Wag
the dog - oder: Warum der Schwanz nicht mit dem Hund wedelt
Ein
programmatischer philosophischer Entwurf, in dem es um meine
zentralen philosophischen Themen geht.
Einem
sensiblen und aufmerksamen Menschen fallen folgende Ungereimtheiten
in der sozialen Wirklichkeit auf, welche ein gemeinsames
Muster aufzuweisen scheinen, sodass er sich schließlich
fragt: Warum verwandeln sich eigentlich einzelne Ideen immer
wieder in ihr Gegenteil, wenn sie institutionalisiert und
in die gesellschaftliche Wirklichkeit integriert werden?
Hier einige Beispiele:
Die ETHIK
– war ursprünglich eine Disziplin, in welcher
der einzelne Mensch darüber nachdenkt, wie er leben
will und was er tun soll, damit er dieses von ihm erstrebte
Leben erreicht. Soziale Organisationen interessieren sich
jedoch sehr wenig dafür, was (einzelne) Menschen wollen;
viel mehr schon interessiert sie, welche Verhaltensweisen
sie an den Tag legen sollen. So wurde aus der Wollens- eine
Sollensethik – und die Ethik damit in ihr Gegenteil
transformiert.
Die PHILOSOPHIE
– war ursprünglich eine Disziplin, in welcher
Einzelmenschen bestehende Traditionen und traditionelle
Überzeugungen hinterfragten, um sie durch rationale
Überlegung zu prüfen. (Sokrates pflegte seine
Gesprächspartner aufzumuntern, mit ihm gemeinsam ein
Thema zu durchdenken und zu einem Urteil über es zu
kommen.) Soziale Organisationen haben jedoch wenig Interesse
daran, dass individuelles Denken geschieht; daher wurde
Philosophie als universitäres Fach unter anderen etabliert,
welches von Philosophieprofessoren vertreten wird, die für
und anstatt der übrigen Menschen denken. Aus der Philosophie
als individuellem Denken, welches Traditionen und allgemeine
Überzeugungen hinterfragt wurde also ein Denken von
Fachrepräsentanten, welches allgemeine – und
durch individuelles Denken schon nicht mehr hinterfragte
– Überzeugungen und Traditionen schafft. Die
Philosophie wurde somit so sehr in ihr Gegenteil verkehrt,
dass wir gegenwärtig in ein Stadium zurückgeworfen
sind wie vor der Entstehung der Philosophie.
Die WISSENSCHAFT
– sollte und soll (der Idee nach immer noch) dazu
dienen, die Fragen aller Menschen zu beantworten und ihre
Wissensinteressen zu stillen. Soziale Organisationen können
jedoch so etwas wie individuelle menschliche Wissensbedürfnisse
nicht einmal wahrnehmen, geschweige denn wertschätzen.
Daher wurde die Wissenschaft in eine Art großen Schrank
transformiert mit zehntausenden oder sogar Millionen Schubladen,
welche Forschungsfelder heißen. Diese, so will es
die Funktionslogik dieses Systems, sollen aufgefüllt
werden. Dieses Bestreben ist aus der Sicht des Einzelmenschen
nicht sinnvoll, weil er dadurch keine Beantwortung seiner
Wissensfragen erreicht, sondern sich anstatt dessen mit
Themen aufhält, die ihn gar nicht interessieren –
es ist jedoch auch Sicht des Sozialsystems Wissenschaft
sinnvoll, das auf diese Weise seine Operationen regelt.
Im Resultat sieht sich der in der Wissenschaft tätige
Mensch gezwungen, sich mit Themen zu beschäftigen,
die ihn von seinen wahren Fragen ablenken, und der Nichtwissenschaftler
ist mit einer wissenschaftlichen Sprache und Darstellungsweise
konfrontiert, welche hermetisch ist, weil sie auf das Sozialsystem
Wissenschaft zentriert ist und nicht für ihn als Endkonsumenten
geschaffen wurde, und sieht sich vom wissenschaftlichen
Wissen ausgeschlossen. – Auf diese Weise wurde die
Wissenschaft in ihr Gegenteil transformiert.
