Wie
einer dazu kommt, sich einen Garten ganz genau anzuschauen.
Ein phänomenologischer Jugendroman.
Rezension
von Malcom J Bosse: Ein Garten so groß wie die Welt
(1979)
von
HELMUT HOFBAUER
(11.1.2020)
Malcom
J. Bosse: Ein Garten so groß wie die Welt.
Benziger, Zürich-Köln 1984. (Originalausgabe:
The 79 Squares. Thomas Y. Crowell Junior Books,
New York 1979.)
Vom
stundenlangen Sitzen in einem fremden Garten
Meiner
Meinung nach ist dieses Buch absolut ungewöhnlich –
und meiner Meinung nach checken das viele nicht, die es
gelesen haben (wobei es wohl eher in der angelsächsischen
Welt gelesen worden ist als bei uns).
Das
Erstaunliche ist, dass darin erzählt wird, wie ein
junger Bursch, Eric, sich dazu bereitfindet, in einem fremden
Garten je eine Stunde lang in einem von ihm selbst abgesteckten,
vier Quadratmeter großen, Feld zu sitzen und diesen
Vorgang so lange zu wiederholen, bis er alle 79 Felder,
aus denen der Garten besteht, durch hat. (Das Buch heißt
im Original „The 79 Squares“ – die 79
Felder; bei der deutschen Ausgabe hat man sich diesen Titel
offenbar nicht getraut.) Das tut Eric auf das ungreifbare
und abstrakte Versprechen eines alten Mannes hin, ihm den
Garten „zu sehen lehren“.
Also
wenn das keine abgefahrene Geschichte ist!
Tatsächlich
lernt Eric beim Sitzen in Mr. Becks Garten auch etwas. Er
borgt sich Bücher aus der Stadtbücherei aus, um
all die verschiedenen Pflanzen und Tiere, die er in dem
Garten sieht, bestimmen zu können. Sein Wissen in Biologie
nimmt also zu.
Was
sicherlich auch zunimmt, ist seine Geduld mit den Dingen.
Welcher Jugendliche hat schon die Geduld, seine Sommerferien
in abgesteckten Feldern in einem fremden Garten zu versitzen?
Geduld mit den Dingen ist durchaus eine Fähigkeit,
und Eric lernt sie ausführlich. Was er aber bis zum
Schluss nicht weiß, ist, wozu das ganze denn gut sein
soll.
DIE
79 FELDER
„„Schnitze
vier Holzpflöcke – für die Schnur.
Binde die – Schnur an die – Pflöcke.“
Er mußte anhalten, um Luft zu schnappen. […]
Innerhalb
einer halben Stunde hatte Eric aus dem Ast einer Pappel
die vier Pflöcke geschnitzt und die Schnur daran
befestigt. […]
„Gut!“
lobte Mr. Beck mit geschürzten Lippen. „Und
jetzt nimm das Zeug, geh damit zur Südwestecke
des Hauses und steck ein Feld ab.“
Eric
tat es. Die helle Schnur war straff zwischen den Pflöcken
gespannt.
„Klettere
hinein!“ befahl Mr. Beck. […]
„Da
drinnen bleibst du jetzt eine Stunde. Dann nimmst
du die beiden äußeren Pflöcke heraus
und steckst sie auf der anderen Seite wieder in den
Boden, damit das zweite Feld unmittelbar an das erste
anschließt. Kapiert?“
Eric nickte.
„Und
dann setzt du dich in das neue Feld und bleibst eine
Stunde drin.“ […]
„Du
gehst ein Feld nach dem anderen durch“, erläuterte
Mr. Beck jetzt. „Bis du den ganzen Garten kennst.
Alle neunundsiebzig Felder.““
S.
60-61.
|
Warum tut er’s denn?
Die
Frage, die sich daher ein jeder Leser, der bei Verstand
ist, stellen sollte, ist: Warum tut er es dann? Warum lässt
sich Eric von Mr. Beck dazu überreden, sich je eine
Stunde in ein vier Quadratmeter großes Feld des Gartens
zu setzen, auf das bloße Versprechen hin, dass es
interessant sein werde?
Die
erste Antwort, die mir dazu einfällt, ist, dass Eric
überall sonst ja auch nichts lernt. Er riskiert also
nichts weiter als einen Teil seiner Lebenszeit, wenn er
diesem möglicherweise verrückten alten Mann ein
Stück weit folgt. Es fallen keine weiteren Kosten für
ihn an.
Was
die Kosten betrifft, hat vor allem die Schule Eric weit
ins emotionale und existenzielle Minus gedrückt. Zuerst
einmal dadurch, dass er in ihr nichts gelernt hat, was seinen
Lernbedarf und sein Lernbedürfnis befriedigt hätte.
Um sich für diese Misshandlung zu revanchieren hat
Eric, gemeinsam mit einem Freund, die Fenster des Schulhauses
mit Steinen eingeschossen.
Die
Gesellschaft hat die Handlung der beiden Jugendlichen freilich
nicht aus dieser Perspektive und mit Nachsicht interpretiert.
