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Dissertation: Bezugspunkt Gesellschaft

 

Eine Oma erlebt den Widerstreit zwischen Moral und Ethik - und die Ethik landet einen Etappensieg

Rezension von: Vera Ferra-Mikura: Die Oma gibt dem Meer die Hand. Jungbrunnen, Wien 1982. 93 Seiten.

Titelbild: Vera Ferra-Mikura: Die Oma gibt dem Meer die Hand (1982)

Manchmal liest man ein ganz außergewöhnliches Buch. Ein Buch, das einem ganz besonders viel Freude macht. Vera Ferra-Mikuras Buch Die Oma gibt dem Meer die Hand ist ein solches Buch für mich.

Nach einer Rezension, die ich im Internet gelesen habe, handelt es davon, dass alte Menschen auch noch Wünsche haben können. Aber der Leser oder die Leserin, der/die das geschrieben hat, hat das Buch wohl nicht verstanden.

Ich habe überhaupt das Gefühl, dass dieses Buch nur ich verstehen kann, weil den anderen Menschen die philosophischen Voraussetzungen dafür fehlen. Deshalb will ich in einem kurzen Text festhalten, worum es meiner Anschauung nach in diesem Buch geht.

Die Oma gibt dem Meer die Hand ist eine Erzählung, in der Moral und Ethik in Widerstreit miteinander geraten und die Ethik letztendlich die Oberhand behält – aber es geht sich nur ganz knapp aus, und auch nur durch Zufall.

Die Oma, von der hier erzählt wird, ist ein sehr moralischer Mensch. Sie lebt nur für die anderen Menschen und hat kein eigenes Leben:

KEIN EIGENES LEBEN

„Die Oma nickt. Die anderen sollen zufrieden sein. Dann ist sie es auch.
Sich selber nimmt die Oma nicht wichtig. Sie hat gar keine Zeit dazu.“

Vera Ferra-Mikura: Die Oma gibt dem Meer die Hand. S. 12.

Gleich am Anfang begegnen wir der Oma mit zwei Hunden, die sie in der Urlaubszeit für andere Leute betreut:

FREMDE HUNDE

„Die beiden Hunde, die an den Leinen zerren, gehören nicht ihr.
Der weiße Hund gehört einer Frau vom Nachbarhaus. Der schwarze gehört der Familie, die im Hinterhof wohnt.
Immer, wenn diese Leute Urlaub machen, geben sie der Oma die Hunde in Pflege.“

Ebd., S. 7.

Was macht die Oma sonst noch alles? Vor allem macht sie viel für ihre Familie. Das sind ihre Tochter, Lotte, deren Mann, Erich, und deren Kinder, Julia und Hannes.

  • Sie wäscht die Feinwäsche (Blusen, Hemden, Pullis) mit der Hand in einer Plastikwanne und trägt sich dann gebügelt in die Wohnung ihrer Tochter in die Krautschneidergasse;
  • Dort räumt sie auf, wäscht das Geschirr, putzt die Wohnung, macht die Betten, trägt die Decken und Kissen zum Auslüften auf den Balkon;
  • Dann holt sie den Staubsauger von der Firma Moser aus der Reparatur ab;
  • An den Wochentagen betreut sie Julia nach der Schule und versorgt sie mit einem warmen Essen;
  • Mittwochs bringt sie Julia in die Ballettschule;
  • Bislang hat sie auch den kleinen Hannes aus dem Kindergarten abgeholt, aber das soll von jetzt an Julia machen (Auftrag von Vater Erich);
  • Sie näht für Hannes ein Kasperlkostüm für das Kindergartenfest;
  • Sie schenkt ihren Enkeln aufblasbare Tiere für ihren Urlaub am Meer im Griechenland, die aber aus Platzgründen nicht mehr in die Koffer passen.

Die Oma ist ein reiner Pflichtmensch, ganz im Sinne von Immanuel Kants Moralphilosophie:

PFLICHT

„Du bist ein altes Musterkind, das immer brav seine Aufgaben macht!“
Das hat der Schwiegersohn zum Muttertag zur Oma gesagt.
Nach außen hin ist sie auch jetzt die brave Oma, die keine Pflicht versäumt.
Die bescheidene Oma. Die freundliche Oma. Das Hausmütterchen mit der schön gebügelten Schürze.
In ihrem Alltag verändert sich nichts. Die Oma richtet sich nach den anderen. Die Oma ist für die anderen da.“

Ebd., S. 54.

Was die Oma nicht versteht – und was der Philosoph Kant wahrscheinlich auch nicht verstanden hat – ist, dass ihr Leben für andere Menschen ihre Beziehungen zu diesen Menschen nicht verbessert.

