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Über die Bedeutung der Rationalität in der Philosophie

 

Ich gestehe, dass ich mittlerweile eigentlich überhaupt nicht mehr daran glaube, dass man einen anderen Menschen mit rationalen Argumenten überzeugen kann.

Ja, aber – wird man fragen – musst du denn dann nicht eigentlich mit der Philosophie ganz aufhören, weil Philosophieren doch auf der Grundlage des „zwanglosen Zwangs des besseren Arguments“ beruht?

Ich habe über diese Frage nachgedacht und bin zu folgendem Schluss gekommen: Nein, dem ist nicht so. Und ganz im Gegenteil: Wenn ich mir diesen absoluten Glauben an die Vernunft, an die Rationalität, wonach jener, der die stärkeren Argumente hat, in jeder Diskussion notwendigerweise gewinnen müsste, genauer anschaue, so halte ich diesen Glauben heute für eine pubertäre Allmachtsphantasie, die durchaus ein Pendant zu jener anderen Machtphantasie darstellt, wonach der Stärkere, derjenige mit den größeren Muskeln, immer gewinnt. Ja, vielleicht ist es ja wirklich so, dass schon in der Schule der Größere und Stärkere Gewichte stemmt und Sport treibt, weil er bemerkt, dass er dadurch über alle anderen dominieren kann und der Kleine mit der Brille es ihm gleichtut, indem er zu denken anfängt, weil er in einer Vision die Erkenntnis gehabt hat, dass ein kleiner Gedanke als Argument die Kraft haben kann, das ganze Universum auszuhebeln.

Der Glaube an die Rationalität, der bedingungslose Glaube an die Vernunft ist tatsächlich eine Allmachtsphantasie. Es gibt zu diesem Thema zwei sehr plastische Beispiele aus der Geschichte der Philosophie. Das erste Beispiel, das ich vorbringen möchte, ist, dass es einen Immanuel Kant gebraucht hat, um mit seiner Kritik der reinen Vernunft die Allmachtsansprüche der Vernunft auf dem Gebiet der Erkenntnis zu kritisieren. Denn die Kritik der reinen Vernunft ist keine Kritik durch die reine Vernunft, sondern es ist die reine Vernunft, die kritisiert wird. Es gebe eben Fragen, so Kant, Fragen der empirischen Erkenntnis, Fragen der Metaphysik auch, die man durch den Gebrauch der Vernunft allein nicht entscheiden kann. Deshalb müsse man auch hinausgehen und Naturbeobachtungen und Experimente durchführen, wenn man naturwissenschaftliche Erkenntnisse haben will, Kants Kritik der Vernunft läuft auf eine Aufwertung der Beobachtung und der Erfahrung hinaus. Man kann sich eben nicht ausdenken, wie viele Beine eine Spinne hat, wenn man es wissen will, muss man hingehen und sie zählen.

 

„Alle Mühe, seine Stellung darzutun, war umsonst. Die Schwierigkeit seines Stils besiegelte sein Schicksal; er war dazu verurteilt als Urheber des „Deutschen Idealismus“ in die Geschichte einzugehen. Es ist hohe Zeit, dieses Urteil zu revidieren. Kant hatte immer betont, dass die physischen Elemente in Raum und Zeit wirklich sind – real, nicht ideal. Und was die wilden metaphysischen Spekulationen der Schule des „Deutschen Idealismus“ betrifft, so wurde der Titel der „Kritik der reinen Vernunft“ von Kant in der Absicht gewählt, einen kritischen Angriff auf solche spekulative Vernünfteleien anzukündigen. Denn was die „Kritik“ kritisiert, ist eben die reine Vernunft: sie kritisiert Vernunftschlüsse über die Welt, die das Prädikat „rein“ in dem Sinn verdienen, dass sie von Sinneserfahrung unberührt und durch keine Beobachtung kontrolliert sind. Kant kritisierte die „reine Vernunft“, indem er zeigte, dass reines spekulatives, durch keine Beobachtungen kontrolliertes Argumentieren über die Welt uns immer in Antinomien verwickeln muss. Kant schrieb unter dem Einflusse von Hume seine Kritik, um zu zeigen, dass die Grenzen möglicher Sinneserfahrung und die Grenzen vernünftigen Theoretisierens über die Welt identisch sind.“

Karl R. Popper: „Immanuel Kant: Philosoph der Aufklärung. Eine Gedächtnisrede zum hundertfünfzigsten Todestag“, in: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1. Francke Verlag, Bern 1980, 6. Aufl, S. 14-15.

 


Bis zu Kants Zeit – und das bedeutet: bis zum 18. Jahrhundert – stellte Philosophie tatsächlich jene Allmachtsphantasie dar, wonach sich in Fragen der Erkenntnis alles durch Rationalität und logische Deduktion entscheiden lässt. Kant hat hier die Vernunft zum ersten Mal in ihre Schranken gewiesen. Dennoch ist der Begriff der Philosophie bei den Menschen auch weiterhin mit der Vorstellung verbunden geblieben, dass hier Menschen, die alleine in ihrem stillen Kämmerlein über dem Schreibtisch brüten (also allein mithilfe ihrer Vernunft) die Welt und ihre Gesetze besser erkennen könnten als die Menschen draußen, die praktische Erfahrungen machen. Diese Überzeugung hat dann auch Gestalt angenommen in jener großen historischen Katastrophe, die der Kommunismus gewesen ist. Der Kommunismus war ein philosophisches gesellschaftliches Experiment, in dem die Philosophie "praktisch werden" sollte. Karl Marx wollte Hegel „vom Kopf auf die Füße stellen“ und, indem er das Proletariat, die Arbeiter, zum Motor gesellschaftlicher Veränderung machte, in den Lauf der Geschichte eingreifen.

Bedenken wir dieses Phänomen noch einmal genauer: Karl Marx und im Anschluss an ihn viele der Anführer der kommunistischen Revolution meinten, aufgrund ihres richtigen Vernunfturteils über den zukünftigen Verlauf der Geschichte, in die Geschichte eingreifen zu dürfen – und das mit großer Konsequenz und unter Inkaufnahme vieler Opfer. Das bedeutet, dass man Augen, Ohren und Vernunft für die laufenden Entwicklungen in der Geschichte der Menschen verschlossen hat, nachdem man einmal ein vernünftiges Urteil über den zukünftigen Verlauf der Geschichte gefasst hat, an das man im Folgenden blind glaubte, bis die Differenz zwischen dem, was es war und was es hätte werden sollen so groß war, dass das ganze Gesellschafts- und Lügengebäude mit lautem Getöse zusammenkrachte. Arthur Koestler hat aus diesem Grund den Kommunismus mit Recht einen „Amoklauf der reinen Vernunft“ genannt.

 

„Vierzig Jahre lang hatte er unter strikter Beachtung der Ordensgelübde der Partei gelebt. Er hatte sich an die Regeln des logischen Kalküls gehalten. Er hatte die Reste des alten unlogischen Moralgefühls mit der Säure der Vernunft aus seinem Bewusstsein gebrannt. (…) Rubaschow starrte durch das Fenstergitter in den blauen Streifen über dem Maschinengewehrturm. Wenn er jetzt auf seine Vergangenheit zurückblickte, schien es ihm, dass diese ganzen vierzig Jahre ein einziger Amoklauf gewesen waren – der Amoklauf der reinen Vernunft.“

Arthur Koestler: Sonnenfinsternis, Verlag Ullstein, Frankfurt/Main 1980, S. 215.

 

Die reine Vernunft ist tatsächlich ein Amoklauf, ob in der Erkenntnis, weil man dadurch alle Ergebnisse vorwegnimmt, die man durch die empirische Erfahrung machen könnte, oder in der Geschichte, weil man dadurch die Zukunft vorwegnimmt und jetzt schon meint - allein durch den Vernunftschluss - zu wissen, wie sie sein wird, anstatt darauf zu warten, was sie bringen wird und demütig daraus zu lernen.

Gut, aber was bedeutet das jetzt? Eine Absage an die Rationalität, wenn man erkannt hat, zu wie viel Schaden und Leid sie in der Geschichte der Menschheit geführt hat? Ein Philosophieren ohne Logik – ist so etwas überhaupt möglich? Nein, es ist nur eine Bescheidung der Rationalität auf das, was sie wirklich leisten kann, vonnöten. Solange wir Menschen denken, werden wir logisch denken, aber wir müssen uns immer dessen bewusst sein, dass die Logik nur unser Werkzeug ist, mit dem wir der Wirklichkeit begegnen, um sie zu ordnen und sie bewältigbar zu machen. Ob die Wirklichkeit selber logisch ist – das ist dasjenige, was die Grundlage für den Glauben an die Rationalität als Allmachtsphantasie darstellt – das wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass uns die Wirklichkeit insofern fassbar und erkennbar sein wird, insofern sie sich als logisch erweist, das heißt insofern sie unseren Wahrnehmungsinstrumenten entgegenkommt.

Wir können also die Wirklichkeit nicht packen mit der Vernunft als großer Zange und sie damit zu Boden zwingen und niederringen – und dasselbe gilt auch für den anderen Menschen, den wir mit philosophischen, mit rationalen Argumenten überzeugen wollen, auch er entzieht sich unserer Vernunft. Das kann deshalb sein, weil verschiedene Menschen an sich für rationale Argumente unterschiedlich zugänglich sind. Das kann aber auch bei einem sehr rational denkenden Menschen der Fall sein und zwar deshalb, weil beim Menschen nur das Bewusstsein rational strukturiert ist, während die eigentlichen Überzeugungen tiefer liegen. Aus diesem Grund habe ich wohl auch den Glauben daran aufgegeben, dass man andere Menschen allein durch rationale Argumente notwendig überzeugen können müsste: Ich hatte erkannt, dass intelligente Menschen in Diskussionen nicht wirklich rationale Argumente für ihre Überzeugungen vorbringen, sondern eher so etwas wie Rationalisierungen ihrer Überzeugungen, die selbst nicht unbedingt rational zustande gekommen sein mögen. Als Paradebeispiel aus der Philosophiegeschichte für diesen Fall steht mir der Streit zwischen Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen vor Augen: Adorno war optimistisch und glaubte an die Befreiung des Menschen, wenn man ihn von den Institutionen befreite, die ihn unterdrückten und sein Wesen verunstalteten – Gehlen dagegen hielt den Menschen für ein Tier mit ungenügender Instinktausstattung, das ein Korsett von starken gesellschaftlichen Institutionen nötig hat, weil es sonst völlig die Orientierung verliert und vielleicht ausrastet, was blutige Gemetzel und viele Opfer zur Folge haben könnte. Das waren die Überzeugungen von Adorno und Gehlen – aber wer kann sagen, woher sie sie hatten, wie sie sich im Laufe ihres Aufwachsens und der Erfahrungen, die sie machten, gebildet und gefestigt hatten? Und glaubt man wirklich, dass hier der eine den anderen hätte überzeugen können, wenn er das richtige Argument gehabt hätte?

Eher als das richtige Argument könnte, meiner Vorstellung nach, die richtige Formulierung überzeugen. Und insofern wäre Philosophie wiederum Kunst: Falls es möglich sein sollte – bei sich selbst oder bei einem anderen Menschen – mit einer treffenden Formulierung durch diese gesamte rationale Sphäre, an allen nachträglichen Rationalisierungen vorbei, bis zu den Überzeugungen durchzudringen und sie aufzuweichen oder zumindest etwas durchzuschütteln. Und tatsächlich, scheint mir, ist es ja so: Man denkt beim Nachdenken immer wieder über dasselbe nach und findet dafür immer neue Formulierungen. Wahrscheinlich sucht man gar nicht wirklich das richtige Argument, sondern man sucht den Schlüssel für dieses Problem, über das man nachdenkt, diejenige Formulierung, die man für so treffend hält, dass sie die eigene Überzeugung entweder befriedigend bestätigt oder ins Wanken bringt, was beides die Möglichkeit zur Folge hat, dass man einen Schritt weitergehen und über ein neues Problem nachdenken darf.

Man darf also weiterhin rational und logisch formulieren, nur eines darf man nicht: Erwarten dass die Wirkungen dieser rationalen Gedanken bei einem selber oder bei einem anderen Menschen, mit dem man philosophiert, die gleichen sein werden wie in der Mathematik, wo der richtige Lösungsansatz bei fehlerloser Durchführung auch notwendig das gewünschte Ergebnis nach sich ziehen wird. Beim Philosophieren müssen wir uns eingestehen, dass wir, wiewohl wir rational vorgehen, im Grunde eigentlich nicht wissen, was wir tun. Wir sollten uns also dessen bewusst werden, dass wir eigentlich "magische Mächte" uns gegenüber haben, die wir mit rationalen Mitteln zu bändigen versuchen. Natürlich sind sie nicht wirklich magisch, aber der Irrglaube an die rationale, wissenschaftliche Diskussion verschließt uns die Einsicht, dass es bei einer solchen Diskussion oft gar nicht um die richtige Antwort und auch oft nicht einmal um die Frage geht, die diskutiert wird, sondern dass die Gründe dafür, warum der Gesprächspartner solche und nicht andere Gründe anführt und derart unverrückbar auf seiner Meinung beharrt, oft auf einer ganz anderen, persönlicheren oder emotionaleren, Ebene oder in einem ganz anderen thematischen Bereich liegen können, als es in der Diskussion scheinen mag. Das macht andererseits auch rationale Diskussionen mit anderen Menschen nicht sinnlos, solange man sich dessen bewusst bleibt, dass das im Gespräch Offenbahrte nur eine Oberfläche ist und nicht die gesamte Wirklichkeit und dass der Redestrom, der an unser Ohr dringt, schon über viele Steine geflossen ist, die seine Richtung geändert und ihn gereinigt haben, bevor er noch den Mund des anderen erreicht hat, von dem aus er uns zuströmt.

 

© helmut hofbauer 2006