuhören, und kommt zu der Überzeugung, dass man sich kein Bild von der Sachlage machen kann, wenn man nicht selbst hingehen und sie sich mit eigenen Augen anschauen kann.

Zusammenfassend: Der Roman ist ein Negativbeispiel, aus dem man nichts lernen kann, außer vielleicht, wie schlimm es ist, ein Negativbeispiel wie Emilio Brentani zu sein. Das Buch handelt nicht von der Liebe, die einen jung macht, und vom Verlust der Liebe, der einen alt macht, sondern davon, dass diese „Jugend“ der Liebeswirren ein stacheliges Gestrüpp ist, an dem man sich nur verletzen kann und das man nicht erleben will.

Verschiedene Erzählelemente, die dazu verwendet werden können, eine Moral von der Geschicht‘ zu machen, sind vorhanden, aber der Autor will keine Moral machen, er will keinen Schluss aus dem Erzählten ziehen, sondern schickt seinen Protagonisten in die soziale Isolation.

Als weitere Option bleibt offen, dass man den Umgang mit Frauen vielleicht überhaupt nicht erlernen kann; in dem Fall nämlich, wenn man nicht der Typ dafür ist, also wenn man nicht so selbstbezogen und überheblich ist wie Stefano Balli – aber selbst diese These unterstützt der Roman weder noch widerlegt er sie.

Am Ende erzählt der Autor gar nichts, er entzieht sich der Verantwortung und lässt uns Leser mit Versatzstücken zurück, aus denen wir uns selber eine Geschichte basteln können. Aber merkwürdig ist es eben doch, dass Svevo uns mit Stefano Ballis System der Frauenbehandlung so deutliche Winke mit dem Zaunpfahl gibt, so als würde er selbst daran glauben.

© helmut hofbauer 2020