Drei
Bemerkungen zur Wissenschaft
1.
Bemerkung
Ein
Wissenschaftler trägt eine schwere Apparatur im Kopf
Das Hauptproblem
beim Diskutieren mit Wissenschaftlern ist, dass Wissenschaftler
nicht logisch denken, sondern von einem System her, das
sie im Kopf haben und durch das sie alle Dinge anschauen
Einem Wissenschaftler ist es also nicht möglich, ein
einzelnes Ding selber/einen einzelnen Gedanken selber (oder
auch: eine Gedankenkette) anzuschauen und sich darüber
eine Meinung zu bilden.
Was er (oder sie) hingegen tut, ist, zu schauen, ob dieser
Gedanke in sein GEGENWÄRTIGES Verständnis von
Wissenschaft passt, welches immer schon ein veraltetes Verständnis
ist, so neu es auch ist, weil in ihm immer das Neue durch
das Alte beurteilt wird.
Auf diese Weise ist der neue Gedanke nicht in der Lage,
eine Innovation im Denken des Wissenschaftlers zu bewirken,
weil der Wissenschaftler sich gar nicht richtig mit ihm
auseinandersetzt, sich nicht von ihm ansprechen lässt.
Es ist aber wichtig, genau zu verstehen, warum das so ist:
Das alte Vorurteil besteht ja darin zu denken, Wissenschaftler
dächten rational und zwar sogar noch rationaler als
der Rest der Bevölkerung. Das ist wahr, aber: Wissenschaftler
denken nicht rational ohne weiteres. Und dieses Weitere,
das ich hier meine, ist eine Apparatur, die sie im Kopf
haben, eine wissenschaftliche Apparatur, im Laufe ihres
wissenschaftlichen Studiums angelernt, welcher sie mehr
Vertrauen und Glauben entgegenbringen als ihrer eigenen
Kraft, logisch zu denken.
Das bedeutet, Wissenschaft ist gar keine autonome Welterkenntnis,
sondern eine HETERONOME!
Bourdieus Buchtitel „Der Tote packt den Lebenden“
fällt einem dabei ein: Wissenschaft ist, wenn ein Wissenschaftler
eine Sache mit den Vorurteilen der letzten 200-300 Jahren
anschaut, welche in den heutigen wissenschaftlichen Theorien
immer noch enthalten sind.
Aber lassen wir richtig und falsch beiseite: Wichtiger ist,
dass Wissenschaft nicht darin besteht, dass der Wissenschaftler
eine Sache durch eine wissenschaftliche Theorie beurteilt
und nicht die wissenschaftliche Theorie durch sein Denken.
Ohne verallgemeinerte wissenschaftliche Theorie eine Sache
zu erkennen und zu beurteilen, käme ihm unwissenschaftlich
und demnach völlig unmöglich vor. Aus diesem Grund
– und das ist meine Schlussfolgerung aus dieser Überlegung
– ist wissenschaftliches Denken und Erkennen heteronom:
Der Mensch gibt seine Problembeurteilungskompetenz ab an
die wissenschaftliche Theorie. Aber eigentlich gibt er sie
nicht an die einzelne wissenschaftliche Theorie ab, sondern
an sein Gesamtverständnis von Wissenschaftlichkeit,
welches nicht nur eine bestimmte Haltung der Erkenntnis
gegenüber umfasst, sondern sein gesamtes Wissen um
das Bestehen wissenschaftlicher Organisationen, wissenschaftlicher
Hierarchien, Karrieren und Auszeichnungen sowie des gesamten
Sozialsystems Wissenschaft.
Mit einem Wort, man muss sich des gewaltigen Apparats bewusst
werden, den ein Wissenschaftler im Kopf trägt und der
zwischen dir und ihm steht, wenn ihr gemeinsam eine Sache
betrachtet!
