Über
das private Wesen der Philosophie
Ich
habe an anderer
Stelle behauptet, dass Philosophie eine privatere
oder persönlichere Angelegenheit ist als diejenigen
Probleme, die in der Öffentlichkeit diskutiert werden,
Probleme rechtlicher, wirtschaftlicher oder politischer
Art etwa oder als wissenschaftliche Probleme. Ich möchte
diesen Gedanken an dieser Stelle hier ein wenig ausführen.
Wenn
ich mir die Probleme der Reihe nach ansehe, die ich für
philosophische halte, dann fallen mir an ihnen allen zwei
Eigenschaften auf; eine dieser Eigenschaften haben sie mit
wissenschaftlichen Problemen gemein: Alle Menschen haben
dieses Problem. Oder auch: Dieses Problem betrifft im Grunde
alle Menschen. Und dann gibt es da noch eine zweite Eigenschaft,
die sie von wissenschaftlichen und anderen Problemen öffentlicher
Diskussion unterscheidet: Wir haben diese Probleme nicht
gemeinsam, sondern jeder hat sie für sich allein. Philosophische
Probleme haben also grundsätzlich die Form: Wir alle
haben diese Probleme, aber wir haben sie nicht gemeinsam.
Und der größte Blödsinn kommt, glaube ich,
dann heraus, wenn man diese Probleme – im akademischen
Rahmen etwa oder in den Medien - so diskutiert, als ob sie
gemeinsame wären.
1.
Der Tod
Jeder
Mensch geht alleine in den Tod. Außer natürlich,
wenn er gläubig ist. Aber ich würde sagen: Selbst
dann geht er alleine in den Tod, denn er muss ja auch allein
an Gott glauben. Durch den Glauben an Gott kommt der Mensch
nicht in eine Beziehung zu Gott, die so stabil wäre,
dass der Zweifel ihn nicht mehr heimsuchen würde. Und
sobald der Zweifel kommt, weiß man wieder, dass man
im Grunde allein ist. Daraus folgt, man kann auch an Gott
glauben, wenn man kann. Aber auf eigene Rechnung, wenn man
sich selbst dazu entscheidet, dass das das Richtige ist.
Durch den Tod erfahren wir, dass wir ganz alleine sind,
jeder für sich. Deshalb ist der Tod für viele
ein möglicher Anfang der Philosophie. Es kann noch
andere Anfänge für das Philosophieren geben –
andere Erfahrungen, die so schrecklich sind oder so stark,
dass sie für uns sind wie ein dauernder Stachel in
unserem Fleisch -, aber sie haben alle etwas gemeinsam:
sie isolieren uns. Wenn wir begreifen, dass wir ein Problem
oder eine Erfahrung, die uns quält, nicht mehr mit
anderen Menschen teilen können, dass wir allein mit
ihr sind und nur selber über sie nachdenken können,
dann beginnt das Philosophieren.
2.
Das Handeln
Auch
handeln muss der Mensch letztlich allein. Das haben die
Existenzialisten besonders unterstrichen: Es gibt an sich
jede Menge Regeln, die uns beim Handeln anleiten und uns
die Verantwortung abzunehmen scheinen, aber die Entscheidung
dafür, ob wir uns an eine Regel halten wollen oder
nicht, liegt dennoch bei uns. Der Verantwortung entkommen
wir also nicht, selbst dann nicht, wenn wir behaupten, nur
unsere Pflicht getan zu haben. Als besonders perfides Machwerk
in diesem Zusammenhang erscheint mir ja der kategorische
Imperativ von Kant. Dieser besagt, man solle so handeln,
dass man wollen könne, dass die Maxime des eigenen
Handelns ein allgemeines Gesetz werde. Ich glaube, die meisten
Menschen verstehen den kategorischen Imperativ falsch. Sie
meinen: Wenn ich mich an ein allgemeines Gesetz halte, dann
kann ich nichts falsch machen. Der Witz liegt aber in dem
„…dass man wollen könne…“.