Die THEORIE
– (als kleine Randbemerkung) kommt ursprünglich
von „theorein“ und bedeutet so etwas wie „schauen“.
Die „Theoretiker“ waren Menschen, die Feste
in anderen griechischen Städten besuchten, um zu schauen
und dann davon zu berichten. Mit anderen Worten, Theorie
meinte ursprünglich so etwas wie „über den
eigenen Tellerrand schauen“ oder „über
den Zaun schauen“, um zu erfahren, ob sich Erkenntnis
nicht abseits der eigenen, ausgetretenen Wege findet. Heute
meint man mit „Theorie“ in der Wissenschaft
so etwas wie ein ganzes Theoriegebäude von Vorannahmen,
welche die forschende Wahrnehmung orientieren. Eine „Theorie
zu haben“ oder „einer Theorie zu folgen“
bedeutet in der Folge, gerade nicht mehr über die Grenzen
dieses Theoriegebäudes hinaus zu denken – mit
einem Wort, genau das Gegenteil von dem, was Theorie ursprünglich
bedeuten sollte. (Anmerkung: Es sollte mich nicht wundern,
wenn man beim Wort „Methode“ eine vergleichbare
Bedeutungsverkehrung nachweisen könnte.)
Die AUFKLÄRUNG
– bedeutete ursprünglich den „Ausgang des
Menschen aus der eigenen selbstverschuldeten Unmündigkeit“
nach der Kantschen Formulierung. Kant hielt in dem entsprechenden
Aufsatz auch schon fest, worin die menschliche Unmündigkeit
besteht: Wenn man nämlich ein Buch habe, das für
einen wisse oder einen Arzt, der für einen die Diät
beurteile, dann sei man unmündig. Diese Version der
Aufklärung als Erlangung der Autonomie durch den Einzelmenschen
wurde später umgedeutet als Selbstbefreiung der Wissenschaft
vom Joch der Religion, und zwar geschah diese Umdeutung,
weil soziale Organisationen im autonomen Denken des Einzelnen
keinen Wert sehen können (und den Wert der Aufklärung
deshalb in etwas anderem suchen mussten). Heute haben wir
Bücher, die für uns wissen, Ärzte, die für
uns unsere Diät bestimmen und überhaupt Wissenschaftler,
die agieren wie Priester, indem sie uns die Wahrheit von
einem höheren, für uns unerreichbaren Standpunkt
aus verkünden und uns auf diese Weise in unserer Unmündigkeit
erhalten – und so wurde die Aufklärung in ihr
Gegenteil verkehrt.
Die PHÄNOMENOLOGIE
-, welcher der Initialgedanke innewohnte, auf etwas schon
Gesehenes doch noch einmal zurückzublicken und sich
dabei zu fragen: „Was sehe ich wirklich, wenn ich
diese Sache betrachte?“ Auf dieser Basis lassen sich
in der Folge Beschreibungen anfertigen, die auf der (individuellen)
Wahrnehmung basieren und die oft verwandt sind mit jenen
der (fiktionalen) Literatur, welche ja ebenfalls immer auf
der Suche nach den besten Blickwinkeln zur Beschreibung
von Phänomenen ist. Es ist einleuchtend, dass die Phänomenologie
auf ihrem Weg, eine Wissenschaft, also eine „–logie“
zu werden, diese ursprüngliche Idee verloren hat, denn
Wissenschaften können es nicht ertragen, auf individueller
Wahrnehmung zu basieren.
Die
UNIVERSITÄT – war gewiss von Anfang an eine soziale
Organisation, doch hat auch die Idee der Universität
ein ziemlich starkes Eigenleben: Als Idee bedeutet Universität
so etwas wie einen geistigen Freiraum, die Gemeinschaft
von Forschung und Lehre, welche das geistige Erwachen und
Selbstständigwerden junger Menschen befördert.