Seitdem müssen Eric und Bones sich alle zwei Wochen
(jeder für sich) bei Polizeiinspektor Nolan melden.
Sie stehen unter Bewährung. (Übrigens scheint
die Schule, an der sie sich gerächt haben, so etwas
wie eine Junior High School zu sein – fest steht jedenfalls,
dass nach den Sommerferien der Aufenthalt in einer weiteren
Schule auf Erics Lebensprogramm steht.)
DIE
SCHULE
„Die
Geschichte war knapp vor Schulschluß passiert.
Bones und er waren in Larrys Restaurant gewesen, hatten
sich dann auf die Räder gesetzt und waren losgebraust:
mit einer Mordswut im Bauch, ohne besondere Absicht,
einfach genervt von dem Gedanken an die Schule und
die Zukunft ganz allgemein. Und sie mußten den
Druck irgendwie loswerden. So waren sie dahingeradelt,
und plötzlich starrten ihnen in der Abenddämmerung
die Fenster des Schulhauses entgegen. Ihre Schule,
von der sie nun bald abgehen würden. Ihre Schule,
in der man sie gedemütigt, verraten und schamlos
ausgenutzt hatte.“
S.
12.
|
Erics
soziale Umwelt
Die
soziale Situation, in der Eric steckt und, wie jeder Jugendliche,
gefangen ist, erinnert mich an mein eigenes Heranwachsen
(obwohl ich in einem ganz anderen sozialen Milieu aufgewachsen
bin), und ich mutmaße deshalb, dass sie in den wesentlichen
Zügen oder Rahmenbedingungen typisch für das männliche
Geschlecht der menschlichen Rasse ist.
Wenn
ich versuche, diese soziale Situation zu charakterisieren,
dann würde ich sie als einen Mangel, beziehungsweise
eigentlich: als ein absolutes Fehlen an Ansprechpartnern/Bezugspersonen
beschreiben, mit denen man sich als junger Mann über
seine eigenen Erfahrungen und Zukunftspläne austauschen
kann.
Gehen
wir die wichtigsten Bezugspersonen in Erics Leben der Reihe
nach durch.
1.
Die Mutter
Erics
Eltern sind wohlhabend, sie wohnen in einer „guten“
Wohngegend. Armut ist also nicht schuld an Erics sozialer
Verwahrlosung. Von Erics Mutter erfahren wir, dass sie sich
so intensiv für verschiedene Wohlfahrtskomitees engagiert,
dass ihr die Zeit für die Hausarbeit abgeht. Erics
Mutter ist ein Fixstern im gesellschaftlichen Leben der
Stadt, aber ein Komet in Erics Leben – jemand, der
mal schnell hastig vorbeiläuft und dabei den Kopf schon
wieder bei anderen Dingen hat. Eine Ansprechpartnerin ist
die Mutter für Eric nicht.
Diese Beschreibung mag wie ein Vorwurf gegen die Mutter
klingen, aber das würde zu kurz greifen: Zu hinterfragen
wäre nämlich auch dieses soziale Spiel von Wohlfahrtskomitees
und Dinner Partys, das eine Gesellschaft wie die amerikanische
veranstaltet, um die Rolle der Frau in der Gesellschaft
aufzuwerten und das für die Frauen in der Folge auch
mit Zwängen (jedes Mal dabei sein zu müssen) verbunden
ist. Möglicherweise hat die Mutter die Alternativen,
sich entweder aus dem ganzen Wohlfahrts-Business herauszuhalten
– dann hat sie Zeit, aber keine sozialen Beziehungen
– oder sich heftig darin zu engagieren – dann
hat sie soziale Beziehungen, aber für nichts sonst
Zeit mehr.
DIE
MUTTER
„Auf
dem Frühstückstisch standen die Teller und
Gläser und warteten auf die Haushaltshilfe, die
nun jeden Tag kam, seit Erics Mutter pausenlos für
ihre zahllosen Wohlfahrtskomitees unterwegs war.“
S.
14.
„Seit
sie sich in den vielen Komitees engagierte, gab es
kaum noch einen Abend, an dem sie nicht zu einer Dinner
Party mußte.“
S.
52.
|
2.Der
Vater
Erics
Vater ist Börsenmakler. Er hat also einen Beruf, den
nicht jedermann hat. Trotzdem schafft er es nicht, für
Eric ein Rollenvorbild zu sein. Ganz im Gegenteil: Was Eric
von seinem Vater wahrnimmt, ist, dass er von seiner Arbeit
aufgefressen wird. So hat er sich zum Beispiel eine Heimwerkerausrüstung
gekauft, nur um kurz danach festzustellen, dass er für
dieses Hobby ohnehin keine Zeit hat. Erics Vater hat aber
nicht nur keine Zeit für ein Leben neben der Arbeit,
er hat vor allem keine Energie dafür. Wenn er von der
Arbeit heimkommt, ist er gerade noch zum Fernsehen fähig.
