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SEHEN, dass man BLIND ist

Eine philosophische Reflexion über H.G. Wells Erzählung: „The Country of the Blind“

 

In seiner Erzählung „The Country of the Blind“ (in: Christopher Dolley (Hg.): The Penguin Book of English Short Stories. Penguin Books, Harmondsworth 1983 (1967). S. 103-128) aus dem Jahre 1904 erzählt H.G. Wells von einem Bergsteiger namens Nunez, der in Ecuador bei einer Bergtour in das Tal der Blinden verschlagen wird.

Diese Erzählung erscheint mir als treffliche Parabel für das Problem, wie ein Philosophierender von den anderen Menschen und von der Gesellschaft behandelt wird. Doch ist sie das nicht deshalb, weil Nunez, die Hauptfigur der Erzählung, ein Philosoph wäre – im Gegenteil, er verhält sich eigentlich sehr dumm und rücksichtslos (und zeigt somit, dass ein sehender Mensch in anderen Bereichen durchaus auch blind sein kann) – sondern einfach weil er sehen kann, während die anderen Menschen in diesem Tal blind sind und er ihnen, da sie sich in ihrem Leben eingerichtet haben und mit ihrer Lebensweise genug haben, den Nutzen des Sehens nicht verständlich machen kann.

Um den größeren fiktiven Zusammenhang zu erzählen, in dem der Plot der Geschichte sich abspielt: Es handelt sich um ein abgelegenes Tal in den Anden, in das früher Menschen geflohen waren, die sich der Herrschaft der Spanier entziehen wollten, bis ein gewaltiges Erdbeben es völlig von der Umwelt abschloss. Aufgrund irgendeiner Umweltgegebenheit erblindeten alle Menschen in diesem Tal langsam, und ihre Kinder wurden blind geboren. Nun leben sie bereits seit 14 Generationen in diesem Zustand in ihrem Tal und haben sowohl alle Wörter, die im Zusammenhang mit optischen Sinneseindrücken stehen, vergessen, wie auch, dass es außerhalb ihres Tals noch eine größere Welt gibt.

Nunez, der bei einem Bergunfall über ein steiles Schneefeld in das Tal rutscht und wie durch ein Wunder unverletzt bleibt, wird von H.G. Wells in dieser Erzählung als krasses Gegenteil der Talbewohner dargestellt. So ist er sehr von seiner vermeintlichen Überlegenheit eingenommen und sagt sich fortwährend das Sprichwort vor: "In the Country of the Blind the One-Eyed Man is King". Doch wird er nicht König der blinden Talbewohner (warum strebt er das überhaupt an?), sondern der Diener eines von ihnen, von Yacob. Als er schließlich dessen Tochter Medina-saroté heiraten möchte, wird ihm ihre Hand verweigert, solange bis er sich nicht einer chirurgischen Operation zur Entfernung seiner Augen unterzieht. Diese beiden Organe in Nunez’ Gesicht, die den Talbewohner, deren eigene Augen eingefallen sind, krankhaft angeschwollen erscheinen, werden von den Ältesten für Nunez’ verrückte Hirngespinste und wirre Reden über das Sehen verantwortlich gemacht, welche ihn als Person instabilisieren. Nunez willigt ein, doch am Vorabend seiner Operation flieht er ohne Ausrüstung in die Berge hinauf, wo er wahrscheinlich umkommen wird.

Man könnte diese Geschichte freilich als Erzählung über die Beschränktheit und Borniertheit einer geschlossenen Gemeinschaft lesen, die nichts anerkennen will, das sie nicht selber schon kennt. Damit würde man aber die Kraft des Konkreten nur ungenügend nutzen, da die Vorstellung konkreter Umstände und Vorgänge oft mehrere Interpretationen zulässt. Im Bezug auf diese Geschichte vom Tal der Blinden ist es insbesondere faszinierend, sich vor Augen zu führen, dass Nunez, obwohl er durch seinen Sehsinn so hoch über die anderen Menschen hinausgehoben ist, diesen eigentlich nichts anzubieten hat. So könnte er etwa ihre Häuser schön mit Farbe streichen, denn er stellt fest, dass diese farblich ziemlich hässlich bemalt sind. Aber wofür täte er das, sie könnten es ja doch nicht sehen. Dasselbe träfe zu, wollte er ihnen ein Bild malen oder ihnen auch nur von den Farben einer Blume erzählen. Auch ihren Häusern fehlt nichts, obwohl sie keine Fenster haben, denn die Talbewohner sind ja blind und verstehen es ausgezeichnet, sich in permanenter Dunkelheit mithilfe von Tastsinn und Gehör zu bewegen – nur Nunez hat Probleme damit, dass er etwas kann, was die anderen nicht können, weil er in ihren Häusern nichts sieht und sich in ihnen nicht bewegen kann. Auch ist es so, dass die Talbewohner tagsüber schlafen und in der Nacht arbeiten, weil es da kühler ist – für sie ist das kein Problem, weil sie ohnehin nicht sehen können, für Nunez hingegen schon.