Soziale Organisationen können jedoch in geistiger Freiheit
und geistiger Selbstständigkeit keine erstrebenswerten
Ziele erkennen, deshalb wurden die Universitäten in
ein zusätzliches Element der Ausbildung für den
Arbeitsmarkt umfunktioniert. – So haben die traditionellen
Universitäten aufgehört, Universitäten zu
sein. Kurioserweise ist man kürzlich auf dieses Manko
der gegenwärtigen Universitäten aufmerksam geworden
und versucht nun, in Eliteuniversitäten und Exzellenzclustern
Räume geistiger Freiheit zu schaffen und zwar deshalb,
weil man draufgekommen ist, dass diese der Spitzenforschung
dienlich ist. Auch hier zeigt sich aber wieder, dass geistige
Freiheit nicht als Wert an sich erkannt wird, sondern bloß
eines anderen Zieles wegen angestrebt wird.
![](../images/philohof_kleinhellgrau_denkermitschrift.gif)
Ich habe
in meinen philosophischen Arbeiten immer wieder diese Phänomene
und solche ähnlicher Art beschrieben und ihre inneren
Widersprüche herausgearbeitet, ohne dabei auf einen
grünen Zweig zu kommen. (Ja, ich wusste nicht einmal,
warum ich diese Themen ausgewählt hatte.) Jetzt ist
es an der Zeit, einen neuen Antwortvorschlag zu versuchen,
warum sich alle diese Ideen im Prozess gesellschaftlicher
Institutionalisierung von ihrer Ursprungsidee entfernen
und sich oft gar in deren Gegenteil verwandeln. Ich habe
dafür folgenden Grund gefunden:
Ich scheine
bei der Reflexion über diese Phänomene immer wieder
den selben Fehler gemacht zu haben, indem ich davon ausging,
dass die Gesellschaft auf Kommunikation, das ist auf dem
Bestreben nach Verständigung beruht. Wenn man von dieser
Grundannahme ausgeht, dann kommt man eben genau zu solchen
Realitätsbeschreibungen wie den oben angeführten:
Man findet in der sozialen Realität Ideen vor (Ethik,
Philosophie, Wissenschaft etc.); man betrachtet ihre reale
institutionelle Umsetzung und fragt: „Wo ist die ursprüngliche
Idee geblieben?“ Ersetzt findet man sie in den komplexen
sozialen Institutionen und Organisationen durch Elemente
des Zwangs (also z.B. in der Wissenschaft durch den Begriff
des wissenschaftlichen Arbeitens, welcher es erlaubt, Individuen,
die sich nicht ausreichend daran halten, aus der wissenschaftlichen
Diskussion auszuschließen). Der nachdenkende Mensch
könnte aus all dem schließen, dass hier überall
der Schwanz mit dem Hund wedelt: Aus den ursprünglichen
Ideen sind Institutionen und Organisationen geworden, die
nun eine Realisierung der Idee von der Art durchführen,
wie sie der ursprünglichen Idee gänzlich widerspricht.
Das heißt, solange man auf der Grundlage der Annahme
bleibt, dass die Gesellschaft auf Verständigung beruht,
scheint es, als ob überall in der Realität der
Schwanz mit dem Hund wedelt.
Versuchen
wir jedoch mal folgendes „Theoriedesign“: Die
Gesellschaft beruht auf Gewalt, auf roher, körperlicher
Gewalt. Auf einer ursprünglichen Ebene der rohen körperlichen
Gewalt bauen sich weitere Ebenen auf, die sich zwar explizit
gegen die körperliche Gewalt wenden, aber selbst wiederum
Formen der Gewalt darstellen, wenn auch in einer verfeinerten
und verschobenen Form, die ich „Macht“ nenne.
Da ist zuerst der Staat mit seinem Militär und seiner
Polizei, welcher Gewalt monopolisiert – das „staatliche
Gewaltmonopol“ bedeutet, dass niemand außer
dem Staat rechtlich Gewalt ausüben darf. Auf die Organisationsebene
des Staates lässt sich nun wiederum ein Rechtssystem
aufbauen und dieses ermöglicht die Entstehung einer
florierenden Wirtschaft. Meine Darstellung ist ein anti-Foucaultisch
in dem Sinne, indem ich daran erinnere, dass Macht immer
auf Gewalt aufbaut, ja im Grunde immer selbst Gewalt ist:
Es gibt also im Grunde keine Macht („Macht“
ist ein verharmlosendes Wort!), es gibt bloß Schläge,
die nicht unmittelbar körperliche Verletzungen sehen
lassen. Auch die Wirtschaft ist nichts anderes als Macht-
(unmittelbar) und Gewaltausübung (mittelbar), des Menschen
über den Menschen mittels Zahlen und quantifizierbarer
Größen. Das erkenne ich freilich nicht, wenn
ich meinen Lebensmitteleinkauf im Supermarkt erledige, sondern
bin dort sogar noch durch die Freiheit meiner Kaufentscheidung
und die scheinbare Gerechtigkeit der Marktpreise getäuscht.
So meine ich im Supermarkt wie in jedem anderen Geschäft,
meine individuelle Freiheit auszuüben, und die Marktpreise,
die von allen Konsumenten akzeptiert werden, erwecken in
mir den Eindruck, dass alles mit rechten Dingen zugehe.
Aber Macht ist ja nichts anderes als (über oft unübersichtlich
viele Stationen) verschobene rohe körperliche Gewalt
– und in dieser Verschiebung besteht ihr eigentlicher
Sinn. Wenn ich mich also im Supermarkt aufhalte, dann sehe
ich nicht, wie die Handelsorganisation der Supermarktkette
die Preise der Zulieferer drückt, wie die Zulieferer
ihre Kosten senken, indem sie eine bestimmte Anzahl von
Mitarbeitern kündigen, wie bei einem dieser Mitarbeiter
diese Kündigung dramatische Konsequenzen annimmt, weil
er schon Schulden hatte –und wie diese Kette von Maßnahmen,
die alle jeweils auf der relativen Größe von
Macht beruhen (die Handelskette ist mächtiger als die
Zulieferer, die Zulieferer sind mächtiger als ihre
Mitarbeiter), an einem Endpunkt zur rohen körperlichen
Gewalt der Delogierung dieses einen verschuldeten Arbeitslosen
führt.
Das gesamte
Bauwerk der Gesellschaft funktioniert also nach den Regeln
der Gewalt (oder ihrer verfeinerten Form, der Macht); man
nennt das auch „das Gesetz des Stärkeren“.
Der Ausdruck „das Gesetz des Stärkeren“
ist nur irreführend, weil er zuerst an stärkere
und schwächere Menschen denken lässt, wir befinden
uns jedoch heute in einem Zeitalter der Institutionen, in
welchem vor allem Institutionen und Organisationen stärker
sind als Individuen. Aber auch solche Institutionen wie
„Ehe“ und „Familie“, die Arnold
Gehlen als menschliche Grundbedürfnisse ansah, will
ich hier nicht aussparen und sagen, dass ich glaube, dass
auch die Geschlechterbeziehungen auf persönlicher Ebene
weitgehend auf dem Element der Macht (und damit der Gewalt)
beruhen, indem die Frauen das „Prinzip der aktiven
weiblichen Partnerwahl“, von dem die Anthropologen
sprechen, auf dem Heiratsmarkt gezielt anwenden, um ihre
soziale Stellung zu verbessern – und dazu im heutigen
Zeitalter der Gleichberechtigung in der Regel auch alle
Mittel haben. Diese Bemerkung ist vor allem dazu gedacht,
um Vorsicht einzumahnen, wenn wir geneigt sind, das körperlich
schwächere Geschlecht oder unsere intimen, auf Zärtlichkeit
und Liebe beruhenden, Beziehungen aus dem Bereich der Gewalt
auszunehmen. Auch ein schwächerer Mensch kann Macht
haben, wenn er einen starken Beschützer hat, und ob
in der Liebe Platz für Verständigung ist, ist
sehr zweifelhaft, weil es in Liebesangelegenheiten gewöhnlich
um sehr handfeste Themen, wie die Gründung eines Hausstands
und die Versorgung von Nachwuchs, geht.
Verständigung
hat in dieser Gesellschaftskonzeption erst ganz oben Platz,
dort, wo die höchsten Freiheitsgrade herrschen, wo
von unmittelbaren Lebenssorgen freie Menschen einander in
ihrer freien Zeit gegenübersitzen und einander zudem
gerade nicht als Mittel zur Erreichung eines beruflichen
oder wirtschaftlichen Ziels gebrauchen wollen. Verständigung
findet man also bestenfalls ganz oben auf dem Gesellschaftskuchen,
gleichsam als seinen Zuckerguss – und vielleicht findet
man sie überhaupt nur in einer Tätigkeit, die
ganz wesentlich in Verständigung beruht, nämlich
im Philosophieren. Jedoch ist die Vorstellung von der Verständigung
eine Art starker Droge, welche die Illusion entstehen lässt,
das gesamte Gesellschaftsgebäude sei auf Verständigung
aufgebaut. Mir scheint, das ist jene Illusion, der Jürgen
Habermas zum Opfer gefallen ist und worauf er seine gesamte
Philosophie des kommunikativen Handelns aufgebaut hat. Aber
auch ich bin der Philosophie gewiss wegen meiner Leidenschaft
für die Verständigung zum Opfer gefallen, und
diese hat mich dazu bewegt, die Welt in der oben beschriebenen
Weise falsch herum zu sehen – nämlich so, als
ob die gesellschaftlichen Realisierungen von Ethik, Philosophie,
Wissenschaft usw. zumindest (fehlgeschlagene) Versuche wären,
diesen Ideen in irgendeiner Weise gerecht zu werden.
Gibt
man jedoch die Idee der Verständigung auf, so lösen
sich all die beschriebenen Widersprüche auf und der
Schwanz wackelt nicht weiter mit dem Hund: Man sieht dann
einfach einige Ideen vor sich, die ursprünglich für
den Bereich der Verständigung erfunden worden sind,
in denen dann aber ganz selbstverständlicher Weise
die Logik der Macht und die Mechanik der Gewalt zu greifen
begannen, als diese Ideen durch ihre Institutionalisierung
Aufnahme in den Bereich des Gesellschaftlichen fanden. (Ob
man sich in einem Bereich der Verständigung oder in
einem solchen der Gewalt befindet, ist nicht schwer herauszufinden:
Bemerkt man, dass die Adressaten der eigenen Botschaft wirklich
herauszufinden versuchen, was man mit ihr meint, befindet
man sich eindeutig im Bereich der Verständigung; stürzen
sie sich hingegen bloß auf das Gesagte, um es so,
wie sie es verstehen, aufzufassen und durchaus auch gegen
einen zu verwenden, dann befindet man sich im Bereich der
Gewalt.)