Ganz im Gegenteil: Sie könnte sich die ganze Mühe sparen. Ihr Tätigsein für Andere hat im Großen und Ganzen die folgenden Konsequenzen:

  • Sie macht Sachen, die anderen Menschen nicht gefallen (Julia schmeckt das Essen nicht, Hannes gefällt das Kasperlkostüm nicht);
  • Sie macht sich durch ihre Hilfsbereitschaft zu einer kostenlosen Arbeitskraft, die von den anderen Menschen benutzt und ausgebeutet wird;
  • Sie mischt sich mit ihrer Hilfsbereitschaft ungefragt in das Leben anderer Menschen ein und nötigt diese Menschen zu Dankbarkeit oder zumindest dazu, dass sie ihre Arbeit zur Kenntnis nehmen und würdigen (was ihnen unangenehm ist);
  • Die anderen Menschen sind nicht dazu bereit, der Oma einen Gefallen zu leisten, wenn sie einmal etwas braucht.

In Wien wird sein so ein Mensch wie Oma ein „Weh“ genannt:

„Wenn ihr ein Weh braucht, ruf mich an!
Wenn das Telefon nicht besetzt ist oder ich gerade nicht kann,
weil ich wem anderen den Trottel mache, dann komme ich euch eh,
denn ich bin ein echtes Weh!“

Worried Man Skiffle Group: Wenn ihr ein Weh braucht, ruft mich an!

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Ein besonders dramatischer Vorfall, der geschildert wird, ist die Geschichte mit dem Kasperlkostüm. Die Oma verbringt dafür viele Stunden vor ihrer Nähmaschine. Als dann der kleine Hannes vor dem Spiegel steht und weint, kommt er ihr vor wie ein „fremdes Kind“:

KASPERLKOSTÜM

„Auf dieser klapprigen Nähmaschine zaubert die Oma ein Kasperlkostüm für Hannes.
Eine Woche vor dem Kindergartenfest hängt das Kostüm an einem Kleiderbügel. Fein gebügelt und mit Flitter und silbernen Schellen behängt.
„Wo haben Sie das gekauft?“ fragt die Frau aus dem Nachbarhaus, als sie den weißen Hund von der Oma abholt.
Die Oma lächelt ihr braves, höfliches Lächeln.
Sie wird so selten für etwas gelobt.
„Ach selber gemacht“, antwortet sie. „Meinen Sie, daß es meinem Enkel gefallen wird?“
Es gefällt ihm nicht. Währen er sich in dem großen Wandspiegel betrachtet, zupft er an dem seidenen Jäckchen herum.“

Ebd., S. 24.

Auftritt der Ethik. Ethik besteht ja darin, dass wir uns überlegen, was wir wollen und das dann auch umsetzen:

SAVATER BESCHREIBT, WAS ETHIK IST

„Was will ich Dir sagen mit dem „Tu, was Du willst“ als grundlegendem Motto dieser Ethik, an die wir uns herantasten wollen. Ganz einfach – auch wenn es dir schwerfallen wird: Du mußt Dich befreien von Befehlen und Gebräuchen, von Belohnung und Strafe, kurz von allem, was Dich von außen lenken will, und Du mußt diese ganze Angelegenheit aus Dir selbst heraus, aus Deinem Gewissen und freien Willen entwickeln. Frage niemanden, was Du mit deinem Leben anfangen sollst: Frage Dich selbst. Wenn Du wissen willst, wozu Du Deine Freiheit am besten einsetzen kannst, dann verliere sie nicht, indem Du Dich von Anfang an anderen unterwirfst, mögen sie auch noch so gut, weise und angesehen sein…“

Fernando Savater: Tu was du willst. Ethik für die Erwachsenen von morgen. Campus Verlag, Frankfurt 1993. S. 57.

Jetzt ist es nicht so, dass die Oma sich überlegt, was sie mit ihrem Leben anfangen will. Wir erleben in diesem Buch also nicht die Entwicklung eines ethischen Lebensplans. Nein, die Oma hat schon einen Wunsch, einen sehr starken: Sie will das Meer sehen. Es ist das ein Wunsch, von dem die Erzählerin Vera Ferra-Mikura sagt, dass sie der Oma „Flügel wachsen lässt“:

FLÜGEL

„Die Oma träumt mit offenen Augen.
Sie phantasiert.
Sie fühlt, wie ihr Flügel wachsen.
Mit Leichtigkeit schwebt sie aus der Schwalbengasse und aus der Krautschneidergasse fort. Sie läßt alles hinter sich. Die Schmutzwäsche. Den Bügeltisch. Das Strickzeug. Die Staubtücher, Bürsten und Besen.
Weit fort fliegt sie, bis ans Meer.
Einmal davor stehen! Die Finger in die Wellen tauchen! Dem Meer die Hand geben!
Beinahe hört sie das Wasser. Es rauscht vom fernen Horizont heran, es kichert über den Sand zu ihren Füßen.
Ich bin es, dein Ansichtskarten-Meer! Bist du endlich gekommen? Hast du dich endlich getraut?“

Vera Ferra-Mikura: Die Oma gibt dem Meer die Hand. S. 55.

Ein paar Worte zum Wesen von ethischen Wünschen. Ich finde es gut, dass Verra-Mikura den Wunsch der Oma nach dem Meer als einen beschreibt, der „ihr Flügel wachsen“ lässt. Oft wird ja die Glückseligkeit als das Ziel der Ethik beschrieben. Viele Leute können sich aber keine Vorstellung von der Glückseligkeit machen und verwechseln sie deshalb mit dem Genuss. Und dann sagen sie wiederum, dass Genuss unmoralisch sein kann – und kippen damit wieder in ein Gleis, auf dem sie die Ethik express verlassen.

In Wirklichkeit ist die Glückseligkeit einfach ein momentanes Gefühl, das uns begleitet, wenn wir in unserer persönlichen Entwicklung einen Schritt vorankommen. Die Oma spürt, dass es für ihre persönliche Entwicklung – obwohl sie schon alt ist – einen Unterschied macht, ob sie das Meer sieht oder nicht. Die Oma ist noch nie am Meer gewesen. Im Leben eines anderen Menschen würde das überhaupt keinen Unterschied machen.

Wir haben es bei verschiedenen Menschen ja auch mit unterschiedlichen Persönlichkeitsentwicklungen und unterschiedlichen Entwicklungsstufen zu tun. Deshalb ist Ethik etwas sehr Persönliches und nicht etwas wie Moral, das sich an allgemeine Regeln hält.

Es ist nun etwas sehr Ungewöhnliches für einen moralischen Pflichtmenschen, der lebt wie ein Stück Gemüse, tagaus- tagein die Routinen der Pflicht runterspult, dass er einmal eine Idee davon fasst, was er eigentlich tun will und dann tatsächlich auch etwas tut. Das ist gewissermaßen der unglaubwürdige Aspekt dieser Erzählung. Aber nehmen wir das einmal hin, man kann ja nicht alles in einem kurzen Kinderbuch erzählen.

Nachdem die Oma nun ihren Entschluss gefasst hat, allein ans Meer zu fliegen (nach Nordafrika, weil ihre Familie nach Griechenland fliegt und sie ihren Leuten nicht begegnen will) und mit den Reisevorbereitungen beginnt, da kommt ihr wieder die Moral in die Quere – und zwar in Gestalt von zwei Schildkröten:

SCHILDKRÖTEN

„Magst du Schildkröten?“ [S. 66]
[…] „Warum“ fragt sie vorsichtig.
Ein kurzes Schweigen entsteht. Dann sagt Julia:
„Weil die Natascha die Schildkröten für mich mitbringt. Sie schenkt mir alle zwei.“
„Das begreif ich nicht“, sagt die Oma. „Jetzt? Du kannst die Schildkröten doch nicht nach Griechenland mitnehmen.“
„Ich hab‘ gedacht – du, Oma – von anderen Leuten nimmst du Hunde und Katzen – und daheim bleibst du sowieso – und so einsam wärst du dann auch nicht – stimmt doch?“

Ebd., S. 65-66.

Nun, was will die Oma. Wie man in den Wald ruft, so schallt es zurück. Die Oma hat sich ihren Mitmenschen als jemand präsentiert, auf den man einfach zugreifen, über den man einfach verfügen kann – und ihre Enkelin Julia hat das gelernt und möchte das jetzt in Anspruch nehmen.

Panisch läuft nun die Oma überall umher und sucht bei den Leuten, denen sie vorher geholfen hat, Unterstützung. Aber niemand will ihr die Schildkröten abnehmen.

SCHILDKRÖTEN 2

„Die Leute vom Hinterhof lassen die Oma draußen auf dem Fußabstreifer stehen.
„Wir haben Besuch“, sagt die Frau.
„Ist es wichtig? Hat es nicht Zeit bis morgen? fragt der Mann im Hintergrund.
Die Oma schüttelt den Kopf und geht.
Sie hat schon bei mehreren Leuten angefragt, ob sie die Schildkröten nehmen könnten. Für zwei Wochen bloß. Und natürlich würde die Oma dafür bezahlen. Da haben die Leute dreingeschaut, als sollten sie ein Krokodil bei sich einquartieren.“

Ebd., S. 68.

Zum Glück geht dieser Kelch per Zufall an der Oma vorbei. Natascha, die Schulfreundin von Julia, versöhnt sich mit einem anderen Mädchen und schenkt diesem die beiden Schildkröten – und die Oma erfährt bei der Gelegenheit, dass Julia die Schildkröten ja gar nicht hatte haben wollen, sondern dass es ihr nur um die Freundschaft mit der Natascha, die so reiche Eltern hat, gegangen war. (Wieder hat die Oma die Erfahrung gemacht, dass man die anderen Menschen meistens missversteht, wenn man ihnen helfen will.)