Wenn man auf Philosophie zu sprechen kommt, stellen die Menschen sehr schnell die Frage, welchen Nutzen sie denn für die Menschen oder für die Gesellschaft habe. – Aber was ist, wenn wir jetzt einmal annehmen, dass Philosophieren so wie Sehen ist: Beim Sehen ist uns unmittelbar klar, welchen „Nutzen” es hat, bzw. ist uns unser Augenlicht so teuer, dass uns eigentlich sogar Nunez Flucht aus dem Tal der Blinden verständlich erscheint, die er aus Angst vor dem Verlust seines Augenlichtsunternimmt. Umgekehrt geht es aber auch darum zu verstehen, dass den Menschen – emotional – absolut nichts fehlt, wenn sie blind sind, noch dazu dann, wenn sie ausschließlich von anderen blinden Menschen umgeben sind und nichts davon wissen, dass die Fähigkeit zu sehen überhaupt existiert. Und nun ist es ja tatsächlich so, dass die philosophierenden Menschen in unserer Welt in der Minderheit sind, während die Nichtphilosophen die Mehrheit bilden.

Und wenn man nun die Texte Philosophierender liest, so stellt man immer wieder fest (und das könnten auch Nichtphilosophen diese lesend feststellen), dass es den Philosophierenden in der Hauptsache nicht um irgendetwas geht, das auf einen konkreten Nutzen einengbar wäre, sondern um etwas, das größer und integrierter ist als verschiedene einzelne Nutzen - um so etwas ähnliches wie das Sehen. Tatsächlich eröffnet das Philosophieren Weltzugänge, eröffnet weitere Fenster und Türen zur Welt, und in der Freude über diese Belüftung und darüber, durch diese zusätzlichen Öffnungen in die Welt hinausschauen zu können, besteht für die Philosophierenden die Bedürfnisbefriedigung durch Philosophie und die Rechtfertigung der Anstrengung beim Philosophieren.

Gerd Achenbach zitiert auf seiner Homepage in dem Text “Die Grundregel philosophischer Praxis” Bertrand Russell, der in seinem Buch Probleme der Philosophie (1912) geschrieben hatte:

„Wer niemals eine philosophische Anwandlung gehabt hat, der geht durchs Leben und ist wie in ein Gefängnis eingeschlossen: von den Vorurteilen des gesunden Menschenverstands, von den habituellen Meinungen seines Zeitalters oder seiner Nation und von den Ansichten, die ohne die Mitarbeit oder die Zustimmung der Vernunft in ihm gewachsen sind. So ein Mensch neigt dazu, die Welt bestimmt, endlich, selbstverständlich zu finden; die vertrauten Gegenstände stellen keine Fragen, und die ihm unvertrauten Möglichkeiten weist er verachtungsvoll von der Hand. Sobald wir aber anfangen zu philosophieren (...), führen selbst die alltäglichsten Dinge zu Fragen, die man nur sehr unvollständig beantworten kann. (So kann zwar) die Philosophie nicht mit Sicherheit [s]agen, wie die richtigen Antworten auf die gestellten Fragen heißen, aber sie kann uns viele Möglichkeiten zu bedenken geben, die unser Blickfeld erweitern und uns von der Tyrannei des Gewohnten befreien. Sie vermindert unsere Gewißheit darüber, was die Dinge sind, aber sie vermehrt unser Wissen darüber, was die Dinge sein könnten. Sie schlägt die etwas arrogante Gewißheit jener nieder, die sich niemals im Bereich des befreiende[n] Zweifels aufgehalten haben, und sie hält unsere Fähigkeiten zu erstaunen wach, indem sie uns vertraute Dinge von uns nicht vertrauten Seiten zeigt.”

Das ist so eine „typische“ Aussage – ja so möchte ich sie fast nennen – mit all ihren begrifflichen Paradoxien (wie z.B.: „befreiender Zweifel“ – wie kann sich denn ein Zweifel befreiend anfühlen, der doch im Gegenteil verunsichernd wirkt?), mit denen Philosophierende einander kundtun, dass sie davon wissen, dass Philosophieren so etwas wie ein Sehen ist. Somit ist es auch eine jener Aussagen, an der sie einander als Philosophierende erkennen können.

Philosophierende brauchen also keinen Nutzen der Philosophie, denn wie viel Nutzen das Sehen so nebenbei auch haben mag, wir tun es nicht wegen des Nutzens. Wir tun es aus Freude am Sehen und weil wir uns ohne das Sehen „blind“ fühlen würden, wobei wir mit diesem Wort die Angst vor einer großen Beraubung und Verarmung unseres Lebens zum Ausdruck bringen. Für die meisten Menschen würde zu erblinden das Ende ihres Lebens bedeuten; ein Philosophierender hätte mit einem ähnlichen Gefühl zu kämpfen, wenn er mit dem Zwang konfrontiert wäre, mit dem Philosophieren aufhören zu müssen.

Was ich damit – in Anlehnung an die Erzählung „The Country of the Blind“ von H.G. Wells – sagen möchte: Wir Philosophierende sollten nicht so dumm sein wie der Bergsteiger Nunez in dieser Erzählung. Wir sollten einsehen, dass die anderen nicht sehen können. Wir sollten einsehen, dass sie gar nicht wissen, was Sehen ist – und ihnen deshalb auch nichts abgeht. Wir sollten einsehen, dass es – aus ihrer Sicht – daher auch gar keinen Nutzen von Philosophie gibt. Und zwar gibt es deshalb keinen Nutzen von Philosophie, weil man auch ohne Philosophie leben kann. Die Menschen rund um uns leben ohne Philosophie wie die Menschen im Tal der Blinden ohne Augenlicht leben. Und so wie die Menschen im Tal der Blinden kein Bedürfnis nach einem schönen Anstrich ihrer Häuser, nach Fenstern in denselben und nach Bildern, Fotos und Gemälden haben, so haben Nichtphilosophen auch kein Bedürfnis und keinen Bedarf nach dem, was Philosophie dem Menschen anzubieten hat.

