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Dissertation: Bezugspunkt Gesellschaft

Kurze Rezension von Dave Robinson & Chris Garratt: Introducing Ethics

Icon Books, London 1999 (Erste Auflage: Totem Books, Cambridge, USA, 1997).

Dave Robinson, Chris Garratt: Introducing Ethics (cover) 


Erste Beobachtung: Das Buch beginnt nicht mit einer Erklärung, was ethische Fragen überhaupt sind. Das wird vorausgesetzt.

Es beginnt so:

Moral questions

Everyone is interested in ethics. We all have our own ideas about what is right and what is wrong and how we can tell the difference. Philosophers and bishops discuss moral “mazes” on the radio. People no longer behave as they should.” (S. 3)

Auch was Moral ist, wird nicht erklärt. Als Leser muss man raten, was die Autoren einem sagen wollen. Was sie einem sagen wollen, scheint das folgende zu sein: Bei ethischen Fragen handelt es sich um moralische Fragen. Was Moral mit Ethik zu tun haben soll, wird ebenfalls nicht erklärt.

Auch im Rest des Buchs wird Ethik auf Moral reduziert. Was dabei vor allem rausfällt, ist das eigentliche Thema der Ethik: die individuelle Lebensgestaltung. Ebenso findet keine Beachtung, was ich immer an der auf Moral reduzierte Ethikdiskussion kritisiere: Nachdem die Menschen ethisch gescheitert sind (=nachdem ihre individuellen Lebensentwürfe gescheitert sind), werden sie auch moralisch scheitern. Der Versuch, Moral ohne Ethik durchzusetzen (=Ethik auf Moral zu reduzieren), läuft darauf hinaus, von den Menschen etwas zu verlangen, zu dem sie nicht die Mittel haben (weil man ihnen Ethik als Lebensgestaltung verweigert, welche die Aufgabe hätte, ebendiese Mittel aufzubauen). Kurz: Man kann von einem, der nicht schwimmen kann, nicht erwarten, dass er einen Ertrinkenden aus dem Wasser rettet – Schwimmen zu lernen ist aber keine moralische, sondern eine ethische Angelegenheit.

Trotzdem ist das Buch ganz vernünftig. Deshalb bespreche ich es auch. Es hält sich auf der ganzen Buchlänge auf einem gleichbleibenden Anspruchsniveau und gibt etwas zu denken, über das man durchaus nachdenken kann.

Vorteilhaft ist, dass es die Eckpunkte der moralisch-ethischen Diskussion absteckt, z.B

Kommunitaristen (S. 5)

Betonen die Rolle der Gemeinschaft und halten das, was der Einzelne in seinem Leben erreichen will, für wenig relevant.

Individualisten (S. 5)

Betonen die Rolle des autonomen Einzelnen und halten die Gesellschaft nur für eine praktische Übereinkunft, die den Zielen und Zwecken der Einzelnen dienen soll.

 

Moralischer Relativismus (S. 18)

Die Überzeugung, dass zwischen verschiedenen Ländern und Kulturen und zwischen verschiedenen Subkulturen innerhalb einer Gesellschaft verschiedene moralische Überzeugungen bestehen.

Ethischer Absolutismus (S. 19)

Die Überzeugung, dass es bestimmte universelle moralische Gesetze gibt, die immer und überall wahr sind. (Heißen auch Universalisten, Realisten und Absolutisten.)

 

(Moralische) Subjektivisten (S. 93)

Sind mit David Hume der Meinung, dass Moral in nichts anderem besteht, als dass Individuen anderen Individuen ihre Gefühle mitteilen. „Hitler war böse!“ bedeutet nichts anderes als: „Ich mag Hitler nicht.“


(Moralische) Objektivisten (S. 93)

Sind mit Plato und den Utilitaristen der Meinung, dass moralisches Wissen die gleiche Form wie empirisches oder wissenschaftliches Wissen annehmen kann. Sie glauben an die Möglichkeit moralischen Wissens.

 

Utilitaristen (S. 68 f.)

Sind mit Jeremy Bentham und John Stuart Mill der Meinung, dass es ein fundamentales Gesetz der menschlichen Natur ist, Lust zu suchen und Schmerz zu vermeiden – und dass daraus für die Moral folgt, dass wir so handeln sollen, dass unser Handeln das größtmögliche Glück und den kleinstmöglichen Schmerz für die Mehrheit der Menschen zur Folge hat.

Kantianer (S. 80 f.)

Glauben wie Immanuel Kant, dass Moral darin besteht, dass man Regeln befolgt. Ein moralischer Mensch ist also jemand, der seine (moralische) Pflicht tut (=ein Deontologe). Ethik besteht darin herauszufinden, worin diese Pflicht besteht; und seine Pflicht tut man gegen seine Neigung: Moralisch sein = man tut, wovon man einsieht, dass es richtig ist, obwohl und auch weil man keine Lust dazu hat.

 

Pflicht (S. 82)

Wenn wir moralische Gesetze befolgen, dann tun wir unsere moralische Pflicht. Moral besteht in einem geistigen Kampf heraufzufinden, was genau unsere moralische Pflicht ist und ob wir es wirklich tun sollten.

Neigung (S. 82)

Aus der Sicht von Utilitaristen erscheinen Anhänger einer Pflichtenethik wie Kant ein elendes Leben zu haben, weil wie kein Vergnügen erlauben und nur verbissen ihre Pflicht verfolgen. [Aber: Sind Utilitaristen wirklich Hedonisten? Folgen sie wirklich ihren Neigungen?]

 

Ethik als Tugendtheorie (S. 128 f.)