Dann tritt die Oma ihre Reise an. Sie hat alles perfekt vorbereitet und Vera Ferra-Mikura schildert sie als „hellwach und aufmerksam“, als sie nach dem Bus sucht, der sie vom Flughafen ins Hotel bringt. Ist ja klar, dass man hellwach ist, wenn man nach so langer Zeit der Arbeit einmal wirklich etwas tut.

Die Oma aus der Schwalbengasse kommt abends im Hotel an und hat es am nächsten Morgen sehr eilig, ans Meer zu kommen. Noch vor dem Frühstück fährt sie mit dem Aufzug hinunter, läuft durch die Hotelhalle und zum Strand hinunter.

ZIEL

„Die Oma ist am Ziel. Sie läßt die Tasche und die Sandalen am Ufer zurück, rafft den Rock ihres Kleides und geht einen Schritt ins Meer hinein.
„Schau einmal, was tut die Frau? Sucht die etwas? fragt ein Junge. „Schau, Papa, die Frau unten am Strand!“
„Kann ja sein, dass sie etwas verloren hat“, ist die Antwort.
Aber die Oma hat nichts verloren.
Sie greift einfach nur in die Wellen. Wieder und wieder.
Die Oma gibt dem Meer die Hand.“

Ebd., S. 93.

Die Ethik hat gewonnen. Gegen die Moral. Aber es war knapp. Haarknapp.

Es war auch nur ein Etappensieg. Die Oma ist ja der moralische Mensch geblieben, der sie vorher war. Sie hat ja nicht den Entschluss gefasst, ihr Leben zu ändern, sondern es ist nur ein alter Wunsch in ihr aufgebrochen, den sie – zeitlich, räumlich begrenzt – verwirklicht hat. Sobald die Oma wieder zu Hause ist, wird sie wahrscheinlich wieder derselbe Pflichtmensch gegenüber ihrer Familie und anderen Menschen sein, der sie vorher war.

Mit anderen Worten: Die Oma hat sich zwar jetzt einmal einen wichtigen Wunsch erfüllt, aber sie begreift ja gar nicht, was dabei geschehen ist, denn ihr fehlt die Begrifflichkeit dafür. Sie weiß nicht, dass das „Ethik“ heißt, was sie da gerade gemacht hat. Und wenn man keine Wörter für das hat, was man tut, dann kann man die Dinge, Gedanken und Pläne, die man sich macht, oft auch nicht festhalten und verfällt erneut in alte Gewohnheiten.

Und in diesem Zusammenhang möchte ich noch Immanuel Kant erwähnen: Kants „Verdienst“ war es, die Ethik von der Glückseligkeit getrennt zu haben, indem er behauptet hat, in der Ethik machen wir uns nur der Glückseligkeit würdig, aber ob wir sie dann auch bekommen, das wird der liebe Gott im Himmel entscheiden. Die Konsequenz von Kants Philosophie ist, dass wir heutigen Menschen nicht mehr verstehen können, dass das, was die Oma gemacht hat, als sie ans Meer gefahren ist, ein Beispiel für Ethik war: Wir können heute Ethik nicht mehr erkennen, wenn wir sie sehen. (Damit habe ich jetzt, glaube ich, auch erklärt, warum nur ich das Buch von Vera Ferra-Mikura richtig verstehen kann: weil ich eben sehe, dass es sich dabei um eine Geschichte über die Ethik handelt!)

Kant war also nicht nur in der Metaphysik, sondern auch in der Ethik der Alleszermalmer: Er hat die Ethik restlos zerstört, indem er sie mit der Moral gleichgesetzt hat.

Der Einfluss der kantischen Moralphilosophie auf die Ethik ist extrem schädlich für die Menschen, weil sie ja nicht begreifen, dass sie ethisch handeln, wenn sie ethisch handeln. (Die Oma wird im Nachhinein vielleicht glauben, sie habe sich nur einen egoistischen Wunsch erfüllt.) Aber das ist die Situation, mit der wir heute leben müssen: Man kann nicht mehr davon ausgehen, dass irgendwer weiß, wovon man spricht, wenn man von "Ethik" redet.

Was die Moral zur Verbesserung der zwischenmenschlichen Beziehungen beträgt, habe ich in dieser Rezension ohnehin kurz gestreift.

Wer genauere Betrachtungen über den Einfluss der Moral auf das Leben der Oma anstellen will, dem sei die Lektüre von Die Oma gibt dem Meer die Hand wärmstens empfohlen.

 

17. September 2022

© helmut hofbauer 2022