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Über die Philosophie im deutschsprachigen Raum

Rezension: Joachim Jung: Der Niedergang der Vernunft. Kritik der deutschsprachigen Universitätsphilosophie. Campus Verlag, Wien 1997.

 

Auch heute noch ist das 1997 von Joachim Jung im Campus Verlag veröffentlichte Buch Der Niedergang der Vernunft. Kritik der deutschsprachigen Universitätsphilosophie - eine Auseinandersetzung speziell mit der akademischen Philosophie (S. 11) des deutschsprachigen Raums, also mit den „Universitäten Deutschlands, Österreichs und der Deutschschweiz“ (ebd.), (wobei der Autor eingesteht, aus sprachlichen Gründen öfters „deutsch“ geschrieben zu haben, wo „deutschsprachig“ gemeint sei (ebd.)) - als Anregung und Impulsgeber für eine fruchtbare geistige Diskussion über die Verfasstheit der Philosophie und des Philosophierens an den deutschsprachigen Universitäten von unüberschätzbarem Wert. In seinen luziden Analysen bringt uns der Autor die deutschsprachige Universitätsphilosophie näher und erhellt der Leserin/dem Leser Inhalt und Wesen dieses schwierigen, jedoch für Staat und Gesellschaft ungemein bedeutenden Fachs:

„Die philosophische Forschung befasst sich fast ausschließlich mit der Aufarbeitung von historischem Wissensgut, und auch die Titel, die auf eine systematische Auseinandersetzung hinweisen, tragen im wesentlichen nur zusammen, was bedeutende Philosophen der Geschichte zu dem jeweiligen Thema gedacht haben.“ (S. 15)

In einer Welt, die durch Globalisierung immer mehr zusammenwächst, ist es besonders wichtig, sich auf die eigenen Wurzeln zu besinnen, auch und insbesondere für ein Fach wie die Philosophie, das eine so lange und ehrwürdige Tradition zu verteidigen hat. Auch die philosophische Sprachkritik findet bei J. Jung Berücksichtigung, wobei er uns in maßvoller Weise auf einige Fälle hinweist, wo sie übers Ziel hinausgeschossen ist, was jedoch, wenn man die Schwierigkeit der philosophischen Aufgabe bedenkt, nur allzu leicht möglich ist:

„Die philosophische Fachsprache, die heute im Gebrauch ist, legt den Verdacht nahe, dass es dem Autor weniger darum geht, seine Gedanken mitzuteilen, als vielmehr durch die Verwendung des fachspezifischen Jargons seine Zugehörigkeit zur Zunft der Philosophieprofessoren zu beweisen. Die Experten und Meister ihres Faches drücken sich folgendermaßen aus: „Eine indeterminierte, selektive >Verteilung< eines gewissen Repertoires extensionaler und materialer >Elemente< zu einer graduierbaren >unwahrscheinlichen Ordnung< heißt eine Ästhetik.“ Oder: „Die Verselbständigung der Diskursivität und die damit verbundene Aufwertung der Funktionalität bildet die erkenntnistheoretische Voraussetzung dafür, dass in Brunos letztem Werk die Logik Vorrang gegenüber der Ontologie gewinnt.“ Oder: „In seinen (sc. Luhmanns) Kommunikationsbegriff geht die konzeptionelle Gegenlinie zu einer eigenen Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien und funktional differenzierter Subsysteme ein.““ (S. 16)

Die sprachliche Ausdrucksweise ist freilich ein Bereich, der einer ernsten und gewissenhaften Reflexion bedarf, da der Philosophie, ähnlich wie dem Journalismus, eine nicht zu vernachlässigende Rolle in der Aufklärung und Bildung der Bevölkerung zukommt:

„Was in der Universitätsphilosophie stattfindet, ist für Nordhofen die „Umkehrung des journalistischen Prinzips“: „Der Journalist möchte Leuten, von denen er annimmt, dass sie gar nichts wissen, etwas sagen, während der akademische Publizist vor Leuten, bei denen er annimmt, dass sie alle mehr wissen als er, seine Unwissenheit verheimlichen will.“ (S. 17)

Um den großen Aufgaben, die die Öffentlichkeit von der Philosophie erwartet, gerecht werden zu können, ist kollegiale Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Universitätsphilosophen unerlässlich. J. Jung hebt, Eugen Semrau zitierend, diese Zusammenarbeit hervor, indem er gleichzeitig auch hier vor Auswüchsen und Übertreibungen zu warnen scheint, welche einer im Grunde guten Sache zum Schaden gereichen können:

„„In vielen Bereichen der Universitätswissenschaften ist im Laufe der Zeit durch akademische Inzucht ein System nutz- und folgenlosen Produzierens entstanden, ohne Konkurrenz und ohne Außenkontrolle, dafür aber mit fein ausgeprägten Ritualen der Selbstbestätigung. Universitätsmenschen laden sich gerne gegenseitig auf wissenschaftliche Kongresse ein und zitieren einander mit Freude in wissenschaftlichen Abhandlungen. Sie verleihen einander wechselseitig die Insignien der Bedeutsamkeit und verteidigen diese gemeinsam nach außen. Der >vielzitierte Kollege< genießt allseits Respekt, der >geschätzte Vortragende< kann sich seiner nächsten Einladung gewiss sein…““ (S. 19)

Ebenso wichtig ist in einer Welt, in der sich das Wissen alle paar Jahre verdoppelt, die Menge des im Kopf des Philosophen gespeicherten Wissens, seine persönliche Bildung. Um heute fundierte Kritik leisten zu können, benötigt der Philosoph außer dem reinen Denken auch in beträchtlich größerem Maße als früher Sachwissen über die Dinge, die er einer Kritik unterziehen möchte. Umsichtig warnt J. Jung auch hier vor jeder Einschränkung der Bildung und jeglicher dadurch verursachter Kurzsichtigkeit.

„Die Qualifikation eines Universitätsphilosophen bemisst sich nach seiner Bildung: Bücherwissen ist alles in einem Betrieb, der sich fast ausschließlich auf die Geschichte des eigenen Faches beschränkt.“ (ebd.)

Ohne strenges methodologisches Arbeiten wäre modernes akademisches Philosophieren undenkbar. Zentrale Philosophen wie Kant, Hegel oder Heidegger entziehen sich unserem Verständnis, werden ihre Werke nicht einer akribischen Interpretation unterzogen. Ohne ein entsprechendes Verständnis dieser Philosophen würden jedoch die tragenden Säulen der Ethik, der Sozialtheorie und der Wissenschaftstheorie, mithin also das gesamte Gebäude unserer Wissenschaft und Kultur, zusammenbrechen.

„Wie man sich verhalten muss, um zu reüssieren, lernt der Philosophiestudent schon in den ersten Semestern. Es kommt darauf an, „streng am Text zu arbeiten“ und für seine Weltanschauung einen Philosophen zu finden, aus dem man zitieren kann, weil man sonst Gefahr läuft, nicht ernst genommen zu werden. Diese Mentalität lässt sich auch an den Publikationen ablesen. Doktorarbeiten werden in vielen Fällen nach der Sandwich-Methode angefertigt: Zitat – Paraphrase – Zitat – Paraphrase. Welcher Student ist schon bereit, durch die Formulierung eines eigenen philosophischen Ansatzes seine Promotion zu gefährden?“ (S. 20)

Für die das Fortbestehen der Philosophie und ihre Konkurrenzfähigkeit im Rahmen der universitären Forschung kommt es darauf an, die besten wissenschaftlichen Nachwuchskräfte zu entdecken und gezielt zu fördern. J. Jung würdigt das Bemühen der Professoren diesbezüglich, wenn auch in seiner Darstellung ein Unterton der Kritik an eventueller Subjektivität mitschwingt:

„Aus der Zahl der „qualifizierten“ Absolventen sucht sich der Philosophieprofessor in der Regel jenen zum Assistenten aus, der die größte weltanschauliche Nähe erkennen lässt. Bei gleichwertigem Bildungsstand entscheidet die Kongenialität, denn es kommt dem Professor darauf an, dass seine Grundposition und sein Forschungsgebiet auch nach seiner Emeritierung ungeschmälert weiterverfochten werden.“ (ebd.)

Auch die Themenwahl der philosophischen Lehrveranstaltungen wird von J. Jung, Lorenz B. Puntel zitierend, mit kritischem Auge thematisiert, weil sie für die Entwicklung einer zukunftsträchtigen deutschsprachigen Universitätsphilosophie, die international Beachtung finden kann, von zentralem Stellenwert ist. Nur eine Philosophie, die auf der Höhe ihrer Zeit ist und zugleich darauf bedacht ist, die wertvollsten Erkenntnisse aus ihrer Tradition zu bewahren und an die nächste Generation weiterzugeben, kann philosophische Höchstleistungen ermöglichen und zu professioneller Exzellenz aufsteigen:

„Auf allen Ebenen der akademischen Ausbildung scheinen die Themen der Vorlesungen und Seminare einer merkwürdigen Regel zu folgen, nämlich, dass sie mindestens einen Eigennamen enthalten müssen: „Platons Kosmologie“, „Kants Theorie der Subjektivität“, „Hegels Metaphysik“, „Nietzsches Kritik der Moderne“ und so weiter: Auf der anderen Seite sind Vorlesungsthemen, die keine historischen Anklänge enthalten, wie „Erkenntnistheorie“, „Metaphysik“, „Das Leib-Seele-Problem“ usw., außerordentlich selten.“ (S. 76)

Von ebensolcher Bedeutung ist für eine zeitgemäße und innovative Universitätsphilosophie die an den einzelnen philosophischen Instituten herrschende Gesprächskultur, die Diskussionskultur. Auch Schopenhauer hat ja bekanntlich ein kleines Büchlein über die Kunst der Eristik, die Kunst des Streitgesprächs, geschrieben. Diese Kunst zu pflegen muss heutigen Universitätsphilosophen besonders am Herzen liegen, da nur sie die wissenschaftliche und intellektuelle Auseinandersetzung auf dem international fachüblichen Niveau zu erhalten imstande ist, wobei allerdings darauf zu achten ist, dass der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ dabei nicht unter die Räder kommt.

„Zweitens ist es unter deutschen Philosophiepotentaten üblich, einen Gesprächspartner erst abzutaxieren, bevor man mit ihm in einen Dialog eintritt. Die Behandlung des Gegenübers hängt von der Machtposition ab, die jener hat oder die man in ihm vermutet. Ein Student oder ein Mittelbauer wird anders behandelt als ein einflussreicher Lehrstuhlinhaber. Unter den Halbgöttern in Grau herrscht die unausgesprochene Überzeugung, dass man von einem jungen Menschen nichts lernen kann und ein Kollege, der in der Hierarchie unter einem steht, nichts Interessantes zu berichten weiß. Die einzige Funktion, die man einem Nachwuchsphilosophen zugesteht, ist die eines Resonanzbodens für die eigenen Gedanken.“ (S. 168)

Trotz der immensen Anstrengungen, die von den heutigen Universitätsphilosophen im deutschsprachigen Raum unternommen werden, um auf die neuen politischen und gesellschaftlichen Probleme einzugehen und den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden, sind einzelne Probleme nicht zu leugnen: „…mangelnde Resonanz in den Medien, die Verachtung, die einem von den Fachwissenschaften entgegenschlägt, und das völlige Desinteresse der philosophiebewegten Laien“ (S. 173) Diese verleiten den Autor zu einer Schlussfolgerung, die bedauerlicherweise etwas negativ klingt und vielleicht noch einmal überdacht werden sollte:

„Was soll man nun einem jungen Menschen raten, den das Schicksal betroffen hat, sich für Philosophie zu interessieren? Man kann ihm nur empfehlen, den gleichen Weg zu beschreiten, den andere Wissenschaften längst beschritten haben: die geistige Auswanderung in den englischen Sprachraum.“ (ebd.)

Mit dieser „Empfehlung“ malt der Autor, J. Jung, ein Schreckgespenst an die Wand, das uns aufrütteln und uns zu denken geben sollte: den Rückfall der deutschsprachigen Universitätsphilosophie in den internationalen Rankings hinter die angelsächsischen Universitäten! Doch nicht zuletzt liegt der Wert des rezensierten Buches ja auch in der schonungslosen und oft schmerzhaften Kritik, durch die Fehlentwicklungen aufgezeigt und der Weg zum Anschluss an die internationale philosophische Elite gewiesen wird.

Abschließend kann gesagt werden, dass das rezensierte Werk jedem/r Wissenschaftler/in, Bildungspolitker/in sowie philosophisch interessiertem Laien, dem/r das Schicksal der heimischen Universitätsphilosophie am Herzen liegt, wärmstens empfohlen werden kann, leistet es doch einen unverzichtbaren Betrag zur Diskussion um die Neuorientierung der Universitäten und der Rolle der Philosophie in ihnen. Nur ein differenziertes Verständnis der organisatorischen und inhaltlichen Schwierigkeiten eines Faches wie der Philosophie, welches auf eine mehrtausendjährige und äußerst bewegte Geschichte zurückblickt, sowie eine dementsprechende Auffassung der berechtigten gesellschaftlichen Anforderungen an eine universitäre Philosophie in einer durch technische Innovationen und wirtschaftliche Globalisierung veränderten Welt können dazu beitragen, dass der Glanz der philosophia perennis, der ewigen Philosophie, nicht verblasst und geistige Heroen wie Kant, Hegel, Fichte oder Wittgenstein, die nicht nur dem deutschsprachigen, sondern dem globalen Kulturerbe zuzurechnen sind, nicht der Vergessenheit anheim fallen.

23. September 2006

 

© helmut hofbauer 2006