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Dissertation: Bezugspunkt Gesellschaft

Die Verbesserung der Tauschbedingungen für attraktive Menschen

Rezension von Hilkje Charlotte Hänel: Sex und Moral – passt das zusammen? JB Metzler (Springer-Verlag), Berlin 2021, erschienen in der Reihe „#philosophieorientiert“ hg. v. Thomas Grundmann. 142 Seiten.

Cover Hänel Sex und Moral - passt das zusammen?

 

“Love Ain't Nothin' But A Business Goin' On”
(Junior Parker)

 

Wenn man sich nach der Lektüre, in der Zusammenschau, überlegt, worum es der Autorin in diesem Buch eigentlich gehen könnte, dann könnte es Folgendes sein: die Verbesserung der Tauschbedingungen für attraktive Menschen gegenüber unattraktiven Menschen.

Die Unterscheidung attraktive/unattraktive Menschen kommt nicht vor

Dieses Anliegen wird aber versteckt transportiert, denn die Unterscheidung attraktive/unattraktive Menschen kommt in dem Buch nicht vor. Es werden zwar alle denkbaren Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten in diesem Buch ausgebreitet und diskutiert, aber jene Ungleichheit, welche in Bezug auf die Möglichkeit, Sex zu haben oder Sex zu bekommen, die größte Relevanz hat, wird geflissentlich übersehen.

Wir haben nicht alle Sex

Die Thesen werden in diesem Buch gewissermaßen in dem Sinne vorgetragen, damit wir alle guten Sex haben können, wenn wir diesem Buch folgen. Aber wir haben nicht alle Sex und können ihn auch nicht alle haben. Attraktive Menschen haben mehr Sex, mittelmäßig attraktive Menschen haben manchmal Sex, wenn sie sich danach strecken und sich sehr darum bemühen, und unattraktive Menschen haben gar keinen Sex. Das Buch verschweigt diese Tatsache und drückt sich damit darum herum, erklären zu müssen, warum es nicht ungerecht ist, dass manche Menschen gar keinen Sex haben – obwohl sie genauso wie andere Menschen sexuelle Bedürfnisse haben – und sich auf ein Leben ohne Sex einstellen müssen.

Es wird unterschlagen, dass überhaupt etwas getauscht wird

Das Buch geht von der Modellsituation aus, dass einander zwei Menschen begegnen, die einander in Sachen Attraktivität ebenbürtig sind und einander von sich aus im selben Maße gegenseitig begehren. Da die Welt aus attraktiven und weniger attraktiven Menschen besteht, ist das in der Praxis selten der Fall. Oft ist es so, dass der unattraktivere von zwei Sexpartnern dem anderen etwas bieten muss, was über den Sex hinausgeht, um Sex von ihm zu bekommen. Mit anderen Worten, dass er etwas gegen Sex eintauscht. Man könnte davon ausgehen, dass das in Ordnung ist, wenn beide Partner diesem Tausch zustimmen. Wenn man hingegen verleugnet, dass ein solcher Tausch überhaupt stattfindet, dann entwertet das den Wert dessen, was der unattraktivere Partner in die Beziehung einbringt.

Der Wert des eingetauschten Vorteils

Wir kennen das ja alle: Sex kann gegen Sex getauscht werden (das ist die Option, von der das Buch ausschließlich ausgeht), aber häufiger wird er eingetauscht gegen Beziehung, wobei „Beziehung“ so etwas ist wie ein Dem-Partner-regelmäßig-mit-Dienstleistungen-und-Zuwendungen-emotionaler-und-materieller-Natur-zur-Verfügung-stehen-Müssen. Wenn man die Vorteile, die sich attraktive Menschen von weniger attraktiven Menschen eintauschen können, nicht erwähnt, dann muss man auch nicht darüber reden, wie groß sie sind und welchen Vorsprung attraktive Menschen mit ihnen gegenüber ihren weniger attraktiven Mitmenschen akkumulieren können. Einerseits wird dadurch der Vorteil, den der attraktive Mensch gegenüber dem weniger attraktiven Menschen von Natur aus hat, geleugnet; andererseits wird aber auch die Mühe und Anstrengung negiert, welche der wenig attraktive Mensch zuerst einmal aufwenden muss, um Güter zu erwerben, die er attraktiven Menschen anbieten kann.

Das Tauschgut wird moralisch missbilligt

Das Buch spricht viel davon, dass Sex vor dem Hintergrund von struktureller Ungerechtigkeit geschehe. Damit ist gemeint, dass weniger attraktive Menschen etwas besitzen (Einkommen, Reichtum, soziale Macht, Status), das sie bei attraktiven Menschen gegen Sex eintauschen können. Das Buch scheint darauf abzuzielen, solche Tauschgüter der weniger attraktiven Menschen in das Licht sozialer Ungerechtigkeit zu rücken, um damit den Eindruck zu stärken, es sei moralisch nicht in Ordnung, etwas anderes gegen sexuelle Attraktivität einzutauschen. Das hat natürlich den Ausschluss der weniger attraktiven Menschen aus der Sexualität zur Folge (was aber nicht diskutiert wird).

Das Buch fokussiert sehr stark auf die Zustimmung

Das Buch fokussiert sehr stark auf die Situation, in der die Zustimmung zu einer sexuellen Handlung gegeben wird. Wenn hier alles korrekt läuft, dann ist der Sex moralisch in Ordnung. Der Kern der Angelegenheit mit der Zustimmung ist allerdings, dass sie nur Menschen erteilen können, die um Sex gefragt werden – und unattraktive Menschen werden nicht um Sex gefragt. Sie finden sich immer in der Rolle wieder, andere Menschen um Sex bitten zu müssen. Das Buch rechtfertigt sein Vorgehen implizit dadurch, dass es gewissermaßen zum unattraktiven Menschen sagt: „Du würdest Sex ohne deine Zustimmung auch nicht haben wollen!“ – und der unattraktive Mensch müsste dem natürlich zustimmen. Was aber ungesagt ist: Der wenig attraktive Mensch würde auch nicht um Sex gefragt werden.

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Auch das sexuelle Begehren wird moralisch missbilligt

Es geht in dem Buch sehr stark darum, die Verhandlungsposition desjenigen Menschen, der passiv bleiben kann, weil er gefragt wird (und es nicht nötig hat, selbst aktiv zu werden, um nach Sex zu fragen), zu stärken. Ein Mittel dazu ist auch, das sexuelle Begehren moralisch zu missbilligen. Das sexuelle Begehren ist im weniger attraktiven Menschen zu Hause und richtet sich auf den attraktiveren Menschen, ohne vorher dessen Meinung eingeholt zu haben. Aus der Tatsache, dass der begehrte Mensch zum Gegenstand des Begehrens des begehrenden Menschen wird, konstruiert man den Sachverhalt, dass der begehrende Mensch den begehrten Menschen verdingliche, zu einem Ding mache – man sagt auch „objektifiziert“. Weil nun der attraktivere Mensch den anderen Menschen weniger oder gar nicht begehrt, befindet er sich auch im Zustand moralischer Unschuld.

Worum es geht bei der sexuellen Zustimmung

Die sexuelle Zustimmung wird von dem Buch in den Mittelpunkt gerückt. Gleichzeitig wird aber noch ein anderes Element in den Mittelpunkt der Debatte um die Moralität von Sex gerückt, und das ist die soziale Ungleichheit. Sexuelle Zustimmung wird vor dem Hintergrund sozialer Ungleichheit oder Ungerechtigkeit gegeben, wird argumentiert. (Beispiel: Person A ist Millionär und Person B ist obdachlos. Person A macht Person B ein sexuelles Angebot und Person B stimmt zu. Ist diese Zustimmung gültig?) Das Ziel dieses Arguments könnte darin bestehen, unattraktiveren Menschen keine denkbare Handlungsweise zu lassen, die es ihnen ermöglichen würde zu sagen: „Aber ich habe mich dem anderen Menschen gegenüber korrekt verhalten!“ Selbst wenn der unattraktive und begehrende Mensch der Meinung ist, er habe dem begehrten Menschen gegenüber moralisch korrekt verhalten, als er diesen um Sex gebeten hat, kann sich herausstellen, dass sich der um Sex gebetene Mensch zu dem Zeitpunkt in einer materiell beengten Situation befunden hat, welche seine Zustimmung zum Sex null und nichtig macht. Es wird in dem Buch allerdings nicht diskutiert, was mit der Moral passiert, wenn wir Situationen konstruieren, in welchen sich Menschen aus eigener Kraft nicht richtig verhalten können.

