Ethik
und die funktionale Trennung in unserer heutigen Gesellschaft
Nach:
Klaus Türk, Thomas Lemke, Michael Bruch: Organisation
in der modernen Gesellschaft. Eine historische Einführung.
2. Auflage. VS Verlag für Sozialwissenschaften,
Wiesbaden 2006 (2002).
Habe
ich eine Idee oder habe ich keine – ich bin mir gar
nicht sicher. Ich habe nur den Eindruck, dass das was Interessantes
ist und versuche es deshalb genauer herauszuarbeiten: Im
ersten Zitat findet sich ein Hinweis auf die klassische
und mittelalterliche Naturrechtskonzeption (und Konzeption
von Ethik), in welcher die ganze Welt Teil einer gottgegebenen
Ordnung ist, weswegen es keinen Raum für einen eigenständigen
Bereich des Politischen gibt. Es gibt da auch keinen eigenständigen
Bereich des Ethischen, des Ökonomischen oder der Wissenschaft,
weil alles alles zugleich ist: Das Gute ist auch das Gerechte
ist auch das Nützliche, das Richtige und das Wahre.
Genau das ändert sich mit der neuzeitlichen Naturrechtskonzeption,
mit Thomas Hobbes. Relevant im Zusammenhang mit der Frage
nach der Ethik ist dabei der Ausgangspunkt, dass der Mensch
nun von Natur aus als unmoralisch (unethisch) angesehen
wird und erst durch Disziplinierung (durch die Gesellschaft?)
zum gesellschaftstauglichen, ethischen Individuum gemacht
werden kann.
ETHIK
IM ANTIKEN/MITTELALTERLICHEN VESTÄNDNIS UND IM
NEUZEITLICHEN
S.
49-50 „Im Zentrum der mittelalterlichen Ordnungskonzeption
steht das christlich geprägte klassische Naturrecht,
das stoisch-aristotelische Vorstellungen aufnimmt
und neu artikuliert: Demnach ist die physische ebenso
wie die politische Welt das Werk eines Schöpfergottes
und Teil eines theologisch-kosmologischen Kontinuums,
das sich von Gott über die Menschen bis hin zur
tierischen und pflanzlichen Natur erstreckt. In dieser
Konzeption ist kein Raum für einen eigenständigen
Bereich oder eine spezifische Gesetzmäßigkeit
des Politischen, die politische Regierung ist vielmehr
integraler Bestandteil einer umfassenderen göttlichen
Schöpfungsordnung – ohne konzeptionell
oder praktisch autonom zu sein. Im Mittelalter verweist
das positive Recht immer auf das Postulat einer es
übergreifenden und erst legitimierenden Gerechtigkeit,
und die natürlichen Gesetze sind der konkreten
politischen Verfassung grundsätzlich vorgeordnet
(vgl. Sonntag 1999, S. 154ff.). Das moderne Naturrecht
bricht mit der antiken und mittelalterlichen politischen
Theorie und führt eine Reihe von strategischen
Umkehrungen ein. [...]
Der erste wichtige Unterschied besteht in dem Begriff
des Menschen. Für Aristoteles ebenso wie für
Thomas von Aquin ist der Mensch von Natur aus ein
soziales Wesen, das Leben in einer Gemeinschaft die
Voraussetzung für die sittliche Vervollkommnung
der Menschen. In dieser Hinsicht schließen sich
Menschen zusammen, um „gut“ zu leben,
nicht um des bloßen Lebens und Überlebens
willen. Sie sind „ursprünglich gesellig“,
ohne dass dafür eine gesonderte Übereinkunft
oder ein expliziter Vertragsschluss konstitutiv oder
notwendig wäre. Dagegen stellt für Thomas
Hobbes in seinem berühmten Buch Leviathan (1651)
der Naturzustand einen permanenten Krieg aller gegen
alle dar, er ist der anti-soziale Zustand par excellence,
in dem es nur ungesellige, miteinander konkurrierende
und voneinander isolierte Einzelne gibt. [...] In
dieser Konzeption stellt das Individuum weniger ein
soziales als ein zu sozialisierendes Wesen dar (Hobbes’
Formulierung: „Man is not fitted for [S. 50]
society by nature, but by discipline“). [...]
Die zweite wichtige Differenz betrifft die Konzeption
der Gesellschaft. Für Hobbes und die Naturrechtstheoretiker
nach ihm sind Gesellschaften weniger Teil einer göttlichen
Vernunft, sondern (künstliches) Menschenwerk
[...] Die Gesellschaft ist daher nicht Ausgangs-,
sondern Endpunkt von Verträgen [...] Die res
publica ist nicht mehr wie für die antiken und
mittelalterlichen Philosophen das Ziel menschlicher
Gemeinschaftsbildung, ihr Zweck nicht mehr die tugendhaft-gerechte
Lebensführung, vielmehr bestimmt sich der neuzeitliche
Staat darüber, reines Mittel und Instrument zu
sein: Er soll das Leben, Überleben und Besser-Leben
sichern, steht aber selbst nicht mehr unter einer
ihm vorgegebenen oder äußerlichen Normativität
(vgl. Sonntag 1999, S. 154ff.; Foucault 2000).“ |
Das
zweite Zitat widerspricht dem ersten insofern, als der Mensch
in der Gesellschaft nun doch nicht zum ethischen Wesen (im
Sinne des Strebens nach dem Gemeinnützigen) diszipliniert
wird, sondern ganz im Gegenteil der Naturzustand in den
Gesellschaftszustand eingeführt wird, sodass der einzelne
Mensch in der Gesellschaft nach seinem eigenen Vorteil suchen
soll, weil das der Gesellschaft nütze, während
es im vorigen Zitat noch geheißen hatte, dass es im
Naturzustand „nur ungesellige, miteinander konkurrierende
und voneinander isolierte Einzelne“ gebe. Vielleicht
ist es ja auch der Gesellschaftszustand, der in Wirklichkeit
der Naturzustand ist, und die Konkurrenz der Individuen
ist nicht etwas, das sie voneinander isoliert, sondern das
in Wirklichkeit den Modus ihrer Vergesellschaftung ausmacht?
BEDEUTUNG
DES EIGENINTERESSES IN DER MODERNEN GESELLSCHAFT
S.
68 „Die historische Bedeutung der Idee des Interesses
besteht darin, dass sie ein neues Paradigma gesellschaftlicher
Ordnung bereitstellt, das auf einer Umkehrung der
traditionellen moralisch-religiösen Imperative
beruht: Die Verfolgung des individuellen Nutzens erscheint
hier als eine notwendige Bedingung politischer Stabilität
und ökonomischen Reichtums, wobei aus bislang
verwerflichen Charaktereigenschaften wie Habgier und
Erwerbssucht, Profitstreben und Zinsnahme sozial anerkannte
Handlungsweisen werden. Diese „politische Begründung
des Kapitalismus vor seinem Sieg“ (so der Untertitel
von Hirschmann 1987) hat ihre materielle Voraussetzung
zum einen in einer diskursiven Verschiebung, durch
die traditionale Vergemeinschaftungsformen zunehmend
im Hinblick auf ihre „Produktivität“
und „Funktionalität“ kritisch untersucht
und die Subjekte insofern „individualisiert“
werden, als sie nur noch als partial in Verbände
inkludiert gelten. Bedeutsam war zum anderen eine
bereits im 16. Jh. einsetzende ökonomische Praxis,
welche ständisch-zünftlerische Vorstellungen
von „Ehre und Nahrung“ und „gerechtem
Preis“ zunehmend verblassen ließ. Bis
in die frühe Neuzeit hinein diente die Orientierung
an der Idee des „gemeinen Nutzens“ ebenso
als Zeichen gerechter Herrschaft wie als Richtschnur
des moralischen Handelns der Einzelnen.“
S. 69 „Schon im 16. Jh. taucht allerdings das
ökonomisch definierte „Interesse“
als Gegenspieler zu dem normativen Konzept des „gemeinen
Nutzens“ auf, etwa in den Schriften des Ulmer
Kaufmanns Leonhard Fronsperger. In dessen Von dem
Lob des Eigen Nutzens aus dem Jahr 1564 – also
lange vor Bernhard Mandevilles Bienenfabel (1724)
und Adam Smiths Vom Wohlstand der Nationen (1776)
– findet sich die Vorstellung einer gesellschaftlichen
Harmonie, die auf individuellen Nutzenkalkülen
beruht und sich über ein ökonomisches System
gegenseitiger Abhängigkeiten und Bedürfnisbefriedigungen
herstellt.“ |
Doch
diese Frage interessiert mich nicht als einzelne, sondern
im Zusammenhang mit dem zuvor festgehaltenen Zerfall der
ursprünglichen antiken und mittelalterlichen Ordnungsvorstellung.
In dieser ursprünglichen Ordnungsvorstellung gab es
nur ein Gutes, und dieses wurde zugleich als das sittliche,
moralische, ethische, soziale, ökonomische und politische
Gute vorgestellt. In der Neuzeit – und in Konsequenz
bis heute – zerfällt diese Einheit des Guten,
und das ökonomisch Gute kann auch das ethisch Schlechte
sein oder das wissenschaftlich Richtige das politisch Falsche.
Gerade weil das so ist, hat sich ja das herausgebildet,
was Niklas Luhmann, die funktional differenzierte moderne
Gesellschaft nannte, in welcher es ein Wissenschaftssystem
gibt, das sich um die Frage des Wahren und des Nichtwahren
kümmert, ein Wirtschaftssystem, das sich um die Frage
Kaufen oder nicht Kaufen kümmert usw. Und ein jedes
dieser gesellschaftlichen Subsysteme (Gesundheitssystem,
Medien, Erziehungssystem usw.) hat auf seinem Gebiet die
besten Antworten auf die gesellschaftlichen Fragen. (Das
bedeutet unter anderem auch: Wenn die Wissenschaft (in Gestalt
der Betriebswirtschaft) bessere Antworten auf Fragen des
wirtschaftlichen Lebens hätte als die Wirtschaft, dann
hätte das Wissenschaftssystem das Wirtschaftssystem
bereits übernommen, und es würde nicht länger
als eigenständiges gesellschaftliches Subsystem weiterexistieren.)
Es bedeutet aber nicht, dass sich nicht ein Subsystem der
Inhalte und des Prestiges eines anderen Subsystems bedienen
könnte. Am häufigsten bedient man sich wahrscheinlich
des Subsystems Wissenschaft: Vom Erziehungssystem über
das Gesundheitssystem, die Medien bis hin zum Rechtssystem
– alles verwendet offen wissenschaftliche Methoden
und Inhalte. So kann es etwa vorkommen, wie im folgenden
Zitat, dass das Wirtschaftssystem (das eigentlich nach wirtschaftlichen
Gesichtspunkten funktionieren sollte) hergeht und die Arbeitsbedingungen
von Individuen mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung
rechtfertigt. Das ist eigentlich ein Widerspruch in sich,
denn wenn die Wissenschaft besser wirtschaften könnte
als die Wirtschaft, dann gäbe es keine (separate) Wirtschaft.
Dennoch wird das immer wieder so gemacht, und zwar zumeist
deshalb, weil die Bezugnahme auf die Wissenschaft die Überzeugungskraft
von Argumenten in der politischen Öffentlichkeit stark
steigert. Zudem gilt die Wissenschaft (im Gegensatz zur
Wirtschaft) zudem als neutral, wodurch sich dasjenige, was
für die Wirtschaft das Beste ist (das Profitabelste)
ganz wertfrei als dasjenige verkaufen lässt, was sowohl
für die arbeitenden Menschen wie auch für die
Gesellschaft als Ganze das Beste ist.
Im
dritten Zitat findet sich nun also so ein Beispiel dafür,
wie die Wissenschaft in die Ökonomie eingreift bzw.
sich die Ökonomie der Wissenschaft zur Rechtfertigung
ihrer Praktiken bedient hat.
WISSENSCHAFT
GREIFT IN ÖKONOMIE UND ARBEITSLEBEN EIN
S.
210-211 „Frederick Winslow Taylor, ein US-amerikanischer
Ingenieur, war einer der Begründer der modernen
Arbeitswissenschaft. In seinem wichtigsten Buch Die
Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung,
das im Jahre 1911 erstmals erschien und bereits 1913
in die deutsche Sprache übersetzt wurde, geht
er von der Vorstellung aus, das sich alle Arbeitsprozesse
mit Hilfe wissenschaftlicher [S. 211] Verfahren bis
in ihre kleinsten Einheiten so zerlegen und in ihrem
Bewegungsablauf analysieren und rekonstruieren lassen,
dass das technische und arbeitsökonomische Optimum
erreicht wird. Um dieses ehrgeizige Ziel zu erreichen,
ist Taylor zufolge ein Paradigmenwechsel notwendig,
wobei persönliche Erfahrungen und Interaktionen
von einer unpersönlichen Organisation abgelöst
werden: „Bisher stand die Persönlichkeit
an erster Stelle, in Zukunft wird die Organisation
und das System an erste Stelle treten“ (Taylor
1922/1911, S. 4). Aus diesem Primat der Organisation
leitet Taylor vier zentrale Grundsätze ab:
„Erstens: Die Leiter entwickeln ein System,
eine Wissenschaft für jedes einzelne Arbeitselement,
die an die Stelle der alten Faustregel-Methode tritt.
Zweitens: Aufgrund eines wissenschaftlichen Studiums
wählen sie die passendsten Leute aus, schulen
sie, lehren sie und bilden sie weiter, anstatt, wie
früher, den Arbeitern selbst die Wahl ihrer Tätigkeit
und ihre Weiterbildung zu überlassen.
Drittens: Sie arbeiten in herzlichem Einvernehmen
mit den Arbeitern; so können sie sicher sein,
daß alle Arbeit nach den Grundsätzen der
Wissenschaft, die sie aufgebaut haben, geschieht.
Viertens: Arbeit und Verantwortung verteilen sich
fast gleichmäßig auf Leitung und Arbeiter.
Die Leitung nimmt alle Arbeit, für die sie sich
besser eignet als der Arbeiter, auf ihre Schulter,
während bisher fast die ganze Arbeit und der
größte Teil der Verantwortung auf die Arbeiter
abgewälzt wurde“ (Taylor 1922/1911, S.
38f.)“ |
Was
kann ich mich nun angesichts dieser Zitate fragen? Ich stelle
mir Fragen angesichts dessen, dass es heute z.B. im medizinischen
Bereich oder auch im Unternehmensbereich (als CSR –
Corporate Social Responsibility) so etwas wie Ethikkommissionen
oder ethische Standards gibt, die über ethisch/moralisches
richtiges Handeln entscheiden.
Das
Erste, was auffällt, ist, dass das auf der Basis der
heutigen „funktional differenzierten Gesellschaft“
ja eigentlich gar nicht möglich sein dürfte, weil
diese eben darin besteht, dass es gesellschaftliche Subsysteme
gibt, die jeweils mit ihrer Konzeption der richtigen Handlungsweise
oder Maßnahme für bestimmte Situationen miteinander
konkurrieren. Und diese Mehrzahl an Subsystemen gibt es
eben deshalb, weil uns die einheitliche Konzeption vom moralisch-politisch-sozialen-ökonomischen-wissenschaftlichen
Guten aus der Antike und dem Mittelalter zerfallen ist.
Anders gesagt, das ethisch Erlaubte oder Richtige ins wissenschaftlich
Wahre einzuführen, ist eigentlich ein Fehler, es ist
ein Kategorienfehler, weil aus der Sicht der Wissenschaft
die wissenschaftliche Antwort auf eine Frage besser sein
muss als die ethische bzw. auch die ethische, wenn sie in
der Wissenschaft anerkannt werden soll, wiederum wissenschaftlich
begründet werden müsste.
Man
könnte sich überhaupt die Frage stellen, inwieweit
eine Vorstellung wie die vom ethisch/moralisch Guten noch
einen Inhalt behalten kann in einer Welt, in der es das
wissenschaftlich Richtige, das ökonomisch Richtige,
das rechtlich Richtige usw. gibt? Denn das ethisch Gute
bezog seinen Inhalt und Gehalt ja daraus, das die Welt eins
war und noch nicht in Teilbereiche zerfallen so wie heute,
dass also alles Handeln sich nicht unter die Imperative
von Wissenschaft, Ökonomie, Recht usw. als Einzelbereiche
fügen musste, weil es noch, wie es oben hieß,
„unter einer ihm vorgegebenen oder äußerlichen
Normativität“ stand. Das war die Normativität
der gottgewollten Schöpfungsordnung, die das Gute zusammenhielt
und verhinderte, dass sich beispielsweise ein ökonomisch
Nützliches selbstständig machen kann, welches
zwar u.U. zweifelsfrei ökonomisch nützlich ist,
bei Licht besehen aber weitem nicht mehr „gut“
(was immer das heute noch heißen mag). (Wieso sollte
es etwa ökonomisch nicht nützlich sein, wenn Menschen
hungern, gesetzt der Fall, dass das ökonomisch Nützliche
nicht mehr länger den gesamten Gehalt dessen repräsentieren
muss, was früher das „Gute“ repräsentierte?
Im Fall der Wissenschaft ist es noch offensichtlicher: Ihre
Erkenntnisse müssen wahr sein – dass sie auch
gut sind, hofft man, aber der Begriff des wissenschaftlich
Wahren umfasst an und für sich nicht länger den
des Guten.)
Die
zweite Frage, die mir einfällt, angesichts dessen,
dass es Ethikkommissionen gibt und ethische Prüfungen
von Vorhaben in Organisationen, ist: Ob es diese nicht gerade
deshalb gibt, weil man heute den Menschen als Individuum
für an sich böse hält? Diese Frage blitzte
so dunkel in mir auf, als ein Kollege von mir sagte: „Das
können wir schon machen, das muss halt vorher durch
die „Ethik“...“ – und ich fragte
mich, ob heute vielleicht deshalb alles durch die „Ethik“
muss, weil man heute automatisch von der neuzeitlichen,
Hobbesschen Vorannahme ausgeht, dass der Mensch alles zu
seinem eigenen Vorteil unternimmt, weswegen die Ethikkommission
dann der Frage nachgeht, ob das intendierte Vorhaben auch
niemandem schadet und zudem auch irgendwelche Aspekte der
Gemeinnützigkeit erfüllt? – Auch das wäre
eigentlich ein Widerspruch in sich: die Suche nach Gemeinnützigkeit
in einer Welt, die auf individuellem Eigennutz beruht, genauer:
in einer Welt, die erkannt hat, dass es der Gesellschaft
als Ganzem am besten nützt, wenn alle Individuen ihren
persönlichen Vorteil suchen?! Wenn es so ist, dass
das Egoistische der Gesellschaft mehr nützt, dann kann
ihr das Ethische (im Sinne von Solidarität mit dem
anderen Menschen) doch nur schaden? Ganz in dem Sinne: Wenn
ich jemandem Fische gebe, wird er verlernen zu fischen;
wenn ich jemandem helfe, wird er verlernen, sich selbst
zu helfen.
Ich
würde vermuten, dass die Tatsache, dass wir heute in
einer funktional differenzierten Gesellschaft leben, ausreichend
Ausdruck der Tatsache ist, dass wir NICHT länger in
einer ethischen Gesellschaft leben, denn das Wissenschaftliche
weiß das Richtige besser als das Ethische, das Ökonomische
weiß das Richtige besser als das Ethische usw. Man
muss sich also die Frage stellen, was das Ethische, das
ja heute in der Gesellschaft sowie in den einzelnen Organisationen
wieder sehr präsent ist, da für eine Funktion
eigentlich hat? Ja, was macht es da überhaupt immer
noch? Wir wissen freilich, wie es da hineingekommen ist
– es wurde von der Öffentlichkeit und der Politik,
der manche Praktiken in den einzelnen Subsystemen oder Organisationen
zuviel geworden waren, da hineinreklamiert – und von
den einzelnen Organisationen wurde es brav implementiert.
Der einzige Widerspruch, über den man nachdenken könnte,
besteht also darin, dass das Ethische ja trotzdem das wissenschaftlich
Richtige oder das ökonomisch Richtige (usw.) nicht
aufhebt. Weiterhin wollen wir also nach schulmedizinischen
Grundsätzen geheilt werden und nach ökonomischen
bewirtschaftet – und nicht nach ethischen. Und sicherlich
ist das Verhältnis von wissenschaftlich Richtigem zu
ethisch Gutem auch nicht so, dass man ja nicht alles von
dem, was wissenschaftlich möglich wäre, auch realisieren
(ethisch gestatten) müsse, wie das immer wieder so
heißt. Denn das wissenschaftlich Richtige, ökonomisch
Richtige (usw.) beinhaltet ja seine eigenen Normen für
dasjenige, was gemacht werden sollte – und diese Normen
sind zuwenigst im jeweiligen gesellschaftlichen Subsystem
selbst fundiert, während nicht klar ist, worin ethische
Normen und Entscheidungen eigentlich begründet sind?
Also
noch einmal: Unsere heutige Gesellschaft basiert irgendwie
darauf, dass wir das Ethische aufgegeben haben, weil wir
gesagt haben, das wissenschaftlich Wahre, das ökonomisch
Nützliche, das juristisch Rechte sind besser als das
ethisch Gute; die Fachkompetenzen von Wissenschaft, Ökonomie,
Recht usw. sind besser und zielführender als die Vorstellung
von einem ethisch Guten (welches dann vielleicht nicht funktioniert,
sobald man versucht, es anzuwenden).
Und
unsere Gesellschaft basiert darauf, dass wir die Ansicht
angenommen haben, dass alle Menschen böse und egoistisch
sind (und dass das der Gesellschaft nicht schadet, wenn
man sie so organisiert, dass die Verfolgung von egoistischen
Interessen allgemeinen Wohlstand hervorbringt). Wie kann
man also von diesem Ausgangspunkt ausgehend auf die Idee
kommen, von heutigen Menschen zu verlangen, sich ethisch
oder moralisch zu verhalten?
Im ersten
Fall schadet man dem jeweiligen Subsystem, wenn man sich
ethisch verhält und aber weiß, nach wissenschaftlichen
Maßgaben, ökonomischen Maßgaben etc. wäre
eine andere Handlungsweise besser. Im zweiten Fall schadet
man der Gesellschaft, wenn man weiß, dass egoistisches
Verhalten zu allgemeinem Wohlstand führt – folglich
kann altruistisches Verhalten dem allgemeinen Wohlstand
nur schaden.
Insgesamt:
Es scheint, dass man, indem man das Ethische heute derart
pusht, einer Einheit (des Guten, Wahren, Richtigen, Nützlichen)
nachtrauert, die, nein, ich sage jetzt nicht, dass sie lang
schon vergangen und verloren ist, sondern: von der wir uns
bewusst abgewandt haben – und eigentlich sehen wir
ja auch alle Überlegenheit unseres heutigen Zeitalters
darin begründet, dass wir sie hinter uns gelassen haben.
Beziehungsweise
umgekehrt: dass wir, wenn wir dem Ethischen wirklich wieder
Relevanz zukommen lassen wollten, die funktionale Differenzierung
unserer Gesellschaft in Frage stellen müssten und mit
ihr auch alle Spezialkompetenzen der einzelnen Subsysteme
und Fachbereiche. Dann wäre also auch das wissenschaftlich
Wahre nicht länger unhinterfragbar, obwohl es wissenschaftlich
wahr ist, und das ökonomisch Nützliche müsste
sich peinliche Fragen gefallen lassen, obwohl es ökonomisch
gesehen zweifellos das Nützlichste wäre. - Aber:
Wäre unsere Gesellschaft zu einem solchen Sichtwechsel
(der viele Leute ihrer gesellschaftlich abgesicherten Autorität
berauben würde) bereit?
17.
Okt. 2009
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