Anmerkung:
Wissenschaftler werden meinen Ausführungen entgegnen,
dass es völlig unmöglich sei, ohne Instrumente
zu denken und zu erkennen. Aber Instrumente verwendet ja
auch schon der, der nur bloß logisch denkt, er bedient
sich logischer Schlussformen. Der Unterschied zum Wissenschaftler
liegt darin, dass der (oder die) Philosophierende, also
der (oder die) rational Argumentierende, sich dieser Instrumente
bloß bedient, der Wissenschaftler sich ihnen aber
mit Haut und Haar (und seinem (oder ihrem) Verstand) mit
Haut und Haar ausliefert. Das ist der eine Punkt, der zweite,
ebenso wichtige, ist, dass der rational Denkende sich einzelner
Erkenntnisinstrumente bedient, für den Wissenschaftler
aber verschmelzen alle einzelnen Erkenntnisinstrumente in
einem Gesamtzusammenhang zu einem GANZEN – und dieses
Ganze bildet eine derart schwere, unübersichtliche
und undurchschaubare Apparatur, dass der Wissenschaftler
die Herrschaft über sie verliert, dass er zu ihrem
Knecht wird und gezwungen ist, sich seines eigenen Urteils
über die Gegenstände der Wirklichkeit und die
verschiedenen Meinungen über sie zu enthalten.
Die Wissenschaft in seinem (oder ihrem) Kopf urteilt an
seiner (oder ihrer) Stelle!
18. September 2009
![](../images/philohof_kleinhellgrau_denkermitschrift.gif)
2. Bemerkung
Der
wissenschaftliche Anspruch des Bruchs mit der eigenen Alltagserfahrung
Bei
Pierre Bourdieu beginnt Wissenschaft immer damit, mit der
Alltagserfahrung radikal zu brechen:
“Eine
soziale Welt zu thematisieren, in die man persönlich
verstrickt ist, konfrontiert einen unweigerlich
– sozusagen in dramatisierter Form
– mit einer Reihe grundlegender epistemologischer
Probleme, die alle im Zusammenhang mit der Frage des
Unterschieds von praktischer und wissenschaftlicher
Erkenntnis stehen, nicht zuletzt mit der eigentümlichen
Schwierigkeit, sowohl mit der Erfahrung des unmittelbar
Beteiligten zu brechen als auch eine um den
Preis dieses Bruchs gewonnene Erkenntnis wiederherzustellen.
[...] Weniger bekannt dürften die Probleme sein,
welche die Schreib- bzw. Darstellungsweise betreffen,
die bei der Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse
auftreten. Dies gilt in besonderem Maße für
die Frage der Exemplifikation, der Erläuterung
durch Beispiele. Diese gängige rhetorische Strategie
des „Verständlichmachens“ –
freilich unter Ermunterung des Lesers, aus eigener
Erfahrung zu schöpfen und damit heimlich in die
Lektüre unkontrollierte Informationen einfließen
zu lassen – hat unausweichlich zur Folge, daß
die wissenschaftlichen Konstruktionen erneut auf die
Ebene des Alltagswissens zurückgeführt werden,
gegen das sie einmal erobert werden mußten.
Bereits die Einführung von Eigennahmen genügt
[...] damit der Leser sich in seinem Hang bestärkt
fühlt, das konstruierte Individuum, das als solches
nur innerhalb des theoretischen Raums der Identitäts-
und Differenzbeziehungen existiert, die zwischen der
eindeutig definierten Menge seiner Eigenschaften einerseits
und den einzelnen Mengen von Eigenschaften andererseits
bestehen, die – nach denselben Prinzipien definiert
– die anderen Individuen charakterisieren, auf
den in seiner Ganzheit erfaßten konkreten Einzelnen
zu reduzieren.“
Pierre
Bourdieu: Homo Academicus. Suhrkamp, Frankfurt/Main
1988. S. 31-32.
|
Während
Maurice Merleau-Ponty ganz im Gegenteil immer wieder an
die Notwendigkeit des Zurückgehens auf die Alltagserfahrung
erinnert sowie, dass auch die wissenschaftliche Erkenntnis
immer wieder ursprünglich aus ihr entspringt.