Es
ist kein Wunder, dass Eric, wenn er seinen Vater betrachtet
und sich fragt: „Welches Leben möchte ich in
Zukunft einmal führen?“ – sagt: „Nein,
danke! So ein Leben will ich nicht.“
Und
ich glaube, so geht es den meisten Söhnen mit ihren
Vätern. Es scheint gerade so zu sein, als hätte
die Gesellschaft keine attraktiven beruflichen Positionen
anzubieten. Warum kann es nicht so sein, dass Eric stolz
ist, dass sein Vater Börsenmakler ist und es nicht
erwarten kann, diesen Beruf einmal selbst auch zu ergreifen?
Haben wir es hier nur mit der Unfähigkeit eines Vaters
zu tun, seinem Sohn die Vorzüglichkeit und das Privileg
seines Berufs und der damit verbundenen sozialen Stellung
zu kommunizieren? In dem Fall würde die „Schuld“
beim Vater liegen.
Trotzdem
ist es erstaunlich: Wir haben es hier mit einem Vater zu
tun, der einen guten Beruf hat und wahrscheinlich ordentlich
Geld verdient – und dennoch sieht sein Sohn ihn an
und sieht dabei keine Zukunft für sein eigenes Leben.
DER
VATER
„Auf
dem Schoß hatte er ein kleines Notizbuch und
den Taschenrechner liegen. Er hämmerte auf die
Tasten ein und war ganz in seine Arbeit versunken;
wahrscheinlich berechnete er Aktienkurse.“
S.
49.
„Dort
befand sich die komplette Heimwerkerausrüstung,
die Vater letztes Jahr in einem Anfall von Enthusiasmus
gekauft hatte, um sich ein neues Hobby zuzulegen.
Wie üblich hatte der Eifer kaum eine Woche angehalten,
bis Vater erkannte, daß ihm nach der täglichen
Arbeit für nichts anderes Zeit blieb, als zu
essen und dann im Halbschlaf vor dem Fernseher zu
hocken.“
S.
76.
|
3.
Der kleine Bruder
Eric
teilt mit seinem kleinen Bruder Roddy das Zimmer. Er hat
Roddy gern, kann aber nicht mit ihm reden, weil Roddy sich
in einer anderen Entwicklungsphase befindet als Eric. Roddy
hat ein starkes Bedürfnis, seine motorischen Fähigkeiten
zu entwickeln, und als jemand, der auch einmal eine Schule
besucht hat und weiß, wie stark die soziale Stellung
in der Klassenhierarchie von den sportlichen Leistungen
abhängt, habe ich dafür vollstes Verständnis
für Roddy.
Aber
Eric ist jetzt auch einem anderen Trip: Er ist auf Sinnsuche
und macht sich Gedanken über sein zukünftiges
Leben. Daran aber hat Roddy kein Interesse. Roddy befindet
sich, sagen wir das einmal so, noch im beneidenswerten Paradies
kindlichen Spiels. Dieses Paradies ist zwar auch nicht immer
lustig, aber eben doch beschränkt, derart, dass Roddy
sich ohne Gedanken an die Zukunft den ganzen Sommer lang
dem Ballwerfen widmen kann.
DER
KLEINE BRUDER
„„Du
redest überhaupt nicht mehr mit mir“, grollte
Roddy.
„Der
Bruder von Peter Brook – Keith heißt er
und ist in der Klasse über dir -, der übt
jeden Nachmittag mit ihm Ballwerfen. Deshalb kann
Peter jetzt so gut fangen.“ […]
Eric
blickte ihn von der Seite an. Er hätte sich Roddy
gern anvertraut. Noch vor einem Jahr waren sie regelrechte
Kumpel gewesen; aber in letzter Zeit hatte sich das
irgendwie geändert. Es schien, als würde
er immer älter und Roddy immer jünger. Sie
hatten kaum noch etwas gemeinsam. Roddy interessierte
sich nur noch für die Sportresultate und fürs
Balltraining. […]
Sie hatten einander nichts mehr zu sagen. Der Altersunterschied
war unüberwindlich.“
S.
53-54.
|
4.
Die große Schwester
Mit
seiner großen Schwester Susan kann Eric leider auch
nicht reden. Oder sollte ich nicht besser sagen: Gerade
mit ihr kann Eric überhaupt nicht reden. Susan ist
sich nämlich gerade der sozialen Macht ihrer weiblichen
Reize bewusst geworden, und diese Reize heben sie in eine
ganz andere Liga als die, in der Eric spielt. Sie ist damit
nämlich imstande, ältere Burschen für sich
zu interessieren, sogar solche, die schon studieren. Damit
ist sie, die kaum älter ist als Eric, ihm gleichsam
schon in die Erwachsenenwelt entwischt.
Es
gibt kaum eine Fähigkeit, die Eric besitzen könnte,
die ihn in die Lage versetzen würde, von Studenten
ernstgenommen zu werden. Susan besitzt zwar auch keine solche
Fähigkeit, aber sie besitzt einen Körper, der
in die Phase der Pubertät gekommen ist und weibliche
Formen angenommen hat. Diese Formen reichen, obwohl Susan
als pummelig und nicht als besonders attraktiv beschrieben
wird, ganz und gar aus, um in ein ganz andere soziale Dimension
katapultiert zu werden als Eric und um ihren jüngeren
Bruder von oben herab behandeln zu können.