Anders gesagt, was Russell im zitierten Textstück macht, nämlich zu sagen, dass Philosophieren wie die Befreiung aus einem Gefängnis sei, ist schön und poetisch, aber sinnlos. Es gilt mit Blick auf unsere Mitmenschen zu verstehen, dass sie sich nicht gefangen fühlen und daher auch gar kein Bedürfnis haben, aus irgendeinem Käfig zu entkommen.

Wenn man sich als Philosophierender Nichtphilosophen nähert, muss man das anders machen, auf jeden Fall diskreter – und nicht so plump und tollpatschig wie Nunez den Blinden das Sehen auf ihre blinden Augen gedrückt hat. Zuallererst gilt es einmal, die Fragen von Nichtphilosophen nach dem potentiellen Nutzen von Philosophie ernst zu nehmen, auch wenn sie uns Philosophierenden Unbehagen bereiten, weil sie uns so sinnlos erscheinen wie die Frage, warum wir morgens unsere Augen öffnen. Aber es gilt eben zu verstehen – und das ist das Schwierigste überhaupt – dass andere Menschen anders sind als wir. Und zum Glück sind wir ja auch nicht in einer so aussichtslosen Situation wie Nunez, denn wir können auf zahlreiche philosophische AutorInnen und die prestigereiche Tradition der Philosophie verweisen, was unsere Gesprächspartner daran hindern dürfte zu behaupten, dass das, was wir von uns geben, nur krankhafte Hirngespinste seien. Nunez, dem in der Erzählung von H.G. Wells den blinden Menschen alleine gegenüber steht, hat stehen solche Ressourcen nicht zur Verfügung.

Und dann gilt es, von dem, was den Nichtphilosophen als möglicher Nutzen von Philosophie erscheint, auszugehen und diesen Nutzen wirklich zur Grundlage des Gesprächs zu machen, auch wenn uns erscheint, dass es sich bei dieser Nutzenkonstruktion bloß um einen Irrtum oder um eine Oberflächlichkeit handeln kann. Der Nutzen von Philosophie für Nichtphilosophen könnte eventuell darin bestehen,

  • Zugang zu finden und Anteil zu haben an der prestigereichen Tradition der Philosophie bzw. an ihrem gesellschaftlichen Prestige.
  • Lebensglück: Wenn sich die Menschen in der Philosophie Glück zu finden erhoffen, so sehe ich nicht, warum man es ihnen nicht versprechen sollte – man lügt damit nicht mehr und nicht weniger als Schokoladeproduzenten und Hollywood-Filmstudios.
  • (Seelische) Heilung: Das Feld der seelischen Heilung ist heute vermint weil völlig reguliert durch die Institutionen der Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie. Aber gesunden – also ungefährdeten – Menschen kann man ohne weiteres philosophische Heilung anbieten. Philosophische Heilung gibt es auch und sie funktioniert sogar, soweit das Prinzip funktioniert (von dem übrigens auch viele Psychotherapien getragen werden), dass es besser (und eben unter Umständen heilsam) ist, sich mit einem Problem, das man hat, auseinanderzusetzen als sich nicht mit ihm auseinanderzusetzen.
  • Was könnte es sonst noch für Nutzen der Philosophie geben? Vielleicht wären da noch einige Punkte, aber ich glaube, da müsste ich Nichtphilosophen befragen, denn als Philosophierender habe ich das Verständnis dafür verloren, was ein Nutzen von Philosophie für Nichtphilosophen sein könnte.

Im Sinne dieses letzten Punktes sehe ich auch die Lehre, die wir PhilosophInnen aus der Erzählung von H.G. Wells ziehen können: Wir sehen zwar (vielleicht), während die anderen Menschen nicht sehen, aber das bedeutet auf keinen Fall, dass wir auch sehen, was ihnen fehlt und welche Bedürfnisse sie haben. Wenn wir Nichtphilosophen erklären wollen, welche Bedürfnisse wir mit unserem Philosophieren befriedigen, so geht das an ihnen ebenso weit vorbei wie alles, was Nunez den blinden Menschen in jenem Gebirgstal der Anden anzubieten hat. Unser Sehen (wenn es so etwas gibt) durch die Philosophie ist auf der anderen Seite zugleich auch so etwas wie eine Blindheit, nämlich eine für die Bedürfnisse und Nutzenvorstellungen von nicht philosophierenden Menschen.

Dagegen hilft wohl nur eines, was Nunez in der Erzählung auch viel zu wenig tut, nämlich das Hören, die gute stille Tugend des Hinhörens, intensiver noch in der Gestalt des Lauschens. Damit werden wir unsere Mitmenschen ebenso wenig zum Philosophieren bringen wie Nunez die Blinden sehend machen kann, das gilt zumindest für die überwiegende Mehrheit von ihnen. Denn für die Philosophie ist jeder Mensch unerreichbar, der nicht von sich aus seine Fühler schon einmal in ihrer Richtung ausgestreckt hat. Aber es könnte eben doch sein, dass, wenn wir unsere Mitmenschen diskret begleiten, bisweilen hier und dort ein konkreter Nutzen des Philosophierens für sie erkennbar wird. So wie man sich vorstellen kann, dass Nunez den Blinden bisweilen in einzelnen Situationen mit seiner Sehkraft Hilfestellung hätte leisten können, wenn er still an ihrer Seite gelebt und nicht soviel über das Sehen geredet hätte.

Über das Philosophieren reden, das dürfen wir im Gegensatz zu Nunez freilich schon, nur muss uns klar sein, dass es sich, wenn wir einen konkretenNutzen des Philosophierens für Nichtphilosophen finden, immer um eine zufällige Übersetzung von Philosophie in etwas anderes, das zu einer für uns unvorstellbaren, weil unphilosophischen Lebensform gehört, handeln wird.

Bei der Lektüre von H.G. Wells Erzählung dachte ich jedenfalls unwillkürlich: Diesen armen blinden Menschen kann man es ja nicht vorwerfen, nicht zu wissen und zu verstehen, dass sie blind sind! Auf der anderen Seite kann aber derjenige Mensch, der die Fähigkeit zu sehen besitzt, eigentlich nicht behaupten, nicht imstande zu sein zu sehen, wofür er blind ist!

Ich versuche es noch einmal auszudrücken, was ich hier sagen will, denn mir scheint, es ist noch nicht vollends klargeworden und wird dies auch nicht, solange ich nicht die rechte Formulierung gefunden habe, die dieses Problem gleichsam in die Gestalt einer Formel prägt. Vielleicht gelingt mir dieses Ansinnen, wenn ich sage: Um wirklich zu philosophieren (und unsere nichtphilosophische Umwelt darin miteinzubeziehen) müssen wir Philosophierende mehr tun als nur zu philosophieren. Wir dürfen uns nicht mit dem Philosophieren begnügen, sondern müssen über das Philosophieren hinausgehen, so wie Nunez in H.G. Wells’ Erzählung sich nicht mit dem Sehen begnügen hätte sollen, sondern sich darüber hinaus vorstellen hätte sollen, wie die Welt für blinde Menschen aussieht.

Wir Philosophierende denken ja immer: Es gibt das Nichtphilosophieren, dann das Philosophieren und nach dem Philosophieren schon nichts mehr, was darüber hinaus ginge – aber genau das ist eben zu kurz gedacht. Es führt dazu, dass wir Nichtphilosophen auf geradem Wege zu Philosophierenden machen wollen, weil uns das philosophische Bewusstsein höher und wertvoller erscheint als das nichtphilosophische, ohne uns danach zu fragen, wie die Welt aussieht für Nichtphilosophen und welche Bedürfnisse und Nutzenvorstellungen aus ihrer Wirklichkeitssicht resultieren bzw., noch wichtiger, welche nicht resultieren.

Wenn es also darum geht, was Nichtphilosophen nicht erstreben oder stärker noch, was sie tatsächlich nicht wollen, was sie aus ganzem Herzen ablehnen, dann fällt mir das Volk der Blinden aus H.G. Wells’ Erzählung ein, das Nunez die Augen chirurgisch entfernen möchte, weil es der Meinung ist, diese seien krankhaft angeschwollen. Nietzsche sagt in seiner „3. Unzeitgemäßen Betrachtung“, Schopenhauer als Erzieher, über Michel de Montaigne: Das Bekanntwerden mit diesem Philosophen sei so, als würde einem ein (zusätzliches) Bein oder ein Flügel wachsen. Eine (ebenfalls für einen Philosophen typische) Aussage wie diese liest sich anders, nachdem man H.G. Wells Erzählung „The Country of the Blind“ kennen gelernt hat.

„Daß ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist wahrlich die Lust auf dieser Erde zu leben vermehrt worden. Mir wenigstens geht es seit dem Bekanntwerden mit dieser freiesten und kräftigsten Seele so, daß ich sagen muß, was er von Plutarch sagt: „kaum habe ich einen Blick auf ihn geworfen, so ist mir ein Bein oder ein Flügel gewachsen.““

Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen, S. 280. Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie, S. 67003 (vgl. Nietzsche-W Bd. 1, S. 296).

Ein zusätzliches Bein oder ein Flügel, das würden Nichtphilosophen wahrscheinlich als körperliche Verunstaltung ansehen und schnellstmöglich chirurgisch korrigieren wollen. Aus dieser Überlegung folgt auch: Man komme Nichtphilosophen nie mit dem, was wirklich der Nutzen von Philosophie wäre. Es ist nicht nur so, dass sie diesen Nutzen nicht sehen können, sondern wenn sie ihn sich vorstellen, so erscheint er ihnen als etwas zutiefst Ablehnenswertes. Man bleibe deshalb im Gespräch mit Nichtphilosophen besser im Rahmen ihrer eigenen Kategorien und erzähle ihnen Dinge, die sie verstehen können, um sie nicht gegen die Philosophie aufzubringen.

Es geht darum zu verstehen, dass Philosophie in der Welt nichtphilosophischer Menschen tatsächlich keinen Platz hat; erst wenn man das verstehen kann, kann man sich als PhilosophIn auf NichtphilosophInnen zubewegen – und man kann dann versuchen, sich selbst und das eigene Philosophieren vorsichtig in ihre nichtphilosophische Welt zu integrieren (was sicher einiges an Mimikry und Chuzpe verlangt). Das stellt freilich ein Paradoxon dar, das sich aber – auch auf Dauer – nicht auflösen lässt und also auszuhalten ist.

Was hingegen sicher nicht gehen wird, ist, NichtphilosophInnen dazu zu verführen, PhilosophInnen zu werden. Denn diese haben nicht nur kein Bedürfnis nach Philosophie (so wie die blinden Menschen in H.G. Wells’ Erzählung auch kein Bedürfnis nach dem Sehen haben), sondern sie würden den Sinn für das Philosophieren bei jenen, bei denen er erwacht ist, am liebsten wieder herausoperieren, weil er doch nicht in ihre Welt passt und droht, sie durcheinanderzubringen.

 

Schlussfolgerungen

  • Philosophierende Menschen dürfen als Sehende sich nicht nur mit dem Sehen begnügen, sondern sollten auch zu sehen versuchen, wofür sie durch ihr Sehvermögen blind sind.
  • Blind sind sie dafür, dass die NichtphilosophInnen sich in ihrer nichtphilosophischen Welt eingerichtet haben und der Philosophie deshalb nicht bedürfen.
  • Es mag zwar evident sein, dass Sehen besser ist als blind zu sein, aber leider haben wir es im Fall von Philosophie und nichtphilosophischer Welt mit keinem so einfachen Verhältnis zu tun: Im Umgang mit NichtphilosophInnen müssen wir als Philosophierende daher nach Nutzen und Vorteilen des Philosophierens suchen, die in der Welt der NichtphilosophInnen schlagend werden, auch wenn das solche sind, die aus unserer Sicht wenig mit den wahren Vorteilen von Philosophie zu tun haben.
  • Der Vorteil und Nutzen des Philosophierens gegenüber dem nichtphilosophierenden Leben kommt durch die Metapher des Sehens klar zum Ausdruck: Wir alle, die wir sehen können, genießen unser Augenlicht und möchten unter keinen Umständen auf dasselbe verzichten. Es gibt aber umgekehrt genauso gut den Vorteil und Nutzen des Nichtphilosophierens: Man ist so wie die anderen Menschen und harmoniert besser mit ihnen.

Das Verhältnis von Philosophie und menschlicher Welt ist also schwierig. Der Nutzen von Philosophie lässt sich jederzeit argumentieren, nur muss man es umsichtig tun und dabei zwischen der Perspektive der PhilosophInnen und jener der Nichtphilosophinnen hin- und herhüpfen. Doch wer sollte die geistige Wendigkeit, die dazu nötig ist, aufbringen, wenn nicht die PhilosophInnen, denn die nichtphilosophierenden Menschen, die nur ihren Nutzen vor Augen haben, werden nicht sehen, dass dieser sie blind macht für das Sehen.


18. Mai 2010

 

"Im Land der Blinden ist der Einäugige der Idiot"

Nachschrift vom 22. Mai 2016

 

Sechs Jahre nachdem ich über HG Wells' Erzählung "The Country of the Blind" geschrieben habe, ist mir dieses Thema in der exakt gleichen Formulierung in einem Buch über die Finanzmärkte wiederbegegnet: Unter den Blinden ist der Einäugige nicht König, wie man gemeinhin meint, sondern man hält ihn für einen Idioten.

Spannend ist für mich, wie sich in den nachfolgenden zwei Zitaten aus Georg von Wallwitz' Buch mehrere Themen verbinden, die mich schon seit Jahren beschäftigen: der Nutzen von Philosophie, die Schule, Institutionen und Organisationen, Organisationsformen von Arbeit, Anreize und Belohnungen und die Langeweile bei Vorträgen und Diskussionen. Alles dieses greift ineinander und hängt miteinander zusammen.

Zum Beispiel die Schule: Mir erscheint schon seit Längerem, dass die Schule die grundlegendste Erfahrung des Menschen im Leben ist. Und zwar nicht wegen der Inhalte, die dort von den Lehrern gelehrt werden. Sondern wegen der Menschen - in erster Linie der MitschülerInnen - die man dort kennenlernt. Man kann irgendwie davon ausgehen, dass man den gleichen Arten von Menschen im späteren Leben wiederbegegnen wird. Und ebenso scheint man davon ausgehen zu können, dass dasjenige, was in der eigenen Schulklasse oder Schule, in die man gegangen ist, den Leuten gefallen oder nicht gefallen hat, auch später in der großen Gesellschaft den Leuten gefallen oder nicht gefallen wird. Die Schulklasse ist überall. Das ist im Grunde eine ziemlich schlechte Nachricht: Die Welt ist letzten Endes nicht größer als eine Schulklasse. Und wenn man in der Schule mit seinen Vorlieben und Hobbys allein gestanden ist, so wird man sich mit großer Wahrscheinlichkeit auch später als Einzelgänger wiederfinden.

Das hängt aber auch damit zusammen, dass in der großen, weiten Welt viele Institutionen wie Schulklassen organisiert sind. Z.B. kam es bei uns in der Schule darauf an, bei einer Schularbeit in Deutsch, Englisch, Französisch oder Latein weniger als acht schwere Fehler zu machen. Ab acht Fehlern bekam man einen Fleck, ein Nichtgenügend. Das bedeutet, dass das Anreizsystem unausgewogen war: Positive Leistung (tolle Inhalte) wurden nicht belohnt, negative (Fehler) dafür bestraft. Das führt zu einem bestimmten Verhalten: Man bleibt bei dem, bei dem man sich sicher ist. Und es selektiert bestimmte Leute. Von der ersten bis zur vierten Klasse Unterstufe wurden wir von drei Klassen mit je über 30 SchülerInnen auf zwei Klassen zu je knapp über 20 SchülerInnen geschrumpft.