Aristoteles und Alasdair MacIntire glauben daran, dass es in der Ethik (=Moral) nicht darum geht, das richtige Handeln zu lernen, sondern gute Menschen zu werden. Ein guter Mensch ist ein tugendhafter Mensch. Als Tugenden werden diejenigen Eigenschaften eines Menschen betrachtet, die ihn zu einem wertvollen Mitglied seiner Gemeinschaft machen (wie Stärke, Mut, Kameradschaft, Gerechtigkeit, Mäßigung und Weisheit).

Ethik als Handlungstheorie (S. 128 f.)

Utilitaristen und Kantianer versuchen von Fall zu Fall zu bestimmen, was die richtige (moralisch gute) Handlung ist, indem sie diese aus universellen Prinzipien ableiten.

 

Anthropozentrische Ethik (S. 141)

Bisherige ethische Ansätze waren ausschließlich auf den Menschen bezogen: Die kantische Ethik gilt zwar für alle vernünftigen Wesen, aber den Tieren spricht man die Vernunft ab. Die utilitaristische Ethik gilt zwar prinzipiell für alle fühlenden Wesen, aber traditionell hat man den Tieren sogar die Fähigkeit zu Empfindungen abgesprrochen.


Umweltethik (S. 140)

Die Notwendigkeit einer Umweltethik haben wir erst auf dem Schirm, seitdem wir verstanden haben, dass wir aktuell drauf und dran sind, unseren Planeten und damit unsere eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören. Es ist eine neue Idee, dass wir uns auch „gut“ gegenüber Tieren, Pflanzen und der Erdatmosphäre verhalten sollen.

philohof


Die Geschichte, die dieses Buch erzählt

Interessant ist, dass das Buch Introducing Ethics, wenn man es genau und in einem durch liest, auch eine Geschichte erzählt.

Die Geschichte ist im Prinzip die folgende: Brave Menschen haben im Laufe der Geschichte (seit etwa 2400 Jahren) die Disziplin der Ethik aufgebaut, bis die bösen Philosophen des Postmodernismus im 20. Jahrhundert durch ihren postmodernen Skeptizismus alle diese wertvollen Versuche endgültig zerstört haben.

Human, All Too Human

Postmodernism has shattered many long-held beliefs. It is wholly skeptical about the existence of some kind of “objective reality” or the possibility of using “reason” to understand it. It is even more doubtful about the existence of any kind of “human nature”. This means there is no “Archimedean lever” or supreme principle which can tell us which ethical system is the “best” or “truest” one. We live in a relativistic world where there are only human truths and human ethics.” (S. 114)

Der Schluss, den die Autoren aus dieser Geschichte ziehen

Ebenfalls interessant und bedenkenswert ist der Schluss, den die beiden Autoren aus dieser Geschichte ziehen.

Es läuft darauf hinaus, dass sie die Frage stellen: Was ist schlimmer – wenn es die Ethik gibt oder wenn es sie nicht gibt (weil es sie aufgrund von Mangel an objektiven moralischen Gesetzen nicht geben kann)?

Nachteil der Existenz Moral

Der Nachteil der Moral besteht vor allem in ihrer Intoleranz. „The ruthless pursuit of ethical, religious and political certainty through the ages has destroyed millions of human lives and can still do so again.“ (S. 172).
Zygmunt Baumann hat darauf hingewiesen, dass der Glaube an Fortschritt und Vernunft in der Moderne das Entstehen von totalitären Systemen zur Folge gehabt hat. (S. 119)


Vorteile der Nichtexistenz von Moral

„Perhaps if we give up the search for moral certainties, then we can work towards less ambitious projects … like trying to figure out how to encourage morally harmonious societies which provide varied and rewarding lives for their members.“ (S. 172)

Ob es Ethik nun gibt oder nicht geben kann, die Autoren schließen jedenfalls mit der Bemerkung: “Ethics definitively is still something worth going in for.”

Das Buch enthält keine Angaben über die Autoren, aber es ist wohl anzunehmen, dass sie diese Meinung deshalb verbreiten, weil sie gut für Philosophen ist, die sich mit Ethik beschäftigen. (Welcher Moralphilosoph wird sagen: „Mein Thema hat keine gesellschaftliche Relevanz!“?)

Meine persönliche Reaktion auf diesen Schluss

Gegenwärtig, 2022, sehe ich eigentlich keine Anzeichen in der Welt, dass man sich dessen bewusst ist, dass es Ethik (Moralethik) nicht gibt und dass all die Argumente existieren, die von den Postmodernisten und andere Philosphen (Hume, Ayers etc.) angeführt wurden, warum es sie nicht geben kann.

Es gibt die Ethik ziemlich laut in der Politik und in der medialen Öffentlichkeit, wo sie zunehmend dazu übergeht, uns sprachliche Vorschriften zu machen. Sie hat sich aber zunehmend auch in das Recht und in die Institutionen eingegraben, wo sie zunehmend kodifiziert wurde (z.B. in Form von Ethikkommissionen, Corporate Social Responsibility (CSR) Codes, etc.).

Ich will damit nicht sagen, dass das alles schlecht ist, sondern nur so viel: Man geht heute mit Ethik so um, als sei man sich ihrer möglichen negativen Konsequenzen nicht bewusst, so als könne gar nichts Negatives aus Ethik entstehen. Es scheint – mein persönlicher Eindruck – als habe man die warnenden Stimmen in der Geschichte der Philosophie (die es zum Thema Ethik ja auch gegeben hat) wieder vergessen.

Sonst würde man auf den Vorwurf: „Das ist unethisch!“ mit der Gegenfrage antworten: „Im negativen oder positiven Sinne für die Freiheit und das Leben des Menschen?“

 

01. Juli 2022

 

© helmut hofbauer 2022