„So gilt es denn, nach der Naturwelt,
auch die Sozialwelt neu zu entdecken nicht als Objekt
oder Summe von Gegenständen, sondern als beständiges
Feld oder Dimension der Existenz: wohl kann ich mich
von ihr abwenden, aber nie aufhören, in bezug
zu ihr situiert zu sein. Wie unser Bezug zur Welt
überhaupt ist unser Bezug zum Sozialen tiefer
als jede ausdrückliche Wahrnehmung und jedes
Urteil. Es ist ebenso irrig, uns in die Gesellschaft
als Gegenstand unter anderen Gegenständen zu
setzen, wie die Gesellschaft in uns als Gedankenobjekt,
und beidemal besteht der Irrtum im Ansatz des Sozialen
als Objekt. Es gilt auf das Soziale zurückzugehen,
so wie wir mit ihm durch unser bloßes Existieren
schon in Berührung sind und mit ihm verbunden
sind vor aller Objektivierung. Das objektive und wissenschaftliche
Bewußtsein von der Vergangenheit und den Zivilisationen
wäre nicht möglich, hätte ich nicht
kraft meiner eigenen Sozialität, meiner Kulturwelt
und ihrer Horizonte je schon zu ihnen zumindest virtuell
ein Kommunikationsverhältnis, wäre der Ort
etwa der athenischen Republik oder des römischen
Reichs nicht schon irgendwo an den Grenzen meiner
eigenen Geschichte markiert, wären sie nicht
je schon als erkennbare Individuen, unbestimmt, doch
präexistent, in dieser angelegt, fände ich
nicht in meinem Leben die Grundstrukturen einer Geschichte
vor. Das Soziale ist je schon da, ehe wir es erkennen
oder darüber urteilen. Individualistische oder
soziologistische Philosophien systematisieren oder
explizieren nur eine gewisse Wahrnehmung der Koexistenz.“
Maurice
Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung.
de Gruyter. Berlin 1975 (1965). S. 414. |
Und
Paul Feyerabend erinnert daran, dass alle Ideen, die je
die Wissenschaft vorangebracht haben, nicht in ihr selbst
entwickelt wurden, sondern von außerhalb, aus der
unwissenschaftlichen Alltagserfahrung, kamen; und nicht
nur das: Sie wurden außerdem jeweils in die Wissenschaft
eingeführt, indem alle methodologischen Regeln der
Wissenschaft verletzt wurden.
„Punkt
(c) [„daß die Erfolge durch die Wissenschaft
allein, ohne jede Hilfe ‚von außen’
zustandegekommen sind“ (S. 356), Anm. H.H.]
ist ebenfalls leicht zu widerlegen: es gibt nicht
eine einzige ‚wissenschaftliche Idee’,
die nicht von anderswoher gestohlen wurde. Die sogenannte
Kopernikanische Revolution ist ein ausgezeichnetes
Beispiel. Woher bekam Kopernikus seine Ideen? Von
alten Autoritäten, wie er selbst sagt. Wer sind
die Autoritäten, auf die er sich stützt?
Philolaos, unter anderen, und Philolaos war ein pythagoräischer
Wirrkopf. Wie ging Kopernikus vor, als er Philolaos
der Astronomie seiner Zeit einverleiben wollte? Er
verletzte jede methodologische Regel, die zu seiner
Zeit die Wissenschaft kennzeichnete. „Mein Erstaunen
kennt keine Grenze“, schreibt Galilei, „wenn
ich mir überlege, daß Aristarch und Kopernikus
die Vernunft so sehr die Erfahrung beherrschen ließen,
daß sie gegen das ausdrückliche Wort der
letzten die Meisterin ihrer Ideen wurde“. „Die
Erfahrung“ – das verweist auf die Kenntnisse,
die Aristoteles und andere verwendet hatten um zu
zeigen, daß sich die Erde nicht bewegen könnte.
Die „Vernunft“, die Kopernikus solchen
Argumenten entgegensetzt, ist die Vernunft des Philolaos.
Während die Astronomie von den Pythagoräern
lernte sowie von der platonischen Vorliebe für
Kreisbewegungen, lernten Pioniere der Medizin ihr
Gewerbe von der Kräuterkunde, der Psychologie,
der Metaphysik, der Physiologie von Hebammen, Hexen,
Wanderapothekern. Überall bereichert sich die
Wissenschaft mit ‚unwissenschaftlichen’
Ideen und Methoden, überall umgeht man stillschweigend
Prozeduren, die sonst als das ‚Wesen der Wissenschaft’
gelten.“
Paul
Feyerabend: Der wissenschaftstheoretische Realismus
und die Autorität der Wissenschaften. Friedrich
Vieweg & Sohn. Braunschweig/Wiesbaden 1978. S.
