SEHEN,
dass man BLIND ist
Eine
philosophische Reflexion über H.G. Wells Erzählung:
„The Country of the Blind“
In
seiner Erzählung „The Country of the Blind“
(in: Christopher Dolley (Hg.): The Penguin Book of English
Short Stories. Penguin Books, Harmondsworth 1983 (1967).
S. 103-128) aus dem Jahre 1904 erzählt H.G. Wells von
einem Bergsteiger namens Nunez, der in Ecuador bei einer
Bergtour in das Tal der Blinden verschlagen wird.
Diese
Erzählung erscheint mir als treffliche Parabel für
das Problem, wie ein Philosophierender von den anderen Menschen
und von der Gesellschaft behandelt wird. Doch ist sie das
nicht deshalb, weil Nunez, die Hauptfigur der Erzählung,
ein Philosoph wäre – im Gegenteil, er verhält
sich eigentlich sehr dumm und rücksichtslos (und zeigt
somit, dass ein sehender Mensch in anderen Bereichen durchaus
auch blind sein kann) – sondern einfach weil er sehen
kann, während die anderen Menschen in diesem Tal blind
sind und er ihnen, da sie sich in ihrem Leben eingerichtet
haben und mit ihrer Lebensweise genug haben, den Nutzen
des Sehens nicht verständlich machen kann.
Um
den größeren fiktiven Zusammenhang zu erzählen,
in dem der Plot der Geschichte sich abspielt: Es handelt
sich um ein abgelegenes Tal in den Anden, in das früher
Menschen geflohen waren, die sich der Herrschaft der Spanier
entziehen wollten, bis ein gewaltiges Erdbeben es völlig
von der Umwelt abschloss. Aufgrund irgendeiner Umweltgegebenheit
erblindeten alle Menschen in diesem Tal langsam, und ihre
Kinder wurden blind geboren. Nun leben sie bereits seit
14 Generationen in diesem Zustand in ihrem Tal und haben
sowohl alle Wörter, die im Zusammenhang mit optischen
Sinneseindrücken stehen, vergessen, wie auch, dass
es außerhalb ihres Tals noch eine größere
Welt gibt.
Nunez,
der bei einem Bergunfall über ein steiles Schneefeld
in das Tal rutscht und wie durch ein Wunder unverletzt bleibt,
wird von H.G. Wells in dieser Erzählung als krasses
Gegenteil der Talbewohner dargestellt. So ist er sehr von
seiner vermeintlichen Überlegenheit eingenommen und
sagt sich fortwährend das Sprichwort vor: "In
the Country of the Blind the One-Eyed Man is King".
Doch wird er nicht König der blinden Talbewohner (warum
strebt er das überhaupt an?), sondern der Diener eines
von ihnen, von Yacob. Als er schließlich dessen Tochter
Medina-saroté heiraten möchte, wird ihm ihre
Hand verweigert, solange bis er sich nicht einer chirurgischen
Operation zur Entfernung seiner Augen unterzieht. Diese
beiden Organe in Nunez’ Gesicht, die den Talbewohner,
deren eigene Augen eingefallen sind, krankhaft angeschwollen
erscheinen, werden von den Ältesten für Nunez’
verrückte Hirngespinste und wirre Reden über das
Sehen verantwortlich gemacht, welche ihn als Person instabilisieren.
Nunez willigt ein, doch am Vorabend seiner Operation flieht
er ohne Ausrüstung in die Berge hinauf, wo er wahrscheinlich
umkommen wird.
Man
könnte diese Geschichte freilich als Erzählung
über die Beschränktheit und Borniertheit einer
geschlossenen Gemeinschaft lesen, die nichts anerkennen
will, das sie nicht selber schon kennt. Damit würde
man aber die Kraft des Konkreten nur ungenügend nutzen,
da die Vorstellung konkreter Umstände und Vorgänge
oft mehrere Interpretationen zulässt. Im Bezug auf
diese Geschichte vom Tal der Blinden ist es insbesondere
faszinierend, sich vor Augen zu führen, dass Nunez,
obwohl er durch seinen Sehsinn so hoch über die anderen
Menschen hinausgehoben ist, diesen eigentlich nichts anzubieten
hat. So könnte er etwa ihre Häuser schön
mit Farbe streichen, denn er stellt fest, dass diese farblich
ziemlich hässlich bemalt sind. Aber wofür täte
er das, sie könnten es ja doch nicht sehen. Dasselbe
träfe zu, wollte er ihnen ein Bild malen oder ihnen
auch nur von den Farben einer Blume erzählen. Auch
ihren Häusern fehlt nichts, obwohl sie keine Fenster
haben, denn die Talbewohner sind ja blind und verstehen
es ausgezeichnet, sich in permanenter Dunkelheit mithilfe
von Tastsinn und Gehör zu bewegen – nur Nunez
hat Probleme damit, dass er etwas kann, was die anderen
nicht können, weil er in ihren Häusern nichts
sieht und sich in ihnen nicht bewegen kann. Auch ist es
so, dass die Talbewohner tagsüber schlafen und in der
Nacht arbeiten, weil es da kühler ist – für
sie ist das kein Problem, weil sie ohnehin nicht sehen können,
für Nunez hingegen schon.