Derselbe Mechanismus wirkt noch viel stärker in der Arbeitswelt und in dem, was man berufliche Karriere nennt. Denn hier geht es darum, einen Job zu erhalten, der einem die Lebensgrundlage bietet, um sich überhaupt mit einer bestimmten Sache auseinandersetzen zu können. Bekommt man diese Anstellung nicht, kommt man in dieses Unternehmen oder in diese Universität oder in eine bestimmte andere Institution nicht hinein, so wird man sich seinen Lebensunterhalt mit etwas anderem verdienen müssen. Das bedeutet, dass man sich mit etwas anderem beschäftigen muss und dasjenige Themenfeld, für das man sich ursprünglich begeistert hatte, jenen überlassen bleibt, die von der Institution oder Organisation ausgewählt wurden. Und dadurch, dass die Institution oder Organisation sich vorzüglich Menschen ausgewählt hat, die sich außer mit konkreten Fähigkeiten vor allem auch durch eine bestimmte Wesensart auszeichnen, hat sie sich allein durch die Auswahl derer, die mitdiskutieren dürfen, Kritik und andere Meinungen von vornherein weitgehend ausgeschlossen.

BETTER FAIL CONVENTIONALLY

„In den großen Handelssälen, wo zwischen Furcht und Vertrauen mit einem gelegentlichen Blick auf die sich ewig im Fluss befindlichen Zahlenreihen die Investmenttrends entstehen, geht es aufgrund des Charakters der Akteure eher zu wie auf einem Schulhof als wie in einem Seminar. Stimmungen und Meinungen können sich sehr schnell ändern. Das Management versucht tapfer, die Prozesse hinter den Anlageentscheidungen und deren Ergebnisse zu kontrollieren, aber in diesem Geschäft lässt sich niemand gern in die Karten schauen. Täglich gibt es Besprechungen, ein Morningmeeting, wie die Märkte vernünftigerweise einzuschätzen sind. Wenn sie gut organisiert sind, gleichen sie einem Kampfplatz der Meinungen. Bei einer Investmentfondsgesellschaft versuchen beispielsweise manche Teams die Meinungen pointierter zu machen, indem relativierende Floskeln wie on the other hand … oder having said that … mit Geldstrafen belegt werden. Der Vortrag eines Teammitglieds soll möglichst frei sein von Abwägungen und dann von einem Gegenspieler kritisiert und hinterfragt werden, bis seine Schwäche offenbar wird. Die guten Besprechungen institutionalisieren die Skepsis, aber auch sie enden meist, wie die schlechten, in einem Kon-[S. 84]sens, der etwa die Meinung der Financial Times (in Europa) oder des Wall Street Journal (in den USA) spiegelt. An den Börsen geht es um viel Geld und jede Bewegung wird von den Kollegen, die im Wesentlichen Konkurrenten sind, genau registriert. Weicht jemand vom Konsens ab, so gilt er als merkwürdig. Führt diese Abweichung zu einem Gewinn, so ist das in Ordnung. Führt sie zu einem Verlust, so hat sie meist die Kündigung des Mandats zur Folge, denn wer gibt sein Geld schon gern einem merkwürdigen Verlierer? Worldly wisdom teaches that it is better for the reputation to fail conventionally than to succeed unconventionally. Keynes formuliert vornehm, und wer es drastischer mag, könnte auch sagen: Im Land der Blinden ist der Einäugige der Idiot. Denn selbst wenn man es besser weiß, gibt man sich durch die Abweichung vom Konsens doch nur der Lächerlichkeit preis. So bringen diese Konferenzen dem einzelnen Fondsmanager in der Regel wenig, und weil jeder ihre Inhaltsleere spürt, gibt die Einbindung in ein Team kaum Halt in Krisenzeiten. Am Ende ist jeder mit seinen Positionen allein.“

Georg von Wallwitz: Odysseus und die Wiesel. Eine fröhliche Einführung in die Finanzmärkte. Piper, München 2014. S. 83-84.

In diesem Zitat von Georg von Wallwitz geht es um Gedankenlosigkeit, das Gegenteil von Philosophie, und darum, wie sie in einem bestimmten sozialen Kontext - hier: dem der Finanzmärkte - organisiert ist. Das Mittel, um sie hervorzubringen, besteht in einseitigen Anreizsystemen: Wenn jemand alleine recht behält, ist es o.k.; wenn er mit den anderen irrt, ist es auch o.k.; irrt er aber allein, so führt das zu stark negativen Konsequenzen (er wird aus dem System entfernt).

Im Zusammenhang mit der Frage nach dem Nutzen von Philosophie hat das die Konsquenz, dass man, sobald man nach ihm gefragt wird, die Gegenfrage stellen muss, in welchem sozialen System Philosophie denn überhaupt einen Nutzen entfalten kann. Denn sobald ein nachzudenken beginnt, geht er seinen eigenen Weg und entfernt sich von der Gruppe. Selber nachzudenken ist nichts anderes, als eigene Wege zu gehen. Selber nachzudenken ist auch nichts anderes, als sich von der Gruppe zu entfernen. Wenn man nun in einem sozialen System arbeitet und lebt, in dem einem Fehler, die man gemeinsam mit den anderen Gruppenmitgliedern begeht, verziehen werden, Fehler, die man alleine begeht, aber nicht, so folgt daraus nichts anderes, als dass in diesem sozialen System das Denken verboten ist.

Die Frage, die viele Menschen nach dem Nutzen der Philosophie stellen, ist also - sobald man sie in ihren eigentümlichen Kontext stellt und auffasst - eigentlich die: Ich arbeite und lebe in einem sozialen System, in welchem Denken verboten ist - welchen konkreten Nutzen kann mir Nachdenken (=Philosophieren) in diesem System bringen. Die ehrliche Antwort wird sein: eher keinen; eher wird es dir Schaden bringen als Nutzen.

