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Dissertation: Bezugspunkt Gesellschaft

Wag the dog - oder: Warum der Schwanz nicht mit dem Hund wedelt

Ein programmatischer philosophischer Entwurf, in dem es um meine zentralen philosophischen Themen geht.

 

Einem sensiblen und aufmerksamen Menschen fallen folgende Ungereimtheiten in der sozialen Wirklichkeit auf, welche ein gemeinsames Muster aufzuweisen scheinen, sodass er sich schließlich fragt: Warum verwandeln sich eigentlich einzelne Ideen immer wieder in ihr Gegenteil, wenn sie institutionalisiert und in die gesellschaftliche Wirklichkeit integriert werden? Hier einige Beispiele:

Die ETHIK – war ursprünglich eine Disziplin, in welcher der einzelne Mensch darüber nachdenkt, wie er leben will und was er tun soll, damit er dieses von ihm erstrebte Leben erreicht. Soziale Organisationen interessieren sich jedoch sehr wenig dafür, was (einzelne) Menschen wollen; viel mehr schon interessiert sie, welche Verhaltensweisen sie an den Tag legen sollen. So wurde aus der Wollens- eine Sollensethik – und die Ethik damit in ihr Gegenteil transformiert.

Die PHILOSOPHIE – war ursprünglich eine Disziplin, in welcher Einzelmenschen bestehende Traditionen und traditionelle Überzeugungen hinterfragten, um sie durch rationale Überlegung zu prüfen. (Sokrates pflegte seine Gesprächspartner aufzumuntern, mit ihm gemeinsam ein Thema zu durchdenken und zu einem Urteil über es zu kommen.) Soziale Organisationen haben jedoch wenig Interesse daran, dass individuelles Denken geschieht; daher wurde Philosophie als universitäres Fach unter anderen etabliert, welches von Philosophieprofessoren vertreten wird, die für und anstatt der übrigen Menschen denken. Aus der Philosophie als individuellem Denken, welches Traditionen und allgemeine Überzeugungen hinterfragt wurde also ein Denken von Fachrepräsentanten, welches allgemeine – und durch individuelles Denken schon nicht mehr hinterfragte – Überzeugungen und Traditionen schafft. Die Philosophie wurde somit so sehr in ihr Gegenteil verkehrt, dass wir gegenwärtig in ein Stadium zurückgeworfen sind wie vor der Entstehung der Philosophie.

Die WISSENSCHAFT – sollte und soll (der Idee nach immer noch) dazu dienen, die Fragen aller Menschen zu beantworten und ihre Wissensinteressen zu stillen. Soziale Organisationen können jedoch so etwas wie individuelle menschliche Wissensbedürfnisse nicht einmal wahrnehmen, geschweige denn wertschätzen. Daher wurde die Wissenschaft in eine Art großen Schrank transformiert mit zehntausenden oder sogar Millionen Schubladen, welche Forschungsfelder heißen. Diese, so will es die Funktionslogik dieses Systems, sollen aufgefüllt werden. Dieses Bestreben ist aus der Sicht des Einzelmenschen nicht sinnvoll, weil er dadurch keine Beantwortung seiner Wissensfragen erreicht, sondern sich anstatt dessen mit Themen aufhält, die ihn gar nicht interessieren – es ist jedoch auch Sicht des Sozialsystems Wissenschaft sinnvoll, das auf diese Weise seine Operationen regelt. Im Resultat sieht sich der in der Wissenschaft tätige Mensch gezwungen, sich mit Themen zu beschäftigen, die ihn von seinen wahren Fragen ablenken, und der Nichtwissenschaftler ist mit einer wissenschaftlichen Sprache und Darstellungsweise konfrontiert, welche hermetisch ist, weil sie auf das Sozialsystem Wissenschaft zentriert ist und nicht für ihn als Endkonsumenten geschaffen wurde, und sieht sich vom wissenschaftlichen Wissen ausgeschlossen. – Auf diese Weise wurde die Wissenschaft in ihr Gegenteil transformiert.

Die THEORIE – (als kleine Randbemerkung) kommt ursprünglich von „theorein“ und bedeutet so etwas wie „schauen“. Die „Theoretiker“ waren Menschen, die Feste in anderen griechischen Städten besuchten, um zu schauen und dann davon zu berichten. Mit anderen Worten, Theorie meinte ursprünglich so etwas wie „über den eigenen Tellerrand schauen“ oder „über den Zaun schauen“, um zu erfahren, ob sich Erkenntnis nicht abseits der eigenen, ausgetretenen Wege findet. Heute meint man mit „Theorie“ in der Wissenschaft so etwas wie ein ganzes Theoriegebäude von Vorannahmen, welche die forschende Wahrnehmung orientieren. Eine „Theorie zu haben“ oder „einer Theorie zu folgen“ bedeutet in der Folge, gerade nicht mehr über die Grenzen dieses Theoriegebäudes hinaus zu denken – mit einem Wort, genau das Gegenteil von dem, was Theorie ursprünglich bedeuten sollte. (Anmerkung: Es sollte mich nicht wundern, wenn man beim Wort „Methode“ eine vergleichbare Bedeutungsverkehrung nachweisen könnte.)

Die AUFKLÄRUNG – bedeutete ursprünglich den „Ausgang des Menschen aus der eigenen selbstverschuldeten Unmündigkeit“ nach der Kantschen Formulierung. Kant hielt in dem entsprechenden Aufsatz auch schon fest, worin die menschliche Unmündigkeit besteht: Wenn man nämlich ein Buch habe, das für einen wisse oder einen Arzt, der für einen die Diät beurteile, dann sei man unmündig. Diese Version der Aufklärung als Erlangung der Autonomie durch den Einzelmenschen wurde später umgedeutet als Selbstbefreiung der Wissenschaft vom Joch der Religion, und zwar geschah diese Umdeutung, weil soziale Organisationen im autonomen Denken des Einzelnen keinen Wert sehen können (und den Wert der Aufklärung deshalb in etwas anderem suchen mussten). Heute haben wir Bücher, die für uns wissen, Ärzte, die für uns unsere Diät bestimmen und überhaupt Wissenschaftler, die agieren wie Priester, indem sie uns die Wahrheit von einem höheren, für uns unerreichbaren Standpunkt aus verkünden und uns auf diese Weise in unserer Unmündigkeit erhalten – und so wurde die Aufklärung in ihr Gegenteil verkehrt.

Die PHÄNOMENOLOGIE -, welcher der Initialgedanke innewohnte, auf etwas schon Gesehenes doch noch einmal zurückzublicken und sich dabei zu fragen: „Was sehe ich wirklich, wenn ich diese Sache betrachte?“ Auf dieser Basis lassen sich in der Folge Beschreibungen anfertigen, die auf der (individuellen) Wahrnehmung basieren und die oft verwandt sind mit jenen der (fiktionalen) Literatur, welche ja ebenfalls immer auf der Suche nach den besten Blickwinkeln zur Beschreibung von Phänomenen ist. Es ist einleuchtend, dass die Phänomenologie auf ihrem Weg, eine Wissenschaft, also eine „–logie“ zu werden, diese ursprüngliche Idee verloren hat, denn Wissenschaften können es nicht ertragen, auf individueller Wahrnehmung zu basieren.

Die UNIVERSITÄT – war gewiss von Anfang an eine soziale Organisation, doch hat auch die Idee der Universität ein ziemlich starkes Eigenleben: Als Idee bedeutet Universität so etwas wie einen geistigen Freiraum, die Gemeinschaft von Forschung und Lehre, welche das geistige Erwachen und Selbstständigwerden junger Menschen befördert. Soziale Organisationen können jedoch in geistiger Freiheit und geistiger Selbstständigkeit keine erstrebenswerten Ziele erkennen, deshalb wurden die Universitäten in ein zusätzliches Element der Ausbildung für den Arbeitsmarkt umfunktioniert. – So haben die traditionellen Universitäten aufgehört, Universitäten zu sein. Kurioserweise ist man kürzlich auf dieses Manko der gegenwärtigen Universitäten aufmerksam geworden und versucht nun, in Eliteuniversitäten und Exzellenzclustern Räume geistiger Freiheit zu schaffen und zwar deshalb, weil man draufgekommen ist, dass diese der Spitzenforschung dienlich ist. Auch hier zeigt sich aber wieder, dass geistige Freiheit nicht als Wert an sich erkannt wird, sondern bloß eines anderen Zieles wegen angestrebt wird.

Ich habe in meinen philosophischen Arbeiten immer wieder diese Phänomene und solche ähnlicher Art beschrieben und ihre inneren Widersprüche herausgearbeitet, ohne dabei auf einen grünen Zweig zu kommen. (Ja, ich wusste nicht einmal, warum ich diese Themen ausgewählt hatte.) Jetzt ist es an der Zeit, einen neuen Antwortvorschlag zu versuchen, warum sich alle diese Ideen im Prozess gesellschaftlicher Institutionalisierung von ihrer Ursprungsidee entfernen und sich oft gar in deren Gegenteil verwandeln. Ich habe dafür folgenden Grund gefunden:

Ich scheine bei der Reflexion über diese Phänomene immer wieder den selben Fehler gemacht zu haben, indem ich davon ausging, dass die Gesellschaft auf Kommunikation, das ist auf dem Bestreben nach Verständigung beruht. Wenn man von dieser Grundannahme ausgeht, dann kommt man eben genau zu solchen Realitätsbeschreibungen wie den oben angeführten: Man findet in der sozialen Realität Ideen vor (Ethik, Philosophie, Wissenschaft etc.); man betrachtet ihre reale institutionelle Umsetzung und fragt: „Wo ist die ursprüngliche Idee geblieben?“ Ersetzt findet man sie in den komplexen sozialen Institutionen und Organisationen durch Elemente des Zwangs (also z.B. in der Wissenschaft durch den Begriff des wissenschaftlichen Arbeitens, welcher es erlaubt, Individuen, die sich nicht ausreichend daran halten, aus der wissenschaftlichen Diskussion auszuschließen). Der nachdenkende Mensch könnte aus all dem schließen, dass hier überall der Schwanz mit dem Hund wedelt: Aus den ursprünglichen Ideen sind Institutionen und Organisationen geworden, die nun eine Realisierung der Idee von der Art durchführen, wie sie der ursprünglichen Idee gänzlich widerspricht. Das heißt, solange man auf der Grundlage der Annahme bleibt, dass die Gesellschaft auf Verständigung beruht, scheint es, als ob überall in der Realität der Schwanz mit dem Hund wedelt.

Versuchen wir jedoch mal folgendes „Theoriedesign“: Die Gesellschaft beruht auf Gewalt, auf roher, körperlicher Gewalt. Auf einer ursprünglichen Ebene der rohen körperlichen Gewalt bauen sich weitere Ebenen auf, die sich zwar explizit gegen die körperliche Gewalt wenden, aber selbst wiederum Formen der Gewalt darstellen, wenn auch in einer verfeinerten und verschobenen Form, die ich „Macht“ nenne. Da ist zuerst der Staat mit seinem Militär und seiner Polizei, welcher Gewalt monopolisiert – das „staatliche Gewaltmonopol“ bedeutet, dass niemand außer dem Staat rechtlich Gewalt ausüben darf. Auf die Organisationsebene des Staates lässt sich nun wiederum ein Rechtssystem aufbauen und dieses ermöglicht die Entstehung einer florierenden Wirtschaft. Meine Darstellung ist ein anti-Foucaultisch in dem Sinne, indem ich daran erinnere, dass Macht immer auf Gewalt aufbaut, ja im Grunde immer selbst Gewalt ist: Es gibt also im Grunde keine Macht („Macht“ ist ein verharmlosendes Wort!), es gibt bloß Schläge, die nicht unmittelbar körperliche Verletzungen sehen lassen. Auch die Wirtschaft ist nichts anderes als Macht- (unmittelbar) und Gewaltausübung (mittelbar), des Menschen über den Menschen mittels Zahlen und quantifizierbarer Größen. Das erkenne ich freilich nicht, wenn ich meinen Lebensmitteleinkauf im Supermarkt erledige, sondern bin dort sogar noch durch die Freiheit meiner Kaufentscheidung und die scheinbare Gerechtigkeit der Marktpreise getäuscht. So meine ich im Supermarkt wie in jedem anderen Geschäft, meine individuelle Freiheit auszuüben, und die Marktpreise, die von allen Konsumenten akzeptiert werden, erwecken in mir den Eindruck, dass alles mit rechten Dingen zugehe. Aber Macht ist ja nichts anderes als (über oft unübersichtlich viele Stationen) verschobene rohe körperliche Gewalt – und in dieser Verschiebung besteht ihr eigentlicher Sinn. Wenn ich mich also im Supermarkt aufhalte, dann sehe ich nicht, wie die Handelsorganisation der Supermarktkette die Preise der Zulieferer drückt, wie die Zulieferer ihre Kosten senken, indem sie eine bestimmte Anzahl von Mitarbeitern kündigen, wie bei einem dieser Mitarbeiter diese Kündigung dramatische Konsequenzen annimmt, weil er schon Schulden hatte –und wie diese Kette von Maßnahmen, die alle jeweils auf der relativen Größe von Macht beruhen (die Handelskette ist mächtiger als die Zulieferer, die Zulieferer sind mächtiger als ihre Mitarbeiter), an einem Endpunkt zur rohen körperlichen Gewalt der Delogierung dieses einen verschuldeten Arbeitslosen führt.

Das gesamte Bauwerk der Gesellschaft funktioniert also nach den Regeln der Gewalt (oder ihrer verfeinerten Form, der Macht); man nennt das auch „das Gesetz des Stärkeren“. Der Ausdruck „das Gesetz des Stärkeren“ ist nur irreführend, weil er zuerst an stärkere und schwächere Menschen denken lässt, wir befinden uns jedoch heute in einem Zeitalter der Institutionen, in welchem vor allem Institutionen und Organisationen stärker sind als Individuen. Aber auch solche Institutionen wie „Ehe“ und „Familie“, die Arnold Gehlen als menschliche Grundbedürfnisse ansah, will ich hier nicht aussparen und sagen, dass ich glaube, dass auch die Geschlechterbeziehungen auf persönlicher Ebene weitgehend auf dem Element der Macht (und damit der Gewalt) beruhen, indem die Frauen das „Prinzip der aktiven weiblichen Partnerwahl“, von dem die Anthropologen sprechen, auf dem Heiratsmarkt gezielt anwenden, um ihre soziale Stellung zu verbessern – und dazu im heutigen Zeitalter der Gleichberechtigung in der Regel auch alle Mittel haben. Diese Bemerkung ist vor allem dazu gedacht, um Vorsicht einzumahnen, wenn wir geneigt sind, das körperlich schwächere Geschlecht oder unsere intimen, auf Zärtlichkeit und Liebe beruhenden, Beziehungen aus dem Bereich der Gewalt auszunehmen. Auch ein schwächerer Mensch kann Macht haben, wenn er einen starken Beschützer hat, und ob in der Liebe Platz für Verständigung ist, ist sehr zweifelhaft, weil es in Liebesangelegenheiten gewöhnlich um sehr handfeste Themen, wie die Gründung eines Hausstands und die Versorgung von Nachwuchs, geht.

Verständigung hat in dieser Gesellschaftskonzeption erst ganz oben Platz, dort, wo die höchsten Freiheitsgrade herrschen, wo von unmittelbaren Lebenssorgen freie Menschen einander in ihrer freien Zeit gegenübersitzen und einander zudem gerade nicht als Mittel zur Erreichung eines beruflichen oder wirtschaftlichen Ziels gebrauchen wollen. Verständigung findet man also bestenfalls ganz oben auf dem Gesellschaftskuchen, gleichsam als seinen Zuckerguss – und vielleicht findet man sie überhaupt nur in einer Tätigkeit, die ganz wesentlich in Verständigung beruht, nämlich im Philosophieren. Jedoch ist die Vorstellung von der Verständigung eine Art starker Droge, welche die Illusion entstehen lässt, das gesamte Gesellschaftsgebäude sei auf Verständigung aufgebaut. Mir scheint, das ist jene Illusion, der Jürgen Habermas zum Opfer gefallen ist und worauf er seine gesamte Philosophie des kommunikativen Handelns aufgebaut hat. Aber auch ich bin der Philosophie gewiss wegen meiner Leidenschaft für die Verständigung zum Opfer gefallen, und diese hat mich dazu bewegt, die Welt in der oben beschriebenen Weise falsch herum zu sehen – nämlich so, als ob die gesellschaftlichen Realisierungen von Ethik, Philosophie, Wissenschaft usw. zumindest (fehlgeschlagene) Versuche wären, diesen Ideen in irgendeiner Weise gerecht zu werden.

Gibt man jedoch die Idee der Verständigung auf, so lösen sich all die beschriebenen Widersprüche auf und der Schwanz wackelt nicht weiter mit dem Hund: Man sieht dann einfach einige Ideen vor sich, die ursprünglich für den Bereich der Verständigung erfunden worden sind, in denen dann aber ganz selbstverständlicher Weise die Logik der Macht und die Mechanik der Gewalt zu greifen begannen, als diese Ideen durch ihre Institutionalisierung Aufnahme in den Bereich des Gesellschaftlichen fanden. (Ob man sich in einem Bereich der Verständigung oder in einem solchen der Gewalt befindet, ist nicht schwer herauszufinden: Bemerkt man, dass die Adressaten der eigenen Botschaft wirklich herauszufinden versuchen, was man mit ihr meint, befindet man sich eindeutig im Bereich der Verständigung; stürzen sie sich hingegen bloß auf das Gesagte, um es so, wie sie es verstehen, aufzufassen und durchaus auch gegen einen zu verwenden, dann befindet man sich im Bereich der Gewalt.)

Aber warum ist es eigentlich so schwer zu erkennen, dass die gesamte Gesellschaft noch im Bereich der Gewalt liegt und nicht im Bereich der Verständigung? Der Hauptgrund liegt in der Weise, wie die Gesellschaft für sich selber spricht: Sie verhält sich in ihren Verlautbarungen über sich selber nämlich wie eine gut geölte PR-Maschine, welche behauptet, dass sie mit allem, was sie tut, nur das Beste für alle Menschen im Sinne hat und dass sie jederzeit ein offenes Ohr für die Anliegen aller ihrer Mitglieder hat. Dass dem nicht so ist, bemerkt schon ein Staatsbürger einer Demokratie, wenn er alle vier Jahre wählen geht. Dann gibt es noch einen zweiten wichtigen Grund, warum sich diese Erkenntnis nicht so einfach auf sich nehmen lässt, und das ist der, dass sie dem Selbstverständnis der meisten Menschen widerspricht, die es vorziehen, sich in einer Gemeinschaft mit verständnisvollen und hilfsbereiten Menschen zu sehen denn in einer solchen von machtgierigen, gewalttätigen Unwesen. In diesem Zusammenhang möchte ich aber darauf hinweisen, dass gerade solche Menschen, die sich selbst mit Vorliebe in einer Gemeinschaft von hilfsbereiten Mitmenschen sehen wollen, oft gleichzeitig zu einer Reserve bezüglich dieser Weltsicht und zu einer gleichzeitigen Einsicht in die Bedeutung von Machtmechanismen und die Wichtigkeit, eine berufliche Machtposition in der Gesellschaft innezuhaben, fähig sind, zu der ich als einfache Seele nicht in der Lage bin, und die ihre Überzeugung von der Mitmenschlichkeit der Mitmenschen Lügen straft. Solche Menschen sind schwer zu begreifen, denn sie leben zur Hälfte in einer menschlichen Menschenwelt und zur Hälfte in einer unmenschlichen Menschenwelt, ohne sich entscheiden zu müssen, ob sie dem Menschen Vertrauen entgegenbringen oder ob sie es ihm versagen. Eine derartige lebensfördernde Inkonsequenz ist Ekel erregend, man kann sie nicht verstehen, sondern nur verwundert bestaunen – sie zeigt aber, dass selbst viele Menschen, die tun, als ob sie unter Menschen lebten, ihr Leben in Wirklichkeit eingerichtet haben, als ob sie unter Monstern lebten.

Was folgt nun aus meiner Einsicht in die Gewaltbasiertheit der gesellschaftlichen Institutionen? Zuerst einmal muss man sich von der Überzeugung freimachen, wir seien die Gesellschaft. Die Gesellschaft, das sind nicht wir, sondern das sind unmenschliche Institutionen und Organisationen, welche sich gleichsam durch Ablagerungen gegen uns und gegen unsere Interessen gebildet und verfestigt haben. Des Weiteren muss man von der Ansicht Abstand nehmen, dass die Gesellschaft und ihre Institutionen „sprechen“. Die gesellschaftlichen Institutionen sprechen nicht, da Verständigung nicht in ihrem Bereich liegt, sondern sie brabbeln höchstens, sie verwenden Sprache, um mit ihrer Hilfe Konsequenzen zu errechnen und dadurch ihre Machtausübung zu steuern. Wir haben bloß den Eindruck, die Politik spreche, die Medien teilten uns etwas mit oder die Wissenschaft bringe etwas Verständliches vor – aber das ist alles nur als Maschinenlärm anzusehen: In Wirklichkeit wird hier nichts kommuniziert, weil Kommunikation dem Bereich der Verständigung vorbehalten ist, gesellschaftliche Institutionen und Organisationen jedoch im stummen Medium der Gewalt funktionieren. Die menschliche Gesellschaft ist also als eine stumme vor sich hinarbeitende Maschine anzusehen und die Menschen als Wesen, die 99% ihres Lebens oder mehr aus dem eigentlich menschlichen Bereich ausgeschlossen sind und fast ihre gesamte Lebenszeit in Gesellschaft von stummen, lärmenden Maschinen sozialer Organisationen verbringen, welche ihren Alltag ausmachen.

Doch kann die Einsicht, dass gesellschaftliche Institutionen böse sind, nicht dazu führen, sie abschaffen zu wollen. Würden wir sie abschaffen, verblieben wir gänzlich ohne stützende Strukturen, und das Chaos würde über uns hereinbrechen. Man kann höchstens versuchen, die gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen durch Reformierung kontinuierlich zu verbessern, was ohnehin geschieht – nur würde ich hier die Hoffnungen dämpfen wollen, denn eine gute Institution wird es nie geben, weil Institutionen und Organisationen immer auf dem Element der Macht und dadurch der Gewalt beruhen werden.

Das einzige Ziel, von dem ich mir daher vorstellen kann, dass man es erreichen könnte, ist, die Menschen über die Wirklichkeit aufzuklären, damit sie wissen, was eine Institution oder Organisation ist, wie sie funktioniert und was sie höchstens zu leisten imstande ist. Wir können nicht aufhören, in Institutionen und Organisationen zu leben, aber es wäre schon eine große Erleichterung, wenn die Menschen über sie Bescheid wüssten, damit wenigstens diese ewigen Missverständnisse und Fehldeutungen der Wirklichkeit aufhören von der Art, Wissenschaft habe etwas mit objektivem Wissen zu tun, in einem Philosophieseminar finde man Philosophie, ein Spezialist für Ethik sei ein Spezialist für Ethik, ein Wissenschaftler erhält eine Ehrung für sein Lebenswerk – also müsse er was geleistet haben. Solche Irrtümer über die Wirklichkeit, die in der heutigen Welt gang und gäbe sind, sind im Grunde genommen eigentlich haarsträubend. Es wäre schön, wenn man wenigstens durch ein Einvernehmen über diese Dinge auf der Ebene der Verständigung eine Art zweite Kommunikationsebene über und jenseits jener der Institutionen und Organisationen herstellen könnte, auf welcher wir das, was die Institutionen über die Dinge sagen oder aus ihnen machen, aus einer gewissen Distanz betrachten würden, weil wir dann ja schon wüssten, dass den Institutionen und Organisationen die Tendenz innewohnt, aus den Dingen ihr Gegenteil zu machen.

Scott Adams beschreibt unter der Maske des Humors in seinen „Dilbert“-Comics die verkehrte Welt in der Wirtschaft und für den Bereich der amerikanischen Politik gibt es einen Film mit dem Titel „Wag The Dog“, welcher thematisiert, wie die PR-Maschinerie als Schwanz mit der Politik als Hund wedelt. Der Fehler solcher Darstellungen ist bloß, dass sie ausgehen (wie ich in meiner früheren Naivität) von einer Vorstellung davon, wie es sein sollte, und im Kontrast dazu darstellen, wie es ist. Diese Vorstellungen aber stammen aus der Welt der Verständigung, daraus, wie wir gelernt haben, dass die Welt ist, und wie wir sie uns als menschliche Welt vorstellen wollen. Aus dieser Sicht wedelt freilich überall in der Realität der Schwanz mit dem Hund. Wenn wir jedoch einsehen, dass Institutionen und Organisationen nicht so funktionieren, sondern auf der Grundlage der Gewalt prozessieren, dann verstehen wir, dass überhaupt nicht der Schwanz mit dem Hund wedelt, sondern alles so läuft wie es soll. Wir sehen dann aber auch, dass Institutionen und Organisationen überhaupt nicht in der Lage sind, solche Dinge hervorzubringen, die eigentlich dem Bereich der Verständigung angehören, also z.B. Wissen, das wirklich Wissen ist; Wissenschaftler, die man wirklich als solche anerkennen kann; wissenschaftliche Leistungen; rationale Argumentationen; Philosophie und Philosophen; Ethik; Kommunikation, die wirklich Kommunikation ist, etc. – also solche Dinge, von denen wir heute selbstverständlich annehmen, dass die bestehenden Institutionen sie hervorbringen.

20. August 2009

© helmut hofbauer 2009