Wenn
man auf Philosophie zu sprechen kommt, stellen die Menschen
sehr schnell die Frage, welchen Nutzen sie denn für
die Menschen oder für die Gesellschaft habe. –
Aber was ist, wenn wir jetzt einmal annehmen, dass Philosophieren
so wie Sehen ist: Beim Sehen ist uns unmittelbar klar, welchen
„Nutzen” es hat, bzw. ist uns unser Augenlicht
so teuer, dass uns eigentlich sogar Nunez Flucht aus dem
Tal der Blinden verständlich erscheint, die er aus
Angst vor dem Verlust seines Augenlichtsunternimmt. Umgekehrt
geht es aber auch darum zu verstehen, dass den Menschen
– emotional – absolut nichts fehlt, wenn sie
blind sind, noch dazu dann, wenn sie ausschließlich
von anderen blinden Menschen umgeben sind und nichts davon
wissen, dass die Fähigkeit zu sehen überhaupt
existiert. Und nun ist es ja tatsächlich so, dass die
philosophierenden Menschen in unserer Welt in der Minderheit
sind, während die Nichtphilosophen die Mehrheit bilden.
Und
wenn man nun die Texte Philosophierender liest, so stellt
man immer wieder fest (und das könnten auch Nichtphilosophen
diese lesend feststellen), dass es den Philosophierenden
in der Hauptsache nicht um irgendetwas geht, das auf einen
konkreten Nutzen einengbar wäre, sondern um etwas,
das größer und integrierter ist als verschiedene
einzelne Nutzen - um so etwas ähnliches wie das Sehen.
Tatsächlich eröffnet das Philosophieren Weltzugänge,
eröffnet weitere Fenster und Türen zur Welt, und
in der Freude über diese Belüftung und darüber,
durch diese zusätzlichen Öffnungen in die Welt
hinausschauen zu können, besteht für die Philosophierenden
die Bedürfnisbefriedigung durch Philosophie und die
Rechtfertigung der Anstrengung beim Philosophieren.
Gerd
Achenbach zitiert auf seiner Homepage in dem Text “Die
Grundregel philosophischer Praxis” Bertrand
Russell, der in seinem Buch Probleme der Philosophie
(1912) geschrieben hatte:
„Wer
niemals eine philosophische Anwandlung gehabt hat, der
geht durchs Leben und ist wie in ein Gefängnis
eingeschlossen: von den Vorurteilen des gesunden Menschenverstands,
von den habituellen Meinungen seines Zeitalters oder
seiner Nation und von den Ansichten, die ohne die Mitarbeit
oder die Zustimmung der Vernunft in ihm gewachsen sind.
So ein Mensch neigt dazu, die Welt bestimmt, endlich,
selbstverständlich zu finden; die vertrauten Gegenstände
stellen keine Fragen, und die ihm unvertrauten Möglichkeiten
weist er verachtungsvoll von der Hand. Sobald wir aber
anfangen zu philosophieren (...), führen selbst
die alltäglichsten Dinge zu Fragen, die man nur
sehr unvollständig beantworten kann. (So kann zwar)
die Philosophie nicht mit Sicherheit [s]agen, wie die
richtigen Antworten auf die gestellten Fragen heißen,
aber sie kann uns viele Möglichkeiten zu bedenken
geben, die unser Blickfeld erweitern und uns von der
Tyrannei des Gewohnten befreien. Sie vermindert unsere
Gewißheit darüber, was die Dinge sind, aber
sie vermehrt unser Wissen darüber, was die Dinge
sein könnten. Sie schlägt die etwas arrogante
Gewißheit jener nieder, die sich niemals im Bereich
des befreiende[n] Zweifels aufgehalten haben, und sie
hält unsere Fähigkeiten zu erstaunen wach,
indem sie uns vertraute Dinge von uns nicht vertrauten
Seiten zeigt.” |
Das
ist so eine „typische“ Aussage – ja so
möchte ich sie fast nennen – mit all ihren begrifflichen
Paradoxien (wie z.B.: „befreiender Zweifel“
– wie kann sich denn ein Zweifel befreiend anfühlen,
der doch im Gegenteil verunsichernd wirkt?), mit denen Philosophierende
einander kundtun, dass sie davon wissen, dass Philosophieren
so etwas wie ein Sehen ist. Somit ist es auch eine jener
Aussagen, an der sie einander als Philosophierende erkennen
können.
Philosophierende
brauchen also keinen Nutzen der Philosophie, denn wie viel
Nutzen das Sehen so nebenbei auch haben mag, wir tun es
nicht wegen des Nutzens. Wir tun es aus Freude am Sehen
und weil wir uns ohne das Sehen „blind“ fühlen
würden, wobei wir mit diesem Wort die Angst vor einer
großen Beraubung und Verarmung unseres Lebens zum
Ausdruck bringen. Für die meisten Menschen würde
zu erblinden das Ende ihres Lebens bedeuten; ein Philosophierender
hätte mit einem ähnlichen Gefühl zu kämpfen,
wenn er mit dem Zwang konfrontiert wäre, mit dem Philosophieren
aufhören zu müssen.
Was
ich damit – in Anlehnung an die Erzählung „The
Country of the Blind“ von H.G. Wells – sagen
möchte: Wir Philosophierende sollten nicht so dumm
sein wie der Bergsteiger Nunez in dieser Erzählung.
Wir sollten einsehen, dass die anderen nicht sehen können.
Wir sollten einsehen, dass sie gar nicht wissen, was Sehen
ist – und ihnen deshalb auch nichts abgeht. Wir sollten
einsehen, dass es – aus ihrer Sicht – daher
auch gar keinen Nutzen von Philosophie gibt. Und zwar gibt
es deshalb keinen Nutzen von Philosophie, weil man auch
ohne Philosophie leben kann. Die Menschen rund um uns leben
ohne Philosophie wie die Menschen im Tal der Blinden ohne
Augenlicht leben. Und so wie die Menschen im Tal der Blinden
kein Bedürfnis nach einem schönen Anstrich ihrer
Häuser, nach Fenstern in denselben und nach Bildern,
Fotos und Gemälden haben, so haben Nichtphilosophen
auch kein Bedürfnis und keinen Bedarf nach dem, was
Philosophie dem Menschen anzubieten hat.