Interessant ist aber auch, in Georg von Wallwitz' Zitat zu sehen, wie solche Sozialsysteme, die das Denken im Grunde verboten haben, versuchen, nachträglich doch so etwas wie Nachdenken, Argumentieren und freie Diskussion zu organisieren. Wahrscheinlich tun sie es deshalb, weil ihnen insgeheim deucht, dass es doch besser wäre, wenn jemand nachdenkt und nach möglichen Gefahren in der Zukunft Ausschau hält. Sie machen das in Morningmeetings, in welchen die Diskussionsregeln verschärft werden, damit niemand sich durch Wischiwaschiaussagen aus der Verantwortung stehlen kann. Aber es funktioniert nicht, weil mit diesen Diskussionen keine Belohnungen verbunden sind und das Belohnungssystem des gesamten Sozialsystems in diese künstlich geschaffenen Räume hineinwirkt. Wenn das Gesamtsystem die Imitation der Handlungen der Anderen belohnt und den Irrtum aufgrund von eigenen Überlegungen bestraft, kann es nur eine Falle für den Einzelmenschen sein, wenn es sagt: "Aber täglich zwischen 8 und 9 Uhr morgens gelten andere Regeln". In diesem Fall spielt man eben den Diskutanten und hofft, dass diese sinnlose Quälerei bald vorübergeht.

Wir denken im Allgemeinen viel zuwenig über Anreizsysteme nach. Wer meine Texte kennt, weiß, dass ich immer wieder darüber nachdenke, warum die Vorträge und Diskussionen auf Philosophiekongressen so langweilig sind. Ich vermute, man empfindet sie aus demselben Grund so, aus dem auch die von von Wallwitz beschriebenen Diskussionen bei den Morninmeetings als langweilig und inhaltsleer empfunden werden: Man müsste danach fragen, welche Belohnung es für einen guten Vortrag auf einem Philosophiekongress gibt; ob es überhaupt irgendeine Belohnung gibt oder ob nicht in Wirklichkeit etwas ganz anderes belohnt wird. Denn schließlich geht es bei diesen Philosophiekongressen um Stellen für JungphilosophInnen an Universitäten - und man kann davon ausgehen, dass der- oder diejenige, der/die keine solche Stelle bekommt, in Zukunft bald einmal nicht mehr hier sein wird, um bei diesem Kongress zu sprechen. Durch die Auswahl der KandidatInnen für Anstellungen an den Universitäten setzen sich bestimmte Meinungen durch, aber sie tun das nicht durch das stärkere Argument, sondern durch einen sozialen Auswahlprozess.

Falls man nun diese Belohnung der Anstellung an einem Philosophieinstitut nicht für einen guten Vortrag bei einem Philosophiekongress erhält, sondern, z.B., für seine Loyalität und Hilfsbereitschaft seinem Doktorvater gegenüber, dann ist klar, dass der Vortrag beim Philosophiekongress zu einem inhaltsleeren Gerede verkommen muss. Denn alle wissen dann: Dieser Vortrag ist nicht das, worum es in diesem Spiel geht, und ein gutes Argument, das ich als erster Mensch gefunden und vorgetragen hat, führt auch zu keiner Belohnung. Wenn man also herausfinden möchte, worum es in der akademischen Philosophie überhaupt geht, dann müsste man die Anreizsysteme dort anschauen. Man müsste insbesondere danach fragen, für welche Leistungen jemand eine Anstellung an der Universität bekommt. Ich weiß nicht, welche Leistungen das sind, aber die von Wallwitz angesprochene gefühlte Inhaltsleere weist darauf hin, dass es nicht das stärkere Argument ist und auch nicht die ehrliche Bemühung bei der Suche nach der Wahrheit.

Der Schluss, der sich aus der Betrachtung von Georg von Wallwitz' Zitat aufdrängt, ist, dass eigenständiges Nachdenken nur dann möglich ist, wenn man eine gewisse soziale Unabhängigkeit hat. Das kann entweder dadurch sein, dass man eben nicht eine Anstellung in einer Organisation hat, sondern sein eigenes Angebot auf dem Markt hat, das einen finanziell unabhängig macht. Oder es bestünde auch die Möglichkeit, dass in Organisationen Positionen geschaffen werden, die sich durch größere Freiheit und Unabhängigkeit auszeichnen, Hofnarrenpositionen sozusagen. Solche Positionen, die nicht direkt innerhalb der Hierachie angesiedelt sind, sondern seitlich außerhalb, kenne ich in unserer gegenwärtigen Welt aber kaum. Wenn es sie gibt, dann sind sie wohl eher zufällig entstanden als dass sie bewusst geschaffen worden wären.

IRRE NIEMALS ALLEIN!

„Euphorien und Depressionen an den Finanzmärkten sind Trends, die sich ins Extrem verschärft haben. Trends entstehen in der Regel durch einen Herdeneffekt. Keynes hatte beobachtet, dass das größte Karriererisiko eines Wiesels darin besteht, alleine falsch zu liegen. Niemand macht einen Vorwurf, wenn derselbe Fehler von allen anderen auch gemacht wird. Keiner der Chefs der großen Finanzkonzerne und der Zentralbanken hatte die große Krise des Jahres 2008 kommen sehen, obwohl der US-Immobilienmarkt nach allen konventionellen Bewertungsmaßstäben extrem überbewertet war und viele unabhängige Investoren immer wieder auf die Blase hingewiesen hatten. Hätten sie nicht [S. 145] den Konsens vertreten, wären sie nie auf ihre Posten gekommen, denn jeder macht mal Fehler, aber wer seinen Fehler allein begeht, bleibt ewig ein Mauswiesel.
Wenn es das oberste Gebot ist, niemals allein zu irren, so folgt daraus, dass fast nie jemand allein richtig liegen wird. Solange die andere in einem überbewerteten Markt ihre Papiere behalten, werden fast alle Fondsmanager lieber kaufen als verkaufen und dadurch den Trend ins Absurde steigern. Umgekehrt wird auch niemand als Erster kaufen wollen, so billig die Märkte auch sind.“

Georg von Wallwitz: Odysseus und die Wiesel. Eine fröhliche Einführung in die Finanzmärkte. Piper, München 2014. S. 144-145.