358-359.
|
Es
klafft, was die Wissenschaftlichkeit betrifft, eine große
Kluft zwischen Anspruch und Realität. Während
die immer wieder erhobene Forderung darin besteht, man möge
innerhalb der Wissenschaft auf die eigene Alltagserfahrung
verzichten, ist das in Wirklichkeit wohl gar nicht möglich
und läuft in der Realität der wissenschaftlichen
Praxis, jenseits des mit großem Aufwand dauernd hochgehaltenen
Schleier des Selbstbetrugs, tatsächlich auch gar nicht
so ab. Ich persönlich habe mich jedenfalls immer gefragt,
warum Pierre Bourdieu, der immer dafür eintritt, in
der Wissenschaft der Soziologie mit der Doxa, also dem Alltagsverständnis
der Sozialwelt, zu brechen, in seinen Bücher –
Was heißt Sprechen?, Die politische Ontologie Martin
Heideggers, Homo Academicus oder auch Das Elend der Welt
– meine Doxa der Sozialwelt immer wieder bestätigt
hat. Tatsächlich kam bei seinen Forschungen immer etwas
raus, das ich mir so oder so ähnlich schon gedacht
hatte, weshalb ich Bourdieu heute großenteils dafür
brauche, obwohl ich seine erkenntnistheoretischen Ansätze
nicht teile, um meine Anschauungen und Überzeugungen
der Sozialwelt wissenschaftlich zu bestätigen. Und
oft erscheint es mir so, dass Bourdieus kritische Studien
eine solch gewaltige wissenschafts- und institutionenkritische
Sprengkraft in sich tragen, dass sie einen wissenschaftstheoretischen
Dogmatiker wie Bourdieu eigentlich von seinem Sitz katapultieren
und mit sich forttragen müssten. Im Grunde kann ich
mir das nicht anders erklären, dass auch Bourdieu nicht
wirklich mit der Alltagserfahrung gebrochen hat (sondern
sich dahinter eher mehr Rhetorik verbirgt, um sich im Wissenschaftsbetrieb
durchzusetzen), sondern dem nachgeforscht hat, wovon er
sich aus seiner Alltagserfahrung heraus ohnehin schon gedacht
hatte, dass es sich ungefähr so verhalten wird.
30. September 2009
3.
Bemerkung
Interdisziplinarität
und die Produktion von „Viertelintelligentlingen“
In
der polnischen Zeitung Tygodnik Powszechny vom 29. September
2009 gab es einen Artikel von Marta Bucholc und Prof. Pawe?
Spiewak, beidem vom Soziologischen Institut der Universität
Warschau mit dem Titel „Universitäre Produktion“
[Produkcja uniwersytecka]. Darin geht es um die entsetzliche
Tatsache, dass die Universitäten „Viertelintelligentling“
[cwiercinteligentów] produziere, und die Autoren
machen Vorschläge, wie man dieses Problem beheben könnte.
„Viertelintelligentling“ ist ein polnischer
Ausdruck, den man auf Deutsch vielleicht am besten mit „Fachidioten“
wiedergeben könnte, wobei mir scheint, dass dabei das
„Idiot“ deutlich im Vordergrund steht.
Im Text wird ein „Viertelintelligentling
so bestimmt: Er könne ein „hervorragend ausgebildeter
Zahnarzt sein oder ein fähiger Ingenieur, ein spezialisierter
Historiker, ein Absolvent guter Hochschulen“, den
wir trotzdem zu Recht für einen „Viertelintelligentling“
halten, und das Kriterium dafür liege in seiner fehlenden
Fähigkeit zur Reflexion:
„Das Gebrechen des Viertelintelligentlings
besteht darin, dass er ein unintegrierter [niescalony] Mensch
ist. Dieses Fehlen von Bindemittel wird besonders fühlbar
beim Kontakt zwischen Wissen und Handeln. Das Wissen des
Viertelintelligentlings bleibt irgendwie neben seinem Leben
– die Sammlung von Informationen und der Erwerb von
Kompetenzen bringt weder Weisheit noch Kritikfähigkeit
hervor, weil ihm die Reflexion fehlt, die das Leben integriert.