Anders
gesagt, was Russell im zitierten Textstück macht, nämlich
zu sagen, dass Philosophieren wie die Befreiung aus einem
Gefängnis sei, ist schön und poetisch, aber sinnlos.
Es gilt mit Blick auf unsere Mitmenschen zu verstehen, dass
sie sich nicht gefangen fühlen und daher auch gar kein
Bedürfnis haben, aus irgendeinem Käfig zu entkommen.
Wenn
man sich als Philosophierender Nichtphilosophen nähert,
muss man das anders machen, auf jeden Fall diskreter –
und nicht so plump und tollpatschig wie Nunez den Blinden
das Sehen auf ihre blinden Augen gedrückt hat. Zuallererst
gilt es einmal, die Fragen von Nichtphilosophen nach dem
potentiellen Nutzen von Philosophie ernst zu nehmen, auch
wenn sie uns Philosophierenden Unbehagen bereiten, weil
sie uns so sinnlos erscheinen wie die Frage, warum wir morgens
unsere Augen öffnen. Aber es gilt eben zu verstehen
– und das ist das Schwierigste überhaupt –
dass andere Menschen anders sind als wir. Und zum Glück
sind wir ja auch nicht in einer so aussichtslosen Situation
wie Nunez, denn wir können auf zahlreiche philosophische
AutorInnen und die prestigereiche Tradition der Philosophie
verweisen, was unsere Gesprächspartner daran hindern
dürfte zu behaupten, dass das, was wir von uns geben,
nur krankhafte Hirngespinste seien. Nunez, dem in der Erzählung
von H.G. Wells den blinden Menschen alleine gegenüber
steht, hat stehen solche Ressourcen nicht zur Verfügung.
Und
dann gilt es, von dem, was den Nichtphilosophen als möglicher
Nutzen von Philosophie erscheint, auszugehen und diesen
Nutzen wirklich zur Grundlage des Gesprächs zu machen,
auch wenn uns erscheint, dass es sich bei dieser Nutzenkonstruktion
bloß um einen Irrtum oder um eine Oberflächlichkeit
handeln kann. Der Nutzen von Philosophie für Nichtphilosophen
könnte eventuell darin bestehen,
- Zugang
zu finden und Anteil zu haben an der prestigereichen Tradition
der Philosophie bzw. an ihrem gesellschaftlichen Prestige.
-
Lebensglück: Wenn sich die Menschen in der Philosophie
Glück zu finden erhoffen, so sehe ich nicht, warum
man es ihnen nicht versprechen sollte – man lügt
damit nicht mehr und nicht weniger als Schokoladeproduzenten
und Hollywood-Filmstudios.
-
(Seelische) Heilung: Das Feld der seelischen Heilung ist
heute vermint weil völlig reguliert durch die Institutionen
der Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie. Aber
gesunden – also ungefährdeten – Menschen
kann man ohne weiteres philosophische Heilung anbieten.
Philosophische Heilung gibt es auch und sie funktioniert
sogar, soweit das Prinzip funktioniert (von dem übrigens
auch viele Psychotherapien getragen werden), dass es besser
(und eben unter Umständen heilsam) ist, sich mit
einem Problem, das man hat, auseinanderzusetzen als sich
nicht mit ihm auseinanderzusetzen.
-
Was könnte es sonst noch für Nutzen der Philosophie
geben? Vielleicht wären da noch einige Punkte, aber
ich glaube, da müsste ich Nichtphilosophen befragen,
denn als Philosophierender habe ich das Verständnis
dafür verloren, was ein Nutzen von Philosophie für
Nichtphilosophen sein könnte.
Im
Sinne dieses letzten Punktes sehe ich auch die Lehre, die
wir PhilosophInnen aus der Erzählung von H.G. Wells
ziehen können: Wir sehen zwar (vielleicht), während
die anderen Menschen nicht sehen, aber das bedeutet auf
keinen Fall, dass wir auch sehen, was ihnen fehlt und welche
Bedürfnisse sie haben. Wenn
wir Nichtphilosophen erklären wollen, welche Bedürfnisse
wir mit unserem Philosophieren befriedigen, so geht das
an ihnen ebenso weit vorbei wie alles, was Nunez den blinden
Menschen in jenem Gebirgstal der Anden anzubieten hat. Unser
Sehen (wenn es so etwas gibt) durch die Philosophie ist
auf der anderen Seite zugleich auch so etwas wie eine Blindheit,
nämlich eine für die Bedürfnisse und Nutzenvorstellungen
von nicht philosophierenden Menschen.
Dagegen
hilft wohl nur eines, was Nunez in der Erzählung auch
viel zu wenig tut, nämlich das Hören, die gute
stille Tugend des Hinhörens, intensiver noch in der
Gestalt des Lauschens. Damit werden wir unsere Mitmenschen
ebenso wenig zum Philosophieren bringen wie Nunez die Blinden
sehend machen kann, das gilt zumindest für die überwiegende
Mehrheit von ihnen. Denn für die Philosophie ist jeder
Mensch unerreichbar, der nicht von sich aus seine Fühler
schon einmal in ihrer Richtung ausgestreckt hat. Aber es
könnte eben doch sein, dass, wenn wir unsere Mitmenschen
diskret begleiten, bisweilen hier und dort ein konkreter
Nutzen des Philosophierens für sie erkennbar wird.
So wie man sich vorstellen kann, dass Nunez den Blinden
bisweilen in einzelnen Situationen mit seiner Sehkraft Hilfestellung
hätte leisten können, wenn er still an ihrer Seite
gelebt und nicht soviel über das Sehen geredet hätte.
Über
das Philosophieren reden, das dürfen wir im Gegensatz
zu Nunez freilich schon, nur muss uns klar sein, dass es
sich, wenn wir einen konkretenNutzen des Philosophierens
für Nichtphilosophen finden, immer um eine zufällige
Übersetzung von Philosophie in etwas anderes, das zu
einer für uns unvorstellbaren, weil unphilosophischen
Lebensform gehört, handeln wird.
Bei
der Lektüre von H.G. Wells Erzählung dachte ich
jedenfalls unwillkürlich: Diesen armen blinden Menschen
kann man es ja nicht vorwerfen, nicht zu wissen und zu verstehen,
dass sie blind sind! Auf der anderen Seite kann aber derjenige
Mensch, der die Fähigkeit zu sehen besitzt, eigentlich
nicht behaupten, nicht imstande zu sein zu sehen, wofür
er blind ist!
Ich
versuche es noch einmal auszudrücken, was ich hier
sagen will, denn mir scheint, es ist noch nicht vollends
klargeworden und wird dies auch nicht, solange ich nicht
die rechte Formulierung gefunden habe, die dieses Problem
gleichsam in die Gestalt einer Formel prägt. Vielleicht
gelingt mir dieses Ansinnen, wenn ich sage: Um wirklich
zu philosophieren (und unsere nichtphilosophische Umwelt
darin miteinzubeziehen) müssen wir Philosophierende
mehr tun als nur zu philosophieren. Wir dürfen uns
nicht mit dem Philosophieren begnügen, sondern müssen
über das Philosophieren hinausgehen, so wie Nunez in
H.G. Wells’ Erzählung sich nicht mit dem Sehen
begnügen hätte sollen, sondern sich darüber
hinaus vorstellen hätte sollen, wie die Welt für
blinde Menschen aussieht.
Wir
Philosophierende denken ja immer: Es gibt das Nichtphilosophieren,
dann das Philosophieren und nach dem Philosophieren schon
nichts mehr, was darüber hinaus ginge – aber
genau das ist eben zu kurz gedacht. Es führt dazu,
dass wir Nichtphilosophen auf geradem Wege zu Philosophierenden
machen wollen, weil uns das philosophische Bewusstsein höher
und wertvoller erscheint als das nichtphilosophische, ohne
uns danach zu fragen, wie die Welt aussieht für Nichtphilosophen
und welche Bedürfnisse und Nutzenvorstellungen aus
ihrer Wirklichkeitssicht resultieren bzw., noch wichtiger,
welche nicht resultieren.
Wenn
es also darum geht, was Nichtphilosophen nicht erstreben
oder stärker noch, was sie tatsächlich nicht wollen,
was sie aus ganzem Herzen ablehnen, dann fällt mir
das Volk der Blinden aus H.G. Wells’ Erzählung
ein, das Nunez die Augen chirurgisch entfernen möchte,
weil es der Meinung ist, diese seien krankhaft angeschwollen.
Nietzsche sagt in seiner „3. Unzeitgemäßen
Betrachtung“, Schopenhauer als Erzieher,
über Michel de Montaigne: Das Bekanntwerden mit diesem
Philosophen sei so, als würde einem ein (zusätzliches)
Bein oder ein Flügel wachsen. Eine (ebenfalls für
einen Philosophen typische) Aussage wie diese liest sich
anders, nachdem man H.G. Wells Erzählung „The
Country of the Blind“ kennen gelernt hat.
„Daß
ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist wahrlich
die Lust auf dieser Erde zu leben vermehrt worden.
Mir wenigstens geht es seit dem Bekanntwerden mit
dieser freiesten und kräftigsten Seele so, daß
ich sagen muß, was er von Plutarch sagt: „kaum
habe ich einen Blick auf ihn geworfen, so ist mir
ein Bein oder ein Flügel gewachsen.““
Friedrich
Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen,
S. 280. Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie, S.
67003 (vgl. Nietzsche-W Bd. 1, S. 296). |
Ein
zusätzliches Bein oder ein Flügel, das würden
Nichtphilosophen wahrscheinlich als körperliche Verunstaltung
ansehen und schnellstmöglich chirurgisch korrigieren
wollen. Aus dieser Überlegung folgt auch: Man komme
Nichtphilosophen nie mit dem, was wirklich der Nutzen von
Philosophie wäre. Es ist nicht nur so, dass sie diesen
Nutzen nicht sehen können, sondern wenn sie ihn sich
vorstellen, so erscheint er ihnen als etwas zutiefst Ablehnenswertes.
Man bleibe deshalb im Gespräch mit Nichtphilosophen
besser im Rahmen ihrer eigenen Kategorien und erzähle
ihnen Dinge, die sie verstehen können, um sie nicht
gegen die Philosophie aufzubringen.
Es
geht darum zu verstehen, dass Philosophie in der Welt nichtphilosophischer
Menschen tatsächlich keinen Platz hat; erst wenn man
das verstehen kann, kann man sich als PhilosophIn auf NichtphilosophInnen
zubewegen – und man kann dann versuchen, sich selbst
und das eigene Philosophieren vorsichtig in ihre nichtphilosophische
Welt zu integrieren (was sicher einiges an Mimikry und Chuzpe
verlangt). Das stellt freilich ein Paradoxon dar, das sich
aber – auch auf Dauer – nicht auflösen
lässt und also auszuhalten ist.
Was
hingegen sicher nicht gehen wird, ist, NichtphilosophInnen
dazu zu verführen, PhilosophInnen zu werden. Denn diese
haben nicht nur kein Bedürfnis nach Philosophie (so
wie die blinden Menschen in H.G. Wells’ Erzählung
auch kein Bedürfnis nach dem Sehen haben), sondern
sie würden den Sinn für das Philosophieren bei
jenen, bei denen er erwacht ist, am liebsten wieder herausoperieren,
weil er doch nicht in ihre Welt passt und droht, sie durcheinanderzubringen.