Aber
warum ist es eigentlich so schwer zu erkennen, dass die
gesamte Gesellschaft noch im Bereich der Gewalt liegt und
nicht im Bereich der Verständigung? Der Hauptgrund
liegt in der Weise, wie die Gesellschaft für sich selber
spricht: Sie verhält sich in ihren Verlautbarungen
über sich selber nämlich wie eine gut geölte
PR-Maschine, welche behauptet, dass sie mit allem, was sie
tut, nur das Beste für alle Menschen im Sinne hat und
dass sie jederzeit ein offenes Ohr für die Anliegen
aller ihrer Mitglieder hat. Dass dem nicht so ist, bemerkt
schon ein Staatsbürger einer Demokratie, wenn er alle
vier Jahre wählen geht. Dann gibt es noch einen zweiten
wichtigen Grund, warum sich diese Erkenntnis nicht so einfach
auf sich nehmen lässt, und das ist der, dass sie dem
Selbstverständnis der meisten Menschen widerspricht,
die es vorziehen, sich in einer Gemeinschaft mit verständnisvollen
und hilfsbereiten Menschen zu sehen denn in einer solchen
von machtgierigen, gewalttätigen Unwesen. In diesem
Zusammenhang möchte ich aber darauf hinweisen, dass
gerade solche Menschen, die sich selbst mit Vorliebe in
einer Gemeinschaft von hilfsbereiten Mitmenschen sehen wollen,
oft gleichzeitig zu einer Reserve bezüglich dieser
Weltsicht und zu einer gleichzeitigen Einsicht in die Bedeutung
von Machtmechanismen und die Wichtigkeit, eine berufliche
Machtposition in der Gesellschaft innezuhaben, fähig
sind, zu der ich als einfache Seele nicht in der Lage bin,
und die ihre Überzeugung von der Mitmenschlichkeit
der Mitmenschen Lügen straft. Solche Menschen sind
schwer zu begreifen, denn sie leben zur Hälfte in einer
menschlichen Menschenwelt und zur Hälfte in einer unmenschlichen
Menschenwelt, ohne sich entscheiden zu müssen, ob sie
dem Menschen Vertrauen entgegenbringen oder ob sie es ihm
versagen. Eine derartige lebensfördernde Inkonsequenz
ist Ekel erregend, man kann sie nicht verstehen, sondern
nur verwundert bestaunen – sie zeigt aber, dass selbst
viele Menschen, die tun, als ob sie unter Menschen lebten,
ihr Leben in Wirklichkeit eingerichtet haben, als ob sie
unter Monstern lebten.
Was folgt
nun aus meiner Einsicht in die Gewaltbasiertheit der gesellschaftlichen
Institutionen? Zuerst einmal muss man sich von der Überzeugung
freimachen, wir seien die Gesellschaft. Die Gesellschaft,
das sind nicht wir, sondern das sind unmenschliche Institutionen
und Organisationen, welche sich gleichsam durch Ablagerungen
gegen uns und gegen unsere Interessen gebildet und verfestigt
haben. Des Weiteren muss man von der Ansicht Abstand nehmen,
dass die Gesellschaft und ihre Institutionen „sprechen“.
Die gesellschaftlichen Institutionen sprechen nicht, da
Verständigung nicht in ihrem Bereich liegt, sondern
sie brabbeln höchstens, sie verwenden Sprache, um mit
ihrer Hilfe Konsequenzen zu errechnen und dadurch ihre Machtausübung
zu steuern. Wir haben bloß den Eindruck, die Politik
spreche, die Medien teilten uns etwas mit oder die Wissenschaft
bringe etwas Verständliches vor – aber das ist
alles nur als Maschinenlärm anzusehen: In Wirklichkeit
wird hier nichts kommuniziert, weil Kommunikation dem Bereich
der Verständigung vorbehalten ist, gesellschaftliche
Institutionen und Organisationen jedoch im stummen Medium
der Gewalt funktionieren. Die menschliche Gesellschaft ist
also als eine stumme vor sich hinarbeitende Maschine anzusehen
und die Menschen als Wesen, die 99% ihres Lebens oder mehr
aus dem eigentlich menschlichen Bereich ausgeschlossen sind
und fast ihre gesamte Lebenszeit in Gesellschaft von stummen,
lärmenden Maschinen sozialer Organisationen verbringen,
welche ihren Alltag ausmachen.
Doch
kann die Einsicht, dass gesellschaftliche Institutionen
böse sind, nicht dazu führen, sie abschaffen zu
wollen. Würden wir sie abschaffen, verblieben wir gänzlich
ohne stützende Strukturen, und das Chaos würde
über uns hereinbrechen. Man kann höchstens versuchen,
die gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen
durch Reformierung kontinuierlich zu verbessern, was ohnehin
geschieht – nur würde ich hier die Hoffnungen
dämpfen wollen, denn eine gute Institution wird es
nie geben, weil Institutionen und Organisationen immer auf
dem Element der Macht und dadurch der Gewalt beruhen werden.
Das einzige
Ziel, von dem ich mir daher vorstellen kann, dass man es
erreichen könnte, ist, die Menschen über die Wirklichkeit
aufzuklären, damit sie wissen, was eine Institution
oder Organisation ist, wie sie funktioniert und was sie
höchstens zu leisten imstande ist. Wir können
nicht aufhören, in Institutionen und Organisationen
zu leben, aber es wäre schon eine große Erleichterung,
wenn die Menschen über sie Bescheid wüssten, damit
wenigstens diese ewigen Missverständnisse und Fehldeutungen
der Wirklichkeit aufhören von der Art, Wissenschaft
habe etwas mit objektivem Wissen zu tun, in einem Philosophieseminar
finde man Philosophie, ein Spezialist für Ethik sei
ein Spezialist für Ethik, ein Wissenschaftler erhält
eine Ehrung für sein Lebenswerk – also müsse
er was geleistet haben. Solche Irrtümer über die
Wirklichkeit, die in der heutigen Welt gang und gäbe
sind, sind im Grunde genommen eigentlich haarsträubend.
Es wäre schön, wenn man wenigstens durch ein Einvernehmen
über diese Dinge auf der Ebene der Verständigung
eine Art zweite Kommunikationsebene über und jenseits
jener der Institutionen und Organisationen herstellen könnte,
auf welcher wir das, was die Institutionen über die
Dinge sagen oder aus ihnen machen, aus einer gewissen Distanz
betrachten würden, weil wir dann ja schon wüssten,
dass den Institutionen und Organisationen die Tendenz innewohnt,
aus den Dingen ihr Gegenteil zu machen.
Scott
Adams beschreibt unter der Maske des Humors in seinen „Dilbert“-Comics
die verkehrte Welt in der Wirtschaft und für den Bereich
der amerikanischen Politik gibt es einen Film mit dem Titel
„Wag The Dog“, welcher thematisiert, wie die
PR-Maschinerie als Schwanz mit der Politik als Hund wedelt.
Der Fehler solcher Darstellungen ist bloß, dass sie
ausgehen (wie ich in meiner früheren Naivität)
von einer Vorstellung davon, wie es sein sollte, und im
Kontrast dazu darstellen, wie es ist. Diese Vorstellungen
aber stammen aus der Welt der Verständigung, daraus,
wie wir gelernt haben, dass die Welt ist, und wie wir sie
uns als menschliche Welt vorstellen wollen. Aus dieser Sicht
wedelt freilich überall in der Realität der Schwanz
mit dem Hund. Wenn wir jedoch einsehen, dass Institutionen
und Organisationen nicht so funktionieren, sondern auf der
Grundlage der Gewalt prozessieren, dann verstehen wir, dass
überhaupt nicht der Schwanz mit dem Hund wedelt, sondern
alles so läuft wie es soll. Wir sehen dann aber auch,
dass Institutionen und Organisationen überhaupt nicht
in der Lage sind, solche Dinge hervorzubringen, die eigentlich
dem Bereich der Verständigung angehören, also
z.B. Wissen, das wirklich Wissen ist; Wissenschaftler, die
man wirklich als solche anerkennen kann; wissenschaftliche
Leistungen; rationale Argumentationen; Philosophie und Philosophen;
Ethik; Kommunikation, die wirklich Kommunikation ist, etc.
– also solche Dinge, von denen wir heute selbstverständlich
annehmen, dass die bestehenden Institutionen sie hervorbringen.
20. August
2009
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