Das zweite Zitat von Georg Wallwitz betont den Herdeneffekt, der durch Denkverbote - oder Anreize zum Nichtdenken - in Organisationen erzeugt wird und auch zu den Übertreibungen von Trends, zu dennen dieser Herdeneffekt führt, weil es zuwenige Menschen gibt, die anders denken und die dagegenhalten. Es wäre als durchaus im Sinne der Herde - und auch der gesamten Menschheit - wenn es mehr Menschen gäbe, die nachdenken, damit die Herde sich nicht zuweit vergaloppiert und zuviel dabei zu Bruch geht. Das ist aber schwer möglich, weil unsere Welt in Herden organisiert ist.

Mit den Wieseln sind übrigens die Händler und Fondsmanager gemeint: „An den Börsen dominiert […] ein Menschenschlag, dem es geht wie dem Wiesel, das zwar als Raubtier in die Welt gekommen, für ernsthaftes Beutemachen aber viel zu klein ist und daher immer wieder scheitert.“ (ebd., S. 8)

Eine jede Organisation, ein jedes Unternehmen oder wissenschaftliche Fach ist nämlich im Grunde eine solche Herde. Und Zugehörigkeit zu einer Herde erlangt man dadurch, dass man auf seinen eigenen Weg verzichtet und sich der Herde anschließt. Im Grunde bedeutet also allein schon die Zugehörigkeit zu irgendeiner Gruppe, dass man in einem bestimmten Themenbereich mit dem Selberdenken aufhört und sich anstattdessen der Herde anschließt. Oder, aus der Sicht der Herde: Wenn jemand selbst nachdenkt, ist damit die Gefahr verbunden, dass das Schule macht und sich die Herde auflöst. Aus der Sicht der Herde ist aber die Auflösung der Herde eine ähnlich schreckliche Vorstellung wie der Tod aus der Sicht des einzelnen Menschen. Es ist daher erwartbar, dass Herden eher den Weltuntergang, Börsencrashes, Umweltverschmutzung und Krieg in Kauf nehmen werden als die Auflösung der Herde. Und der einzelne Mensch kann wohl nicht als vernünftig gelten, wenn er nachdenkt in einem Umfeld, in dem das Nachdenken nicht belohnt, daraus resultierende Fehler aber bestraft werden.

Die Tendenz der Menschen, andere zu imitieren anstatt eigene Ideen zu entwickeln, hat Warren Buffett den "institutionellen Imperativ" genannt. Wie sein Name schon sagt, kommt er in erster Linie in Institutionen und Organisationen vor und bringt zum Ausdruck, dass wir Menschen die Eigenschaft haben, uns in Gemeinschaften dümmer zu verhalten als als Einzelne. Das hat zur Folge, dass Intelligenz - jedenfalls dann, wenn sie sich in Meinungen äußert, die von der Mehrheitsmeinung abweichen - karriereschädigend wirken kann. (Warren Buffett durfte diesen Gedanken äußern, weil er sein eigenes Unternehmen hat und also unabhängig ist.)

Damit sind wir wieder beim Anfang, beim Schulhof. Wer in der Schule schon darauf achtet, mit seinen MitschülerInnen zu harmonieren, und mit den Wölfen zu heulen, der wird auch im späteren Leben immer Gruppen finden, in die er sich integrieren kann und wird - je nach seinen oder ihren Fähigkeiten - in hierarchischen Organisationen die Karriereleiter hinaufsteigen. Mit einem Wort, er wird Erfolg haben. Und dadurch, dass wir denjenigen Menschen mit Erfolg belohnen, der sich assimiliert anstatt eigene Wege zu gehen, machen wir auf verschiedenen Ebenen die Welt immer wieder zu einem Schulhof. Wallwitz spricht davon, dass die großen Handelssäle der Finanzwirtschaft ein Schulhof sind; es würde mich nicht wundern, wenn Universitäten, Ministerien, Magistrate und politische Parteien auch Schulhöfe sind. Die beiden Zitate von Georg von Wallwitz sind ein Beispiel für die Schulhofhaftigkeit der Finanzwelt.

Was Intelligenz betrifft, so ist übrigens mathematische Intelligenz auf den Schulhöfen dieser Welt sehr gut angesehen. Vielleicht ist es deshalb so, weil sie vorzüglich als Mittel gebraucht wird und meistens nicht selbst aktiv wird. Das Problem für die Herde ist jene Intelligenz, die selbst aktiv wird. Wenn jemand hingegen jemand lange Zeit damit verbringt, dasjenige auszurechnen, was ihm von jemand anderem aufgetragen wurde, der ist auch für lange Zeit ruhig gestellt und davon abgehalten, zu seinen eigenen Gedanken zu kommen.

Den einzigen Rat, den man einem philosophierenden Menschen auf einem Schulhof geben kann, ist aber der: Wenn du einen Gedanken hast, behalte ihn für dich! Wenn man wirklich philosophieren will, muss man es entweder im Stillen tun oder sich ein entsprechendes soziales Umfeld suchen, in dem das möglich ist.

© helmut hofbauer 2010