Man
könnte definieren: Ein junger Mann ist ein Mensch,
dem die weiblichen Reize eines Mädchens fehlen. Susan
jedenfalls ist sich, wie aus der Beschreibung ihres Verhaltens
hervorgeht, der sozialen Macht, die mit ihrer Weiblichkeit
verbunden ist, bewusst. Es ist verständlich, dass sie
sich mit Danny Richmond beschäftigt, weil dieser Student
in der Reichweite ihres Handelns liegt, ebenso wie es verständlich
ist, dass Eric sich mit den Gräsern und Insekten innerhalb
von vier Quadratmeter großen Feldern beschäftigt,
weil kein anderer Mensch in seiner Altersklasse oder älter
für ihn erreichbar ist.
DIE
GROSSE SCHWESTER
„Und
jetzt fühlte er, wie sie ihn abschätzend
betrachtete. Er blickte von seinem Marmeladenglas
auf und war keineswegs besänftigt von ihrem Lächeln.
Es war nicht amüsiert-verächtlich wie sonst;
es war anders: berechnend, analysierend. Susan wollte
etwas von ihm.
Er
hatte sich nicht geirrt. Plötzlich schnurrte
sie: „Tust du mir einen Gefallen?“ Den
Tonfall kannte er; so sprach sie mit ihren Eroberungen.
„Das
kommt darauf an“, erwiderte er vorsichtig.
„Wenn
du Danny Richmond siehst, bestell ihm einen Gruß
von mir.“
Danny
Richmond war Badewärter im Schwimmbad –
ein Student, groß, schlank und blond.“
S.
56-57.
|
5.
Die Nachbarin
Auch
die Nachbarin, Mrs. Wilson, bietet ein Bild der Wohlstandsverwahrlosung.
Sie stellt für Eric gewiss auch ein Hinweis dafür
dar, dass Wohlstand die Lebensprobleme eines Menschen nicht
lösen kann, denn Mrs. Wilson hat alles, was sie zum
Leben braucht, aber es geht ihr nicht gut.
Umgekehrt
hat Mrs. Wilson aber auch alle Zeit der Welt, und sie hätte
also etwa die Zeit für die Heimwerkerausrüstung,
die Erics Vater fehlt. Aber sie unternimmt nichts. Wiederum
erhebt sich die Frage nach Frauen- und Männerschicksalen:
Können wir uns einen Mann vorstellen, der das gleiche
Verhalten wie Mrs. Wilson – nur ohne lackierte Zehennägel
– an den Tag legt? (Oder spielt Mrs. Wilson eben die
Rolle einer reichen Frau, die sie deshalb spielen kann,
weil sie einen reichen Mann hat, und zwar einen, der möglicherweise
deshalb nie da ist, weil er mit Geldverdienen beschäftigt
ist?)
MRS.
WILSON
„Mrs.
Wilson war etwa in Mutters Alter, aber kinderlos;
eine reiche Frau, deren Mann sich selten blicken ließ.
Sie tat ihm leid: eine gelangweilte Person mit Sommersprossen
und lackierten Zehennägeln, die den ganzen Tag
nichts anderes zu tun hatte, als unter einem Sonnenschirm
im Garten zu sitzen und sich mit Whisky vollaufen
zu lassen.“
S.
76-77.
|
6.
Die Bande
Was
wäre die Alternative zu den Mitgliedern seiner Familie?
Die Alternative wäre natürlich, dass Eric die
Kameradschaft mit gleichaltrigen Burschen sucht. Das erschiene
uns erwartbar und verständlich. Das tut Eric auch,
indem er Aufnahme in eine Bande findet, die aus Zap, Horse,
Superkool und Bones besteht. Aber das bringt ihm kein Glück.
Seine Freunde wissen nämlich, ebenso wie er, nichts
vom Leben. Das einzige, das sie wissen ist, dass ihnen dieses
Leben, das ihnen von der Gesellschaft vorgesetzt wird (die
Schule, das Vorbild ihrer Eltern etc.) auf den Kecks geht,
und sie suchen Mittel und Wege, um daraus auszubrechen.
Einmal
wollen sie Haschisch rauchen, dann tauchen sie ein kleines
Mädchen im Schwimmbad unter, dann trinken sie Whisky
in der Umkleide des Schwimmbads. Es sind das alles Aktivitäten,
die sie in die Kritik der ehrbaren Bürger der Stadt
und in die Nähe der Kriminalität bringen. Tatsächlich
haben sie auch eine Hochachtung vor Kriminellen, weil sie
in ihnen Tugenden wie Mut, Stärke und Entschlossenheit
sehen.
Wieder
muss ich sagen: Man kann sich nicht genug darüber wundern,
denn die Väter von Horse und Superkool sind Rechtsanwälte.
Sie sollten von ihren Söhnen bewundert werden, denn
sie gehören zu denjenigen, die es in der Gesellschaft
geschafft haben. Doch ihre Söhne schauen nicht zu ihnen
auf; ganz im Gegenteil: ihre Söhne können sich
nicht vorstellen, in ihrem Leben einmal denselben Weg zu
gehen wie ihre Väter.
Das
was ihre Väter machen, sieht in den Augen ihrer Söhne
einfach nicht attraktiv aus. Wieder stehen wir vor der Wahl:
Ist diese Gesellschaft so pathologisch, dass dasjenige,
was bewundernswert ist, nicht als bewundernswert wahrgenommen
wird, und dasjenige, das verabscheuungswürdig ist,
als attraktiv erscheint, weil es von der kleinlichen Welt,
in der man sich gefangen fühlt, zu befreien verspricht?
Oder sind die Väter von Horse und Superkool unfähig,
ihren Söhnen die Werte zu vermitteln, die mit ihrer
beruflichen Stellung verbunden sind, und sie für das
zu interessieren, womit sie sich den Großteil ihrer
Lebenszeit beschäftigen?
HORSE
UND SUPERKOOL
„…die
Bande traf sich Tag für Tag – meist in
Larrys Schnellimbiß – bei einem Hamburger
und einer Coca-Cola. […] Wer einmal den täglichen
Treff in Larrys Restaurant versäumte, wurde unweigerlich
anderentags zur Rede gestellt: „Wo bist du gewesen?“
[…]
Er
[Eric, Anm. philohof] bemühte sich vor allem,
guten Eindruck auf Superkool zu machen, denn der galt
mehr als Horse, obwohl Horse um einen Kopf größer
war.
Superkool
war kräftig und muskulös. Er trug sein blondes
Haar betont lang, und die Art, wie er sich gab, bewirkte
zwangsläufig, daß man ihn ernst nahm. Er
hatte immer ein Messer bei sich, und prahlte, daß
er es jedem in den Leib rennen würde, der ihm
vor die Klinge käme.“
S.
5-6.
|
7.
Mr. Beck
Es
ist kein Wunder, dass sich Eric angesichts des Fehlens realer
Vorbildfiguren mit der Zeit Mr. Beck zum Vorbild nimmt.
Aber diese Fährte führt meines Erachtens in die
Irre. Mr. Beck, der alte Herr, der Eric „lehrt“,
seinen „Garten zu sehen“, bietet sich ihm nämlich
gar nicht als Vorbild an. Im Gegenteil, er behandelt ihn
ziemlich schroff und distanziert. Man kommt fast auf den
Gedanken: Eric befindet sich nur deshalb in seinem Garten,
weil er sonst niemanden hat, zu dem er gehen könnte.
Tatsächlich
lässt ihn Mr. Beck zu ihm kommen, und Mr. Beck redet
mit ihm, solange Eric bereit ist, seinen merkwürdigen
Befehlen Folge zu leisten.
MR.
BECK
„Er
war ein einsamer Held, wie Mr. Beck, einer, den die
feine Gesellschaft mit Verachtung straft. Er hatte
keine Lust, ein Börsenmakler zu werden wie sein
Vater, ein Rechtsanwalt wie der Vater von Horse und
Superkool, oder sonst irgendein stinkanständiger,
ehrsamer Bürger.“
S.
90.
|
Die
Suche nach sozialen Krücken oder die Anerkennung des
Alleinseins
Hier
ist auch der Punkt, an dem ich glaube, dass viele LeserInnen
in der Interpretation dieser Geschichte fehlgehen. Ich habe
nämlich, wie üblich, wieder einige Rezensionen
auf goodreads.com und Amazon.com gelesen und erfahren, dass
die meisten Menschen offenbar glauben, es gehe darin um
die unwahrscheinliche Freundschaft zwischen einem jungen
Burschen und einem 82 Jahre alten Mann.
WAS
ANDERE LEUTE ÜBER DAS BUCH SAGEN.
“Then
one day he meets mister Beck. While nobody wants Solo
to hang with this old man (82), Eric doesn't care.
Beck is his friend, his only friend, and he won't
let him go. This is a story about friendship, patience
and seeing the world beyond yourself.”
(Ilja,
6. Nov. 2019)
„However,
the book communicates valuable themes about making
cross-generational friendships, not judging a person
by his past, and of connecting with nature.”
(Sheila,
4. März 2017)
“This
is a book that I stumbled upon while in Middle School
a little over 30 years ago. I fell in love with the
book then because the message that it provides the
reader with regarding perspective is, in and of itself,
a good reason to read the book. There are other tween
themes, elderly themes and the overarching theme of
friendships of all shapes and sizes.”
(Rejennevate,
13. Februar 2019)
“The
79 Squares is a poignant coming-of age tale about
friendship, love and trust.”
Auf
google.books
|
Die
Frage ist, warum die meisten LeserInnen die Botschaft die
Buchs soweit verfehlen? Die Antwort auf diese Frage scheint
mir folgende zu sein: Wir können es uns nicht vorstellen,
dass ein Mensch innerhalb der Gesellschaft allein und isoliert,
sozusagen intern ausgestoßen sein könnte. So
etwas ist nicht nur „unerhört“, es ist
auch undenkbar. Wir können uns das nicht vorstellen.
Wir haben keine Konzepte dafür. Es fehlen uns die entsprechenden
Erzählungen dazu, auf die wir uns beziehen und mit
denen wir diese Erfahrung vergleichen könnten. Deshalb
denken die allermeisten Menschen, es müsse immer um
Beziehungen gehen. Eine Erzählung könne gar keinen
anderen Inhalt haben als Beziehungen.
Meiner
Auffassung nach handelt dieser Roman davon, dass ein junger
Bursch im Garten eines fremden Mannes in innere Klausur
geht, weil ihm die Menschen seiner Umgebung gar keine andere
(das heißt: bessere) Möglichkeit lassen. Es handelt
davon, dass ein junger Mann von einem Ex-Sträfling
dasjenige lernt, was dieser in 40 Jahren Gefängnis
gelernt hat:
SICH
KONZENTRIEREN
„„Kein
Grund zum Staunen, Eric. Wenn man vierzig Jahre lang
eingesperrt ist, lernt man, was es heißt, sich
zu konzentrieren. Entweder man lernt es, oder man
dreht durch. Meine Zelle war winzig klein; also habe
ich gelernt, sie auszuweiten.“ Mr. Beck breitete
seine zitternden Arme aus, als wolle er damit den
ganzen Garten umfassen. „Ich habe mich in der
Zeit und im Raum verloren.“
Er blinzelte Eric prüfend zu. „Kannst du
dir eigentlich vorstellen, wovon ich spreche?“
„Nicht
genau.“
„Das
denke ich mir. […]“
S.
46.
|
Die
Botschaft des Buchs ist außerdem, dass Eric es auch
lernen muss, sich zu „konzentrieren“, weil seine
Situation nicht besser ist als die eines Gefangenen, obwohl
er nicht im Gefängnis ist und gegenwärtig sogar
Sommerferien hat.
Wenn
ich weiter darüber nachdenke, warum die LeserInnen
das Buch nicht begreifen, dann stelle ich mir auch die Frage:
Wer kann es überhaupt begreifen. Ich bezweifle, dass
es junge Mädchen und Frauen begreifen können,
denn ihnen geht es (oder ging es) wie Susan, Erics Bruder:
In der Pubertät entwickelten sich ihre weiblichen Reize,
und die Burschen – sogar die um einige Jahre älteren
– beginnen sich für sie zu interessieren. Sie
machen die Erfahrung, dass sie begehrt werden, ohne etwas
dafür tun zu müssen – einfach deshalb, weil
sie von Natur aus anziehend sind.
Ja,
und die Burschen oder Männer, die dieses Buch gelesen
haben? Sie könnten genau dieselbe Erfahrung der Isolation
wie Eric gemacht haben, aber ohne sie zu verstehen. Und
was die (mittlerweile) erwachsenen männlichen Leser
betrifft: Sie könnten diese Erfahrung gemacht haben
aber heute denken, sie in der Zwischenzeit überwunden
zu haben. Denn, wie gesagt: Es ist in unserer Gesellschaft
völlig undenkbar und unvorstellbar, so etwas wie eine
überflüssige Drohne im Bienenstock der Menschheit
zu sein, sodass man diese Idee am liebsten so schnell wie
möglich vergisst, wenn sie einen einmal überraschend
besucht hat.
Normalerweise
geht der unbeliebte Mensch ja so vor: Sobald er merkt, dass
er mit seinen körperlichen Eigenschaften seine Mitmenschen
nicht begeistern kann, sucht er sich „soziale Krücken“.
Er liest sich zum Beispiel Wissen an, damit Menschen, die
nicht an seinen Lippen hängen, weil sie sich sexuell
von ihm angezogen fühlen, zumindest deshalb mit ihm
reden, weil er etwas Interessantes zu erzählen hat.
Er memoriert ein paar Witze, um unterhaltsam zu sein oder
beginnt, etwas zu sammeln, um sich interessant zu machen.
(Oft geht das schief, und er sammelt etwas, das nur ihm
allein gefällt.) Später einmal ergreift er einen
gutbezahlten Beruf und macht Karriere. Er strebt nach Wohlstand
und nach Aufstieg in der sozialen Hierarchie, um auf diesem
Weg zu erreichen, was ihm immer verwehrt geblieben ist:
von den anderen Menschen gemocht zu werden.
Aber
er wird natürlich auch weiterhin nicht gemocht; gemocht
werden nur seine sozialen Krücken und seine Nützlichkeit
für andere Menschen. Sobald sie eine Familie gegründet
und sich dadurch, nach traditioneller Auffassung, sozial
stabilisiert haben, glauben viele Männer, sie würden
nun ihrer selbst wegen geliebt. Sie seien endlich „angekommen“,
sie seien auch Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft
geworden. Aber insgeheim haben sie natürlich trotzdem
Angst: „Was, wenn ich meinen Job verliere? Was, wenn
ich meine Nützlichkeit verliere oder gar für meine
unmittelbaren Mitmenschen zur Belastung werde?“
Sie
könnten, mit Mr. Beck, ganz einfach einsehen, dass
sie allein sind. Aber zu diesem Gedanken fehlen ihnen, wie
ich ausgeführt habe, die sozialen Interpretationsinstrumente.
Immer wird uns gesagt, der Mensch sei ein „soziales
Wesen“, was dazu führt, dass die Menschen nicht
lernen, diejenigen sozialen Phänomene wahrzunehmen,
die gegen diese Überzeugung sprechen.
Mit
dem Fehlen von Ansprechpartnern/Bezugspersonen für
Eric habe ich ein solches Phänomen beschrieben. Aber
auch auf der anderen Seite von Erics Alleingelassenheit
spielt sich dasselbe Elend ab: Erics Freunde, denen es genauso
geht wie ihm und die keinerlei Zukunft für sich sehen,
wenn sie ihre Väter und deren Berufe betrachten; oder
Erics Vater und die Väter seiner Freunde, die ihre
Beziehung zu ihren Söhnen schon verloren haben, weil
sie fortwährend mit „Krückensammeln“
beschäftigt sind, um von den Anderen als respektable
Mitglieder der Gesellschaft respektiert zu werden.
Könnte
es sich denn bei all diesen Formen von fehlender oder scheiternder
Kommunikation nicht um erwachsene Männer handeln, die
aus einer gefestigten Identität als „unbeliebte
Menschen“ heraus nach sozialem Anschluss suchen (und
das genaue Gegenteil damit erreichen)?
Erics
Freunde und er können sich noch nicht vorstellen, dass
sie einst auch in dieses fürchterliche männliche
Schicksal des unbeliebten Menschen hineinmüssen –
doch sehr wohl: sie müssen. Was ich damit sagen will,
ist, dass Männer diesen Weg der sozialen Isolierung
und Vereinsamung gehen, ohne ihn zu begreifen, weil er so
eine „Das-kann-doch-nicht-sein-Idee“ darstellt,
und dass sie in der Folge immer wieder in die Auffassung
„Wir sind doch alle soziale Wesen und Mitglieder der
menschlichen Gemeinschaft!“ – zurückfallen.
Aus dem Grund muss Malcom J. Bosses Buch verständlicherweise
für die allermeisten Menschen unverständlich bleiben.
Umso überraschender und eigentlich völlig unbegreiflich
ist es, dass es überhaupt geschrieben worden ist!
Wahrnehmungen
kann man nicht teilen
Einen
Höhepunkt hat das Buch für mich an der Stelle,
an der Eric auf einen Baum klettert und den Garten von Mr.
Beck während eines heftigen Gewitters beobachtet. Wieder
würde man sagen: Warum sollte jemand, der bei Verstand
ist, so etwas tun? Nun, Malcom J. Bosse erklärt nichts,
aber er stellt einiges Merkwürdige vor den Leser hin,
das dieser so oder auch anders interpretieren kann.
Der/die
LeserIn könnte sich zum Beispiel sagen: „Eric
hat den Garten Mr. Becks bereits viele Stunden lang bei
Sonnenschein betrachtet, jetzt möchte er ihn einmal
– zur Abwechslung – bei Regen sehen.“
Das mit der Abwechslung mag auch ein Stück weit stimmen,
aber es erklärt das größere Bild nicht.
Dieses größere Bild tritt dann in unser Bewusstsein,
wenn wir uns wieder daran erinnern, dass Eric ja gar nichts
dazu zwingt, in Mr. Becks Garten zu gehen und dort 79 Stunden
in 79 Feldern zu sitzen. Das größere Bild besagt,
meiner Interpretation nach, dass Eric nichts Besseres zu
tun hat, als zu Mr. Beck zu gehen, dass es die am wenigsten
schlechte Alternative ist, die er wählen kann.
So
verhält es sich, glaube ich, auch bei seinem Entschluss,
auf die Eiche zu klettern, als die ersten Regentropfen zu
fallen beginnen und dort das ganze Gewitter hindurch verharrt,
während in den Nussbaum ein paar Meter weiter, der
Blitz einschlägt: So handelt jemand, der versucht,
allein mit der Natur klarzukommen. So verhält sich
jemand, der weiß, dass er allein ist und der versucht,
sein Allein-Sein unter verschiedenen Umständen zu erleben
und auszuhalten. So verhält sich jemand, der es übt,
allein zu sein. (Ich glaube, Erics Schwester Susan wäre
nie auf so eine Idee gekommen – dafür ist sie
viel zu sehr ein „soziales Wesen“.)
Das
heißt aber nicht, dass sich Eric seiner sozialen Ausgestoßenheit
in vollem Ausmaß bewusst ist. Er ist schließlich
auch ein Mensch, und Menschen wollen immer mitleben, sie
wollen immer in Gemeinschaft leben, selbst wenn sie aus
der Behandlung, die andere ihnen angedeihen lassen, lernen
könnten, dass sie de facto nicht mehr Mitglieder einer
Gemeinschaft sind. So kommt es, dass Eric, nachdem es zu
regnen aufgehört hat, ein schlechtes Gewissen hat,
weil er Mr. Beck während seines aufregenden Erlebnisses
auf dem Baum vollkommen vergessen hat.
Doch
Mr. Beck rückt ihm den Kopf zurecht, indem er Eric
erklärt, es sei unmöglich, jemand anderen mitzunehmen,
wenn man etwas wahrnimmt. Die Wahrnehmung sei ein ganz subjektiver,
persönlicher Vorgang der Weltaneignung, der andere
Menschen ausschließt. Man bedenke nur einmal die Relevanz
dieser Behauptung in einer Gesellschaft wie der unseren,
die versucht, alles zu vergemeinschaften, auch die Wahrnehmung,
indem uns beispielsweise weisgemacht wird, wissenschaftliches
Wissen sei solches, dass von mehreren Menschen übereinstimmend
wahrgenommen worden sei. Die Wissenschaft glaubt, uns damit
etwas Gutes zu tun; in Wirklichkeit nimmt sie uns aber unsere
Wahrnehmungen weg (das heißt unser Anrecht auf unsere
eigenen Wahrnehmungen).
Mr.
Beck reagiert da ganz anders, er sagt, sein Garten „gehöre“
Eric, weil niemand sich bis dahin die Zeit genommen habe,
ihn so genau zu betrachten, wie Eric das getan hat. Aber
das alleinige Eigentum der eigenen Wahrnehmungen hat natürlich
auch seinen Preis: Eric kann sie nicht mit anderen Menschen
teilen. Er kann ja nicht einmal irgendjemandem in vernünftiger
Art und Weise erklären, was er in Mr. Becks Garten
gemacht hat, denn er weiß: Es klingt zu verrückt;
niemand würde es verstehen! Superkool hat Eric in Mr.
Becks Garten beobachtet, aber was könnte Eric ihm erzählen?
Er könnte anfangen, ihm die Angelegenheit zu erklären
– aber bis zum Ende versteht sie Eric selber nicht.
JEMAND
ANDEREN IN DIE EIGENEN WAHRNEHMUNGEN MITNEHMEN WOLLEN
„„Wie
ist das? Wolltest du mich – mitnehmen?“
Mr. Becks Stimme klang fest, kalt, vorwurfsvoll. „Weißt
du denn nicht, daß das unmöglich ist? Wenn
du etwas siehst, dann siehst du es. Du kannst andere
nicht mitnehmen, Eric. So wie ich dich nicht in meine
Bilder mitnehmen kann, die dir nicht gefallen.“
Eric
wollte protestieren, aber Mr. Beck hob abwehrend die
Hand und brachte ihn zum Schweigen. „Du magst
meine Bilder nicht“, stellte er fest. „Warum
solltest du sie auch mögen? Sie sind das Ergebnis
meiner Betrachtungen. Ich habe viel Zeit dafür
aufgewendet, das Gefängnis zu sehen. Also gehört
das Ergebnis mir – so, wie dieser Garten dir
gehört. Ich habe dir nur einen Weg gezeigt und
eine Gelegenheit geboten, mehr nicht. Versuche nicht,
mich mitzunehmen. Was du siehst, gehört dir.“
S.
137.
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Im
Titel meines Aufsatzes habe ich dieses Buch als „phänomenologischen
Jugendroman“ bezeichnet. In der Phänomenologie
geht es ums Wahrnehmen, um die eigene Anschauung. In Malcom
J. Bosses Roman Ein Garten so groß wie die Welt
geht es meiner Auffassung nach um den notwendigen Grad an
Vereinsamung und Entsozialisierung, der Vorbedingung dafür
ist, dass ein Mensch damit beginnen kann, die Dinge genau
anzuschauen, dass er damit beginnt, wie Mr. Beck sagt, sich
zu „konzentrieren“.
(An
dieser Stelle darf ich eine Spitze gegen die Phänomenologie
nicht vergessen: Sie wird als eine -logie bezeichnet, und
schon von ihrem Gründer, Edmund Husserl, wurde sie
als eine -logie bezeichnet, weil man nicht verstanden hat,
dass Wahrnehmungen nicht auf andere Personen übertragbar
sind. "Phänomenologie" hat so ungefähr
die Bedeutung: "Wir nehmen alle gemeinsam zur selben
Zeit dasselbe wahr." Aber so funktioniert die Wahrnehmung
von Phänomenen eben genau nicht. Man hat die Phänomenologie
also schon ganz von Anfang an grundverkehrt aufgesetzt.)
Damit
ein Mensch beginnen kann zu schauen, muss er aus seinen
Beziehungen zu anderen Menschen herausfallen, er muss auf
sich selbst zurückfallen. Die Dinge anzuschauen ist,
wie auf unabsehbar lange Zeit in einem Gefängnis eingesperrt
zu sein. Man muss aufhören, ein Mensch zu sein, ein
Mensch unter Menschen zu sein, auch wenn das ein ganz unvorstellbarer
Gedanke ist. Man muss auf das fortwährende zerstreuende
Geschwätz der Menschen verzichten und ist dadurch gezwungen
zu schauen. Man muss tatsächlich dazu gezwungen sein,
denn wenn man Spaß mit seinen Freunden haben kann,
dann macht man lieber etwas anderes als zu schauen.
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