Schlussfolgerungen
- Philosophierende
Menschen dürfen als Sehende sich nicht nur mit dem
Sehen begnügen, sondern sollten auch zu sehen versuchen,
wofür sie durch ihr Sehvermögen blind sind.
- Blind
sind sie dafür, dass die NichtphilosophInnen sich
in ihrer nichtphilosophischen Welt eingerichtet haben
und der Philosophie deshalb nicht bedürfen.
- Es
mag zwar evident sein, dass Sehen besser ist als blind
zu sein, aber leider haben wir es im Fall von Philosophie
und nichtphilosophischer Welt mit keinem so einfachen
Verhältnis zu tun: Im Umgang mit NichtphilosophInnen
müssen wir als Philosophierende daher nach Nutzen
und Vorteilen des Philosophierens suchen, die in der Welt
der NichtphilosophInnen schlagend werden, auch wenn das
solche sind, die aus unserer Sicht wenig mit den wahren
Vorteilen von Philosophie zu tun haben.
- Der
Vorteil und Nutzen des Philosophierens gegenüber
dem nichtphilosophierenden Leben kommt durch die Metapher
des Sehens klar zum Ausdruck: Wir alle, die wir sehen
können, genießen unser Augenlicht und möchten
unter keinen Umständen auf dasselbe verzichten. Es
gibt aber umgekehrt genauso gut den Vorteil und Nutzen
des Nichtphilosophierens: Man ist so wie die anderen Menschen
und harmoniert besser mit ihnen.
Das
Verhältnis von Philosophie und menschlicher Welt ist
also schwierig. Der Nutzen von Philosophie lässt sich
jederzeit argumentieren, nur muss man es umsichtig tun und
dabei zwischen der Perspektive der PhilosophInnen und jener
der Nichtphilosophinnen hin- und herhüpfen. Doch wer
sollte die geistige Wendigkeit, die dazu nötig ist,
aufbringen, wenn nicht die PhilosophInnen, denn die nichtphilosophierenden
Menschen, die nur ihren Nutzen vor Augen haben, werden nicht
sehen, dass dieser sie blind macht für das Sehen.
18. Mai 2010
"Im
Land der Blinden ist der Einäugige der Idiot"
Nachschrift
vom 22. Mai 2016
Sechs
Jahre nachdem ich über HG Wells' Erzählung "The
Country of the Blind" geschrieben habe, ist mir dieses
Thema in der exakt gleichen Formulierung in einem Buch über
die Finanzmärkte wiederbegegnet: Unter den Blinden
ist der Einäugige nicht König, wie man gemeinhin
meint, sondern man hält ihn für einen Idioten.
Spannend
ist für mich, wie sich in den nachfolgenden zwei Zitaten
aus Georg von Wallwitz' Buch mehrere Themen verbinden, die
mich schon seit Jahren beschäftigen: der Nutzen von
Philosophie, die Schule, Institutionen und Organisationen,
Organisationsformen von Arbeit, Anreize und Belohnungen
und die Langeweile bei Vorträgen und Diskussionen.
Alles dieses greift ineinander und hängt miteinander
zusammen.
Zum
Beispiel die Schule: Mir erscheint schon seit Längerem,
dass die Schule die grundlegendste Erfahrung des Menschen
im Leben ist. Und zwar nicht wegen der Inhalte, die dort
von den Lehrern gelehrt werden. Sondern wegen der Menschen
- in erster Linie der MitschülerInnen - die man dort
kennenlernt. Man kann irgendwie davon ausgehen, dass man
den gleichen Arten von Menschen im späteren Leben wiederbegegnen
wird. Und ebenso scheint man davon ausgehen zu können,
dass dasjenige, was in der eigenen Schulklasse oder Schule,
in die man gegangen ist, den Leuten gefallen oder nicht
gefallen hat, auch später in der großen Gesellschaft
den Leuten gefallen oder nicht gefallen wird. Die Schulklasse
ist überall. Das ist im Grunde eine ziemlich schlechte
Nachricht: Die Welt ist letzten Endes nicht größer
als eine Schulklasse. Und wenn man in der Schule mit seinen
Vorlieben und Hobbys allein gestanden ist, so wird man sich
mit großer Wahrscheinlichkeit auch später als
Einzelgänger wiederfinden.
Das
hängt aber auch damit zusammen, dass in der großen,
weiten Welt viele Institutionen wie Schulklassen organisiert
sind. Z.B. kam es bei uns in der Schule darauf an, bei einer
Schularbeit in Deutsch, Englisch, Französisch oder
Latein weniger als acht schwere Fehler zu machen. Ab acht
Fehlern bekam man einen Fleck, ein Nichtgenügend. Das
bedeutet, dass das Anreizsystem unausgewogen war: Positive
Leistung (tolle Inhalte) wurden nicht belohnt, negative
(Fehler) dafür bestraft. Das führt zu einem bestimmten
Verhalten: Man bleibt bei dem, bei dem man sich sicher ist.
Und es selektiert bestimmte Leute. Von der ersten bis zur
vierten Klasse Unterstufe wurden wir von drei Klassen mit
je über 30 SchülerInnen auf zwei Klassen zu je
knapp über 20 SchülerInnen geschrumpft.
Derselbe
Mechanismus wirkt noch viel stärker in der Arbeitswelt
und in dem, was man berufliche Karriere nennt. Denn hier
geht es darum, einen Job zu erhalten, der einem die Lebensgrundlage
bietet, um sich überhaupt mit einer bestimmten Sache
auseinandersetzen zu können. Bekommt man diese Anstellung
nicht, kommt man in dieses Unternehmen oder in diese Universität
oder in eine bestimmte andere Institution nicht hinein,
so wird man sich seinen Lebensunterhalt mit etwas anderem
verdienen müssen. Das bedeutet, dass man sich mit etwas
anderem beschäftigen muss und dasjenige Themenfeld,
für das man sich ursprünglich begeistert hatte,
jenen überlassen bleibt, die von der Institution oder
Organisation ausgewählt wurden. Und dadurch, dass die
Institution oder Organisation sich vorzüglich Menschen
ausgewählt hat, die sich außer mit konkreten
Fähigkeiten vor allem auch durch eine bestimmte Wesensart
auszeichnen, hat sie sich allein durch die Auswahl derer,
die mitdiskutieren dürfen, Kritik und andere Meinungen
von vornherein weitgehend ausgeschlossen.
BETTER
FAIL CONVENTIONALLY
„In den großen Handelssälen,
wo zwischen Furcht und Vertrauen mit einem gelegentlichen
Blick auf die sich ewig im Fluss befindlichen Zahlenreihen
die Investmenttrends entstehen, geht es aufgrund des
Charakters der Akteure eher zu wie auf einem Schulhof
als wie in einem Seminar. Stimmungen und Meinungen
können sich sehr schnell ändern. Das Management
versucht tapfer, die Prozesse hinter den Anlageentscheidungen
und deren Ergebnisse zu kontrollieren, aber in diesem
Geschäft lässt sich niemand gern in die
Karten schauen. Täglich gibt es Besprechungen,
ein Morningmeeting, wie die Märkte vernünftigerweise
einzuschätzen sind. Wenn sie gut organisiert
sind, gleichen sie einem Kampfplatz der Meinungen.
Bei einer Investmentfondsgesellschaft versuchen beispielsweise
manche Teams die Meinungen pointierter zu machen,
indem relativierende Floskeln wie on the other
hand … oder having said that …
mit Geldstrafen belegt werden. Der Vortrag eines Teammitglieds
soll möglichst frei sein von Abwägungen
und dann von einem Gegenspieler kritisiert und hinterfragt
werden, bis seine Schwäche offenbar wird. Die
guten Besprechungen institutionalisieren die Skepsis,
aber auch sie enden meist, wie die schlechten, in
einem Kon-[S. 84]sens, der etwa die Meinung der Financial
Times (in Europa) oder des Wall Street Journal
(in den USA) spiegelt. An den Börsen geht es
um viel Geld und jede Bewegung wird von den Kollegen,
die im Wesentlichen Konkurrenten sind, genau registriert.
Weicht jemand vom Konsens ab, so gilt er als merkwürdig.
Führt diese Abweichung zu einem Gewinn, so ist
das in Ordnung. Führt sie zu einem Verlust, so
hat sie meist die Kündigung des Mandats zur Folge,
denn wer gibt sein Geld schon gern einem merkwürdigen
Verlierer? Worldly wisdom teaches that it is better
for the reputation to fail conventionally than to
succeed unconventionally. Keynes formuliert vornehm,
und wer es drastischer mag, könnte auch sagen:
Im Land der Blinden ist der Einäugige der Idiot.
Denn selbst wenn man es besser weiß, gibt man
sich durch die Abweichung vom Konsens doch nur der
Lächerlichkeit preis. So bringen diese Konferenzen
dem einzelnen Fondsmanager in der Regel wenig, und
weil jeder ihre Inhaltsleere spürt, gibt die
Einbindung in ein Team kaum Halt in Krisenzeiten.
Am Ende ist jeder mit seinen Positionen allein.“
Georg
von Wallwitz: Odysseus und die Wiesel. Eine fröhliche
Einführung in die Finanzmärkte. Piper,
München 2014. S. 83-84.
|
In
diesem Zitat von Georg von Wallwitz geht es um Gedankenlosigkeit,
das Gegenteil von Philosophie, und darum, wie sie in einem
bestimmten sozialen Kontext - hier: dem der Finanzmärkte
- organisiert ist. Das Mittel, um sie hervorzubringen, besteht
in einseitigen Anreizsystemen: Wenn jemand alleine recht
behält, ist es o.k.; wenn er mit den anderen irrt,
ist es auch o.k.; irrt er aber allein, so führt das
zu stark negativen Konsequenzen (er wird aus dem System
entfernt).
Im
Zusammenhang mit der Frage nach dem Nutzen von Philosophie
hat das die Konsquenz, dass man, sobald man nach ihm gefragt
wird, die Gegenfrage stellen muss, in welchem sozialen System
Philosophie denn überhaupt einen Nutzen entfalten kann.
Denn sobald ein nachzudenken beginnt, geht er seinen eigenen
Weg und entfernt sich von der Gruppe. Selber nachzudenken
ist nichts anderes, als eigene Wege zu gehen. Selber nachzudenken
ist auch nichts anderes, als sich von der Gruppe zu entfernen.
Wenn man nun in einem sozialen System arbeitet und lebt,
in dem einem Fehler, die man gemeinsam mit den anderen Gruppenmitgliedern
begeht, verziehen werden, Fehler, die man alleine begeht,
aber nicht, so folgt daraus nichts anderes, als dass in
diesem sozialen System das Denken verboten ist.
Die
Frage, die viele Menschen nach dem Nutzen der Philosophie
stellen, ist also - sobald man sie in ihren eigentümlichen
Kontext stellt und auffasst - eigentlich die: Ich arbeite
und lebe in einem sozialen System, in welchem Denken verboten
ist - welchen konkreten Nutzen kann mir Nachdenken (=Philosophieren)
in diesem System bringen. Die ehrliche Antwort wird sein:
eher keinen; eher wird es dir Schaden bringen als Nutzen.