Auch Beziehung wird unterschlagen

Das Buch ist so konstruiert, dass es nur um Sex geht, welcher infolge von freier Zustimmung moralisch gut ist. Damit wird nicht nur unterschlagen, dass Sex oft gegen etwas anderes getauscht wird, sondern auch die Modalitäten dieser Tauschverhältnisse werden verschwiegen. Für gewöhnlich gilt Sex als kurzfristiges Vergnügen, welches gegen langfristige Güter (Liebe, Treue, Beziehung, Commitment) eingetauscht wird. Der Tausch von kurzfristigen gegenüber langfristigen Gütern erlaubt es dem Anbieter der kurzfristigen Güter, irgendwann seine Leistungen einzustellen, während sein Tauschpartner die Kosten der langfristigen Güter weiterhin tragen muss, weil er die Beziehung nicht ohne weiteres beenden kann.

Zusammenfassung

Das Buch leugnet, dass Sexualität auch ein ökonomischer Austausch ist. Damit leugnet oder verschweigt es auch, dass Menschen unterschiedlich viel „sexuelles Kapital“, wie man es nach Pierre Bourdieu nennen kann, haben. Auf diese Weise ermöglicht es, dass attraktive Menschen im sexuellen Austausch Vorteile einstreifen, die nicht sichtbar werden können, weil es sie, sozusagen, im moralischen Diskurs nicht erwähnt werden dürfen. Es stärkt die Positionen der Schönen und Attraktiven und drängt die weniger Attraktiven ins moralische Abseits.

25. November 2022

 

Nachschrift (03.12.2022)

Bei der Lektüre von solchen Büchern über Moral wie dem von Frau Hänel drängt sich einem immer wieder die Frage nach der Ethik auf. Damit meine ich die Frage: Wie reagiere ich als Individuum, wenn mir die Gesellschaft eine solche Moral vor die Nase stellt? Denn die moralischen Sicht- und Verhaltensweisen, für die Hänel in diesem Buch wirbt, sind ja ein Politikum: Sie sollen von den BürgerInnen und von den politisch Verantwortlichen als richtig eingesehen und dann ins Moral- und Rechtssystem implementiert werden. Sobald das geschehen ist, stellen sie für das Individuum eine Realität dar, mit der es zurechtkommen muss – auf die eine oder auf die andere Weise. Und diese individuellen Handlungsstrategien, die ein Individuum für den eigenen Gebrauch gegenüber solchen Moralsystemen entwickeln kann, heißen Ethik, weil sie Antworten darstellen auf die Frage: „Was soll ich tun?“

Für die akademischen PhilosophInnen ist Ethik und Moral aber dasselbe. Sie definieren Ethik als die Reflexion über Moral. Es geht für sie also auch bei der Ethik bloß um die Moral, und das hat zur Folge, dass sich das Individuum, der einzelne Mensch, seiner Handlungsmöglichkeiten nicht bewusst werden kann. Zur Klarheit: Der einzelne Mensch kann sich deshalb seiner Handlungsmöglichkeiten nicht bewusst werden, weil immer das, was wir tun sollen (oder nicht tun sollen), mit dem, was ich tun soll (oder nicht tun soll), vermischt wird.

Die Weisen, wie die einzelnen Menschen auf die von Hänel vorgeschlagene Sexualmoral reagieren werden, werden sehr unterschiedlich sein – und sie werden vom Attraktivitätsgrad ihrer eigenen Person abhängen. Eine sehr attraktive Person, die häufig von anderen Menschen angesprochen wird, wird sich in Hänels Sexualethik wohl und beschützt fühlen. Weniger attraktive Menschen werden über Vorsichtsmaßnahmen nachdenken oder sich völlig aus dem Lebensbereich Sexualität zurückziehen, weil es für sie in dieser neuen gesellschaftlichen Sexualmoral zu gefährlich geworden ist, Teilnahme an der Sexualität zu suchen.

Ethik würde in dem Fall auch darin bestehen, sich zu überlegen: Wie gestalte ich mein Leben ohne Sexualität? Wie fülle ich diese Leerstelle in meinem Leben? Was tue ich anstatt dessen, um meinem Leben Sinn zu geben und eine ausreichend hohe Lebensqualität zu erreichen, um weiterleben zu wollen. Das soll nur ein Beispiel darstellen, um zu zeigen, dass in der Ethik Fragen gestellt werden, die in der Moral nicht vorkommen. In der Moral würde es höchstens heißen (wenn man denn darüber reden würde): „Ja, wenn du nicht dran kommst, dann musst du eben draußen in der Kälte harren und mit den Zähnen klappern!“

Solche Überlegungen können einem kommen, wenn man sieht, sie Hilkje Hänel eine Moral für die Schönen und Beliebten schreibt, und man sich überlegt: Ja, und was werden dann die anderen machen?


© helmut hofbauer 2022