Man ist also selbst Urheber des allgemeinen Gesetzes, an
das man sich dann selber auch hält – und dadurch
freilich wiederum schuld an dem was man getan hat, denn
man hat es ja „gewollt“. Ganz ebenso verhält
es sich jedoch auch, wenn man von anderen Menschen Anweisungen
dafür bekommt, wie man handeln soll. Auch hier erfährt
man, dass man letztlich selber entscheiden muss, ob man
diese Anweisungen annimmt oder nicht. Auch die menschliche
Gemeinschaft erleichtert also nicht die Last des Handelns.
Die Verantwortung für das Handeln trägt man am
Ende immer selber, ganz gleich wie viele Ausreden oder Milderungsgründe
man vorbringen kann, und insofern erfährt man sich
beim Handeln als ganz fundamental allein.
3.
Das Bewusstsein
Dasjenige,
was es dem Menschen überhaupt erst ermöglicht
zu philosophieren, das ist sein Bewusstsein. Das Bewusstsein
hat die Form: Ich bin mir meiner bewusst. Anders gesagt:
Ich spiegle mich an mir selbst. Und wenn ich mir einer Sache
bewusst bin, dann spiegle ich mich an dieser Sache oder
ich spiegle die Sache an mir. Reflexion heißt nichts
anderes: Ich überlege mir, ich denke über mich
nach – also ich reflektiere, ich spiegle mich an mir
selber. Und ich kann natürlich auch über mich
selber als Nachdenkenden nachdenken: Es gibt nicht nur einen
Spiegel, es ist ein ganzes Spiegelkabinett! Und reflektierend
kann ich die Reflexion von der Reflexion wieder reflektieren.
Auf diese Weise schafft das Bewusstsein eine Art innere
Unendlichkeit, die den Raum eröffnet, in dem Philosophieren
überhaupt erst möglich ist. Wenn nur ich ich bin,
und nichts ist dahinter, dann ist die Welt einfach gestrickt,
und ich brauche mich nicht zu hinterfragen (= zu philosophieren).
Wenn das jedoch schon geht, dann wird daraus bald eine schwindelerregende
Angelegenheit, wie die die Fahrt auf einer Hochschaubahn:
Welches Bild hinter dem Bild ist das richtige, ist die Wahrheit?
Worauf kann ich mich „stützen“? Auch in
diesem Spiegelkabinett des eigenen Bewusstseins ist jeder
Mensch allein. Es ist ja sein eigenes Spiegelkabinett, seine
eigene Innenwelt, und ein anderer Mensch hat ein anderes
Spiegelkabinett, eine andere Innenwelt. Wir denken im Allgemeinen
nicht daran, dass das etwas Besonderes ist, dass unsere
Mitmenschen ein Bewusstsein haben: Aber so ein Bewusstsein,
das ist ein Abgrund, so tief wie der Tod und oft auch ebenso
dunkel für Menschen, die sich in ihm verirrt haben.
Es ist im Grunde unfassbar, dass die Natur dem Menschen
eine so monströse Maschine wie das Bewusstsein aufgepfropft
hat, die ihn dazu befähigt, sich alles dessen, was
mit ihm passiert, bewusst werden zu können, (inklusive
des Sterbens, das ja unfassbar ist) – und dass der
Mensch unter der Last dieser monströsen Maschine nicht
sofort zusammenbricht…
4.
Der Tick
Ich
würde sagen, ein jeder Mensch sollte das Recht auf
zumindest einen Tick haben. Viele Menschen haben ja tatsächlich
einen Tick (Der eine z.B. hält sich für hässlich,
der andere hat einen Sparsamkeitswahn, viele Menschen leiden
an irgendwelchen Ängsten etc.), aber normalerweise
gilt uns ein Mensch mit einem Tick doch eher als psychisch
nicht ganz gesund, und wir neigen dazu, auf ihn herabzusehen.
Ich bin nicht dieser Ansicht. Der Grund dafür ist die
Einsicht in das menschliche Bewusstsein mit seiner Haltlosigkeit.
Wenn einen Menschen immer die gleichen negativen Emotionen
quälen, dann kann er auf der Ebene des Bewusstseins,
diesem Spiegelkabinett mit seiner inneren Unendlichkeit,
wo man mit seinem Fragen an kein Ende kommen kann, keinen
festen Grund finden. Deshalb ist es kein Wunder, wenn so
ein Mensch dann einmal „einschnappt“ und bei
einem Tick hängen bleibt. Den
Tick führe ich mit in dieser Liste philosophischer
Themen an, weil er dasjenige ist, das uns vor den anderen,
vor unseren Mitmenschen erst so richtig individualisiert.
Wir sind zwar auch vor dem Tod allein, und wir sind mit
der Verantwortung für unser Handeln allein, schließlich
ist auch ein jeder Mensch durch sein Bewusstsein eine eigene
innere Welt; aber bei all diesen Punkten können wir
doch annehmen, dass es den anderen Menschen genauso geht
wie uns, insofern herrscht also Gleichheit. Beim Tick hingegen
sehen wir, dass die anderen Menschen das Problem, das wir
haben, seltsamerweise nicht haben, und wir schämen
uns dafür vor ihnen. Wir verbergen unseren Tick vor
ihnen, weil wir wissen, dass sie kein Verständnis dafür
hätten und so finden wir uns völlig allein damit
vor, als mit etwas, mit dem wir alleine zurechtkommen müssen.
Auf diese Weise also individualisiert uns ein Tick vollkommen:
Er individualisiert uns so sehr, dass wir uns nicht einmal
mit unseren Freunden über ihn verständigen können.
Das ist die eine Seite. Auf
der anderen Seite jedoch erscheint mir ein Tick die normalste
Sache der Welt zu sein, weil er eine Folge des Bewusstseins
und der menschlichen Individualität ist. Hier verbinden
sich das Allgemeine und das Besondere: Alle Menschen haben
eine Individualität, aber eine Individualität
zu haben, bedeutet eben, nicht so zu sein wie die anderen.
Ein bestimmter Tick hat ebenfalls die Form, dass man sich
so erfährt, dass man nicht so ist wie die anderen –
und insofern hat man das Gefühl, nicht „normal“
zu sein. Umgekehrt, wenn man darüber nachdenkt, erscheint
es als das Normalste und Wahrscheinlichste, dass ein jeder
Mensch mit der Zeit irgendeinen Tick bekommt, weil einem
jeden Menschen eine Individualität aufgegeben ist -
und tatsächlich haben ja auch viele Menschen einen
Tick, wie jeder im eigenen Bekanntenkreis es sicherlich
schon erfahren hat.
Schlussfolgerungen
Das
Wesen der philosophischen Probleme ist von doppelgesichtigem
Charakter: Einerseits sind philosophische Probleme allgemeine
Probleme, die wir mit allen Menschen teilen - und zwar deshalb,
weil wir alle eine Individualität haben; andererseits
aber sind sie individuelle Probleme - und zwar deshalb,
weil sie Probleme sind, die mit unserer Individualität
zusammenhängen und die erst dann so richtig individuell
werden und uns so richtig individualisieren, wenn wir sie
wirklich nur mehr allein haben und sie mit niemandem mehr
teilen und niemandem mehr mitteilen können.
Gleichzeitig
fällt nun auch ein Licht darauf, was Philosophieren
eigentlich ist: Philosophieren ist eine Entfaltung dieser
Individualität, die wir alle, jeder für sich haben,
die Beschäftigung mit ihr. Einem Menschen, der keinen
Sinn und kein Interesse für das Individuelle hat, dem
muss die Philosophie eines anderen Menschen erscheinen wie
das Anschauen-Müssen von fremden Urlaubsfotos: unerträglich
öde und sinnlos! Ein solcher Mensch wird dann vielleicht
sagen, dass die gehörten philosophischen Ausführungen
ihn deshalb nicht interessieren, weil sie nur persönliche
Meinungen seien, die „von keinerlei allgemeinem Interesse“
sind.
Aber
das stimmt eben nicht, weil das Allgemeinste an uns Menschen
überhaupt das ist, dass wir persönliche Wesen
sind - und weil man, wenn man dieses Allgemeinste an uns
Menschen verstehen will, in denjenigen Bereich hineinkriechen
muss, der am wenigsten verallgemeinerbar ist, nämlich
unsere Individualität. Das Allgemeinste an uns Menschen
ist also, dass wir alle in uns selber eingesperrt sind und
deshalb nicht verallgemeinerbar sind.
Wie
wir jedoch täglich in den verschiedenen Arten von öffentlichen
Diskussionen - seien das wissenschaftliche Diskussionen
oder solche in Zeitungen und Zeitschriften - erleben können,
geht für jene spezifische Art von Problemen, wie sie
die philosophischen Probleme sind, den meisten Menschen
heutzutage jede Sensibilität ab. Vor allem fehlt die
Sensibilität dafür, dass es sich bei philosophischen
Fragen um private, um intime Fragen handelt, die man nicht
so diskutieren kann wie wissenschaftliche, weil dann die
Gefahr besteht, dass man den Menschen, der sie vorbringt,
verletzt.
Philosophische
Erfahrungen und Probleme sind grundsätzlich deshalb
kommunizierbar, weil wir alle eine Individualität haben
und wissen, was es bedeutet, wie schwer es ist, eine Individualität
zu haben. Insofern sind philosophische Fragen allgemein.
Aber unsere Individualität ist zugleich auch dasjenige,
das uns von anderen Menschen trennt – und insofern
sind philosophische Fragen nicht allgemein. Das lässt
sich vielleicht auch so formulieren: Die allgemeinste Erfahrung,
die wir Menschen alle teilen, ist die, dass wir von unseren
Mitmenschen in unserem tiefsten Wesen und Anliegen nicht
verstanden werden, weil unsere Mitmenschen einen anderen
Charakter haben und andere Erfahrungen gemacht haben und
deshalb mit unserem Wesen und unserem Anliegen nichts anfangen
können.
Wir
sollten uns dessen bewusst werden, dass eine philosophische
Mitteilung bedeutet, dass uns ein anderer Mensch in sein
tiefstes Inneres schauen lässt. Mir scheint, die meisten
Menschen verstehen nicht, dass, wenn ein Mensch einen philosophischen
Gedanken vorbringt, er damit von einem Problem oder einer
Ungereimtheit in seiner Innenwelt berichtet, welches auch
in seiner Innenwelt, also in seinem privatesten Bereich,
wieder gelöst werden will – und nicht im öffentlichen
Bereich! Philosophische Diskussionen sind nicht öffentliche
Diskussionen – in diesem Sinn. Öffentlich sind
oder könnten sie nur sein, wenn wir das wollen und
wenn wir es zulassen, weil das Private und das Individualisierende
zugleich das Allgemeinste ist, das uns Menschen alle verbindet.
Von Problemen dieser Art berichtet die Literatur, und sie
sind auch das eigentliche Thema der Philosophie.
![](../images/philohof_kleinhellgrau_denkermitschrift.gif)
Vor
allem aber sollte der Philosophierende selbst nicht vergessen,
dass er beim Philosophieren immer aus dem Privaten, aus
der eigenen Innenwelt schöpft. Er braucht nur in die
Versuchung kommen und sich selber als Teilnehmer an einer
öffentlichen Diskussion betrachten und schon werden
seine Gedanken fade und uninteressant werden. Es hat schon
seinen Grund, warum es dieses Bild vom Philosophen gibt,
der sich für Jahre zurückzieht um nachzudenken:
Wenn man sich daran gewöhnt, nur solche Gedanken zu
denken und zu formulieren, von denen man von vornherein
weiß, dass sie für alle verständlich sein
werden, dann wird es nicht möglich sein, die bestehende
Diskussionswelt um einen neuen Gedanken zu erweitern. Aber
man braucht andererseits auch keine Angst zu haben, dass
man seltsam und unverständlich wird, wenn man zu tief
in sich selber hinabtaucht: Man findet dort nur das Wesen
der (eigenen) Individualität - und dieses ist, im Vorigen
dargestellt, allgemeinmenschlich, selbst wenn man dort Gedanken
und Gefühle findet, die man mit niemandem teilen kann.
14.
Dezember 2006
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