Interessant
ist aber auch, in Georg von Wallwitz' Zitat zu sehen, wie
solche Sozialsysteme, die das Denken im Grunde verboten
haben, versuchen, nachträglich doch so etwas wie Nachdenken,
Argumentieren und freie Diskussion zu organisieren. Wahrscheinlich
tun sie es deshalb, weil ihnen insgeheim deucht, dass es
doch besser wäre, wenn jemand nachdenkt und nach möglichen
Gefahren in der Zukunft Ausschau hält. Sie machen das
in Morningmeetings, in welchen die Diskussionsregeln verschärft
werden, damit niemand sich durch Wischiwaschiaussagen aus
der Verantwortung stehlen kann. Aber es funktioniert nicht,
weil mit diesen Diskussionen keine Belohnungen verbunden
sind und das Belohnungssystem des gesamten Sozialsystems
in diese künstlich geschaffenen Räume hineinwirkt.
Wenn das Gesamtsystem die Imitation der Handlungen der Anderen
belohnt und den Irrtum aufgrund von eigenen Überlegungen
bestraft, kann es nur eine Falle für den Einzelmenschen
sein, wenn es sagt: "Aber täglich zwischen 8 und
9 Uhr morgens gelten andere Regeln". In diesem Fall
spielt man eben den Diskutanten und hofft, dass diese sinnlose
Quälerei bald vorübergeht.
Wir
denken im Allgemeinen viel zuwenig über Anreizsysteme
nach. Wer meine Texte kennt, weiß, dass ich immer
wieder darüber nachdenke, warum die Vorträge und
Diskussionen auf Philosophiekongressen so langweilig sind.
Ich vermute, man empfindet sie aus demselben Grund so, aus
dem auch die von von Wallwitz beschriebenen Diskussionen
bei den Morninmeetings als langweilig und inhaltsleer empfunden
werden: Man müsste danach fragen, welche Belohnung
es für einen guten Vortrag auf einem Philosophiekongress
gibt; ob es überhaupt irgendeine Belohnung gibt oder
ob nicht in Wirklichkeit etwas ganz anderes belohnt wird.
Denn schließlich geht es bei diesen Philosophiekongressen
um Stellen für JungphilosophInnen an Universitäten
- und man kann davon ausgehen, dass der- oder diejenige,
der/die keine solche Stelle bekommt, in Zukunft bald einmal
nicht mehr hier sein wird, um bei diesem Kongress zu sprechen.
Durch die Auswahl der KandidatInnen für Anstellungen
an den Universitäten setzen sich bestimmte Meinungen
durch, aber sie tun das nicht durch das stärkere Argument,
sondern durch einen sozialen Auswahlprozess.
Falls
man nun diese Belohnung der Anstellung an einem Philosophieinstitut
nicht für einen guten Vortrag bei einem Philosophiekongress
erhält, sondern, z.B., für seine Loyalität
und Hilfsbereitschaft seinem Doktorvater gegenüber,
dann ist klar, dass der Vortrag beim Philosophiekongress
zu einem inhaltsleeren Gerede verkommen muss. Denn alle
wissen dann: Dieser Vortrag ist nicht das, worum es in diesem
Spiel geht, und ein gutes Argument, das ich als erster Mensch
gefunden und vorgetragen hat, führt auch zu keiner
Belohnung. Wenn man also herausfinden möchte, worum
es in der akademischen Philosophie überhaupt geht,
dann müsste man die Anreizsysteme dort anschauen. Man
müsste insbesondere danach fragen, für welche
Leistungen jemand eine Anstellung an der Universität
bekommt. Ich weiß nicht, welche Leistungen das sind,
aber die von Wallwitz angesprochene gefühlte Inhaltsleere
weist darauf hin, dass es nicht das stärkere Argument
ist und auch nicht die ehrliche Bemühung bei der Suche
nach der Wahrheit.
Der
Schluss, der sich aus der Betrachtung von Georg von Wallwitz'
Zitat aufdrängt, ist, dass eigenständiges Nachdenken
nur dann möglich ist, wenn man eine gewisse soziale
Unabhängigkeit hat. Das kann entweder dadurch sein,
dass man eben nicht eine Anstellung in einer Organisation
hat, sondern sein eigenes Angebot auf dem Markt hat, das
einen finanziell unabhängig macht. Oder es bestünde
auch die Möglichkeit, dass in Organisationen Positionen
geschaffen werden, die sich durch größere Freiheit
und Unabhängigkeit auszeichnen, Hofnarrenpositionen
sozusagen. Solche Positionen, die nicht direkt innerhalb
der Hierachie angesiedelt sind, sondern seitlich außerhalb,
kenne ich in unserer gegenwärtigen Welt aber kaum.
Wenn es sie gibt, dann sind sie wohl eher zufällig
entstanden als dass sie bewusst geschaffen worden wären.
IRRE
NIEMALS ALLEIN!
„Euphorien
und Depressionen an den Finanzmärkten sind Trends,
die sich ins Extrem verschärft haben. Trends
entstehen in der Regel durch einen Herdeneffekt. Keynes
hatte beobachtet, dass das größte Karriererisiko
eines Wiesels darin besteht, alleine falsch zu liegen.
Niemand macht einen Vorwurf, wenn derselbe Fehler
von allen anderen auch gemacht wird. Keiner der Chefs
der großen Finanzkonzerne und der Zentralbanken
hatte die große Krise des Jahres 2008 kommen
sehen, obwohl der US-Immobilienmarkt nach allen konventionellen
Bewertungsmaßstäben extrem überbewertet
war und viele unabhängige Investoren immer wieder
auf die Blase hingewiesen hatten. Hätten sie
nicht [S. 145] den Konsens vertreten, wären sie
nie auf ihre Posten gekommen, denn jeder macht mal
Fehler, aber wer seinen Fehler allein begeht, bleibt
ewig ein Mauswiesel.
Wenn es das oberste Gebot ist, niemals allein zu irren,
so folgt daraus, dass fast nie jemand allein richtig
liegen wird. Solange die andere in einem überbewerteten
Markt ihre Papiere behalten, werden fast alle Fondsmanager
lieber kaufen als verkaufen und dadurch den Trend
ins Absurde steigern. Umgekehrt wird auch niemand
als Erster kaufen wollen, so billig die Märkte
auch sind.“
Georg
von Wallwitz: Odysseus und die Wiesel. Eine fröhliche
Einführung in die Finanzmärkte. Piper,
München 2014. S. 144-145.
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Das
zweite Zitat von Georg Wallwitz betont den Herdeneffekt,
der durch Denkverbote - oder Anreize zum Nichtdenken - in
Organisationen erzeugt wird und auch zu den Übertreibungen
von Trends, zu dennen dieser Herdeneffekt führt, weil
es zuwenige Menschen gibt, die anders denken und die dagegenhalten.
Es wäre als durchaus im Sinne der Herde - und auch
der gesamten Menschheit - wenn es mehr Menschen gäbe,
die nachdenken, damit die Herde sich nicht zuweit vergaloppiert
und zuviel dabei zu Bruch geht. Das ist aber schwer möglich,
weil unsere Welt in Herden organisiert ist.
Mit
den Wieseln sind übrigens die Händler und Fondsmanager
gemeint: „An den Börsen dominiert […]
ein Menschenschlag, dem es geht wie dem Wiesel, das zwar
als Raubtier in die Welt gekommen, für ernsthaftes
Beutemachen aber viel zu klein ist und daher immer wieder
scheitert.“ (ebd., S. 8)
Eine
jede Organisation, ein jedes Unternehmen oder wissenschaftliche
Fach ist nämlich im Grunde eine solche Herde. Und Zugehörigkeit
zu einer Herde erlangt man dadurch, dass man auf seinen
eigenen Weg verzichtet und sich der Herde anschließt.
Im Grunde bedeutet also allein schon die Zugehörigkeit
zu irgendeiner Gruppe, dass man in einem bestimmten Themenbereich
mit dem Selberdenken aufhört und sich anstattdessen
der Herde anschließt. Oder, aus der Sicht der Herde:
Wenn jemand selbst nachdenkt, ist damit die Gefahr verbunden,
dass das Schule macht und sich die Herde auflöst. Aus
der Sicht der Herde ist aber die Auflösung der Herde
eine ähnlich schreckliche Vorstellung wie der Tod aus
der Sicht des einzelnen Menschen. Es ist daher erwartbar,
dass Herden eher den Weltuntergang, Börsencrashes,
Umweltverschmutzung und Krieg in Kauf nehmen werden als
die Auflösung der Herde. Und der einzelne Mensch kann
wohl nicht als vernünftig gelten, wenn er nachdenkt
in einem Umfeld, in dem das Nachdenken nicht belohnt, daraus
resultierende Fehler aber bestraft werden.
Die
Tendenz der Menschen, andere zu imitieren anstatt eigene
Ideen zu entwickeln, hat Warren Buffett den "institutionellen
Imperativ" genannt. Wie sein Name schon sagt, kommt
er in erster Linie in Institutionen und Organisationen vor
und bringt zum Ausdruck, dass wir Menschen die Eigenschaft
haben, uns in Gemeinschaften dümmer zu verhalten als
als Einzelne. Das hat zur Folge, dass Intelligenz - jedenfalls
dann, wenn sie sich in Meinungen äußert, die
von der Mehrheitsmeinung abweichen - karriereschädigend
wirken kann. (Warren Buffett durfte diesen Gedanken äußern,
weil er sein eigenes Unternehmen hat und also unabhängig
ist.)
Damit
sind wir wieder beim Anfang, beim Schulhof. Wer in der Schule
schon darauf achtet, mit seinen MitschülerInnen zu
harmonieren, und mit den Wölfen zu heulen, der wird
auch im späteren Leben immer Gruppen finden, in die
er sich integrieren kann und wird - je nach seinen oder
ihren Fähigkeiten - in hierarchischen Organisationen
die Karriereleiter hinaufsteigen. Mit einem Wort, er wird
Erfolg haben. Und dadurch, dass wir denjenigen Menschen
mit Erfolg belohnen, der sich assimiliert anstatt eigene
Wege zu gehen, machen wir auf verschiedenen Ebenen die Welt
immer wieder zu einem Schulhof. Wallwitz spricht davon,
dass die großen Handelssäle der Finanzwirtschaft
ein Schulhof sind; es würde mich nicht wundern, wenn
Universitäten, Ministerien, Magistrate und politische
Parteien auch Schulhöfe sind. Die beiden Zitate von
Georg von Wallwitz sind ein Beispiel für die Schulhofhaftigkeit
der Finanzwelt.
Was
Intelligenz betrifft, so ist übrigens mathematische
Intelligenz auf den Schulhöfen dieser Welt sehr gut
angesehen. Vielleicht ist es deshalb so, weil sie vorzüglich
als Mittel gebraucht wird und meistens nicht selbst aktiv
wird. Das Problem für die Herde ist jene Intelligenz,
die selbst aktiv wird. Wenn jemand hingegen jemand lange
Zeit damit verbringt, dasjenige auszurechnen, was ihm von
jemand anderem aufgetragen wurde, der ist auch für
lange Zeit ruhig gestellt und davon abgehalten, zu seinen
eigenen Gedanken zu kommen.
Den
einzigen Rat, den man einem philosophierenden Menschen auf
einem Schulhof geben kann, ist aber der: Wenn du einen Gedanken
hast, behalte ihn für dich! Wenn man wirklich philosophieren
will, muss man es entweder im Stillen tun oder sich ein
entsprechendes soziales Umfeld suchen, in dem das möglich
ist.
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