Das ist so jemand, der sogar ein beliebter Fachmann sein
kann, aber dem das Gefühl dafür abgeht, was er
macht. Er weiß, wie man heilt oder baut, aber er sieht
keine Verbindung zwischen Kompetenzen und Redlichkeit. Er
ist ein vieles wissender Lehrer, aber er besitzt kein moralisches
Rückgrat. Man kann sagen, dass er umso gefährlicher
ist, je besser er ausgebildet ist.“
Allein der letzte Satz dieses Zitats, wonach
es möglich ist, dass es Menschen gibt, die „umso
gefährlicher sind, je besser sie ausgebildet sind“
ist eine geistige Bombe von solcher Sprengkraft, dass es
ihretwegen allein schon es wert wäre, den Artikel aus
dem Tygodnik Powszechny aufzuheben. Damit will ich sagen:
Haben unsere Politiker und Bildungsverantwortlichen denn
überhaupt schon einmal darüber nachgedacht, dass
Ausbildung und Lernen nicht in jedem Falle positive Konsequenzen
haben müssen, sondern dass das ein zweischneidiges
Schwert ist?
Es ist nun nicht so, dass es in dem Artikel
speziell eingeleitet wird und die Leser darauf hingeführt
werden, dass die Universitäten „Viertelintelligentlinge“
hervorbringen, vielmehr scheint das schon von vornherein
festzustellen, was darauf hinweist, dass der Artikel offenbar
an eine in Polen bereits bestehende öffentliche Diskussion
über dieses Thema anschließt. Es wird nur festgehalten,
dass die Universitäten zwar nicht allein für die
Produktion von „Viertelintelligentlingen“ verantwortlich
seien, aber einen „ansehnlichen Anteil“ daran
hätten.
Die „Schwächen der Universitäten
werden nun darin gesehen, dass die Unversität sich
erstens in eine „verbürokratisierte Maschine“
verwandle, weil der „ununterbrochene Drang zur Quantifizierung
und Standardisierung“ der Ausbildung zum Verlust von
Qualität führe. Als bestes Beispiel dafür
werden die European Credit Transfer System-Punkte („ECTS“)
erwähnt, mittels welcher heute die Studenten für
ihre universitären Leistungen beurteilt werden. Zweitens
werde die Produktion von Viertelintelligentlingen, den beiden
Autoren zufolge, durch die „Spezialisierung und Departamentalisierung
der Ausbildung“ befördert. Dabei würden
oft sowohl der erste wie auch der zweite Studienabschnitt
als berufsausbildend konzipiert, weil das das leichteste
sei, was zu einem Fehlen allgemeinbildender Kurse führe
sowie zu der grundsätzlichen Schwierigkeit, wo man
im Studienprogramm jenen Moment ansetzen solle, „in
welchem der Mensch die wirklich wichtigen Dinge lernt –
indem er die Werke der großen Literatur liest, die
wichtigsten Filme kennen lernt, versucht, die Kultur, in
der er lebt, zu verstehen, in dem er erfährt, worin
die Zivilisation besteht, die er mitgestalten wird.“
Persönlicher Kommentar: Nachdem ich diesen letzten
Halbsatz mit den „wirklich wichtigen Dingen“,
die der Mensch lernen solle gelesen hatte, musste ich erst
mal tief durchatmen und gehörig staunen – wer
traut sich heute noch, solche Dinge von sich zu geben? Also
wirklich: Hut ab!
Drittens – und das ist Bucholc und
Spiewak zufolge besonders wichtig – sei der Viertelintelligentling
ein Produkt der Logik großer Zahlen. Die großen
Mengen von Studenten an den Unversitäten führe
zur Notwendigkeit, Textauszüge und Fotokopien zu verwenden,
was nicht unbedingt die „Vertiefung des reflektiven
Zugangs bei den zukünftigen Absolventen“ befördere.
Viertens liege eine große Erschwernis in den gegenwärtigen
Vorschriften für die Leistungsabrechnung des akademischen
Kaders. Der Lehrende werde zu einem Wissensbeamten. Seine
Pflichten und die Beurteilung ihrer Erfüllung seien
von Mal zu Mal uniformierter, und das Kriterium für
den Erfolg wissenschaftlicher Arbeit seien Zahlen: Punkte
für Veröffentlichungen und für Studienabschlüsse
in den einzelnen Stufen (Bachelor [licencjat], Magister
und Doktor).
Doch es existieren, Bucholz und Spiewak
zufolge, auch Methoden, um die Züchtung von Viertelintelligentlingen
zu verhindern und zwar, erstens, die Interdisziplinarität.
Deren Wert sehen die beiden Autoren vor allem darin, dass
sie die „einzige Chance sei, um den Menschen als handelndes
Subjekt in der Welt zu begreifen – das menschliche
Leben sei schließlich nicht ordentlich in die Fachgebiete
Physik, Mathematik, Management und Psychologie aufgeteilt,
sondern sei eine untrennbare Einheit. In Polen gebe es viele
interdisziplinäre Studiengänge, die sehr erfolgreich
laufen. Die beiden Autoren des Artikels wünschen sich
Vielseitigkeit verpflichtend für möglichst viele
Studenten und denken dabei besonders an jene der Naturwissenschaften
und der Mathematik, da ihre „enge Spezialisierung
am meisten Schaden anrichtet, indem sie sie in einem wesentlichen
Abschnitt ihrer Bildungsentwicklung vom humanistischen Denken“
losreiße. Ein Schritt in diese Richtung seien allgemeinuniversitäre
Fächer, die man an der Universität Warschau eingeführt
habe; der Widerstand eines Teils der Jugendlichen gegen
diese Kurse, die sie als Zeitverschwendung ansehen, zeuge
jedoch davon, wie weit „wir schon gekommen sind auf
dem Weg, uns vor dem Geist zu verschließen“.
Zweitens halten Bucholic und Spiewak den
Dienst an der Gesellschaft für wichtig, weil er einer
integralen Auffassung von Wissen und Leben diene. Dinge
wie ein Volontariat, Sport, Arbeit in Selbstverwaltungsgremien,
studentischen Diskussionskreisen, Filmclubs, Theatern, Arbeit
mit Kindern und im Rahmen von Universitäten für
das dritte Lebensalter (also für Senioren) würden
als nette Hobbys behandelt, aber nicht als Gebot, das verbunden
ist mit der Erfüllung der Rolle des Studenten –
man solle danach streben, dass sie Standard werden, damit
die Studenten verstehen, dass der Wert dieser Art Arbeit
sich nicht weder in Geld noch in Punkten messen lasse.
Gegen Ende des Artikels wird noch der „Geist
und die Kultur der Universität“ beschworen sowie
die „Meister-Schüler Beziehung“, die man
sich offenbar in den universitären Lehrbetrieb zurückwünscht.
Der zunehmende Verlust des persönlichen Kontakts zwischen
Lehrenden und Studierenden wird beklagt: „aus der
Sicht beider Partner dieser Beziehung könnte die andere
Seite ebensogut eine Maschine sein. Das ist ein großer
Verlust, denn im Allgemeinen sind wir immer noch Menschen,
denkende Wesen, die imstande sind, das, was sie denken,
miteinander zu teilen.“ Ob wir alle denkende Menschen
sind (und ob die Institutionen uns so haben wollen), das
scheint mir freilich keine bloße Bezugnahme auf eine
allgemein geteilte Meinung zu sein, sondern eine große
Frage. Dann wird eingegangen auf die häufig gehörte
Verteidigung aus Universitätskreisen, wonach man mit
den gegenwärtigen Schulabgängern, die an intellektueller
Anstrengung nicht interessiert seien, nichts anfangen könne;
demgegenüber betonen die beiden Autoren, dass die Verhinderung
von Viertelintelligentlingen von hohem ethischem Wert sei.
Die Einstellung des Staates wird beklagt, da dieser nicht
so sehr an der Qualität der Ausbildung als allgemein
an der Erhöhung der Anzahl schulischer Abschlüsse.
Es wird auch noch erwähnt, dass der Staat in Polen
den Universitätslehrern zu wenig Lohn bezahlt, was
diese zwingt, in privaten Hochschulen zusätzliche Unterrichtsstunden
anzunehmen, wodurch ihnen die Zeit fehlt, sich in wissenschaftlicher
Hinsicht weiter zu entwickeln. Schließlich gehen die
beiden Autoren noch auf den Niedergang des (universitären)
Gemeinschaftsgeistes hin, für den sie viele Ursachen
in der heutigen Gesellschaft sehen, die wichtigste davon
jedoch sei die Technisierung und Spezialisierung. So wäre
es um vieles leichter eine Gemeinschaft aufzubauen, wenn
der oder die Studierende nicht sofort in seinem Fach anfinge,
sondern zuerst bloß an die Universität in ein
allgemeines Kollegium käme; die Zugehörigkeit
zu einer „Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden“
würde den Studenten helfen, Wissen und Universität
als einen wichtigen Teil ihrer Lebensausstattung anzusehen.
Und aus dem Grund sei das in einigen Universitäten
erhobene Postulat, jenes Universitätsmodell, das in
der Teilung in Fakultäten und Institute beruhe, durch
jenes anderes zu ersetzen, in welchem die Universität
in „Schulen und vielseitig orientierte Kollegia“
eingeteilt sei.
Reflexion
Soweit meine Nacherzählung dieses Artikels.
Nun gibt es vieles zu bedenken. Die Vorschläge der
beiden UniversitätslehrerInnen von der Universität
Warschau scheinen aus pädagogischen Gründen richtig
und wünschbar zu sein, ihre Durchführung dagegen
aus gesellschaftlichen Gründen unmöglich. Aber
warum ist das eigentlich so? Freilich kann man sagen, dass
man keine Viertellintelligentlinge will und sich dabei (vermeintlich)
auf einen allgemeinen Konsens berufen, aber der gesellschaftliche
Trend geht doch eindeutig in diese Richtung! Und dass der
Trend in Richtung Produktion von Fachidioten geht, ist auch
nicht einfach eine gesellschaftliche Fehlentwicklung, der
man gegensteuern kann, sondern hat gewiss seine Gründe,
die in der gesellschaftlichen Organisation und ihrem Funktionieren
liegen.
Die
wissenschaftlich-universitäre Ebene
Freilich scheint es auf den ersten Blick
nahe liegend zu sein aufgrund der Trennung der Fächer
nach fächerübergreifendem und interdisziplinärem
Wissen zu rufen, damit die Studierenden das, was sie durch
die Spezialisierung der Fächer verlieren, nachträglich
nachgeliefert bekommen. Eine andere Weise, über dieses
Thema zu denken, wäre hingegen, zu vermuten, dass es
durchaus schon Gründe dafür gibt, warum die einzelnen
wissenschaftlichen Fächer voneinander getrennt sind
– und dass es nicht im Sinn dieser Trennung ist, sie
nachträglich durch Interdisziplinarität wieder
zu verbinden!
Dieser Gedanke wird leicht einsichtig, wenn
man an das Merkmal der Fachkompetenz denkt. Universitätslehrer
sollen heute immer noch, so ist das oft in Stellenausschreibungen
zu lesen, ihr Fach „in Forschung und Lehre vertreten“
können. Das heißt, sie sollen die „letzte
Instanz“ bei bei der Beantwortung von Fragen über
die Falschheit oder Richtigkeit von Behauptungen in diesem
Fach sein. Die Trennung der Fächer in der Wissenschaft
und in der Universität nun bestärkt dieses Fachleutewesen
dadurch, dass die Nachbarfächer gewöhnlich nicht
im Garten des anderen wühlen. Es geht dabei ja um die
Herstellung von Hoheitsgebieten mit Hausherrenrecht. Hinter
der Logik der Fächertrennung steht also diejenige der
Spezialisierung, deren Sinn darin liegt, dass ein Wissenschaftler/eine
Wissenschaftlerin sich auf ein Themengebiet zurückzieht,
über das er/sie alles weiß, damit seine/ihre
Autorität nicht (so leicht) infrage gestellt werden
kann. Diese Logik gilt aber auch im Kleinen, innerhalb der
einzelnen wissenschaftlichen Fächer: Dort versuchen
Wissenschaftler, „Themen zu besetzen“, wie das
so schön heißt, also sich zu anerkannten Spezialisten
für einzelne Themen oder Themenbereiche zu machen.
Innerhalb der Fächer wirkt die Tendenz zur Spezialisierung
also weiter, denn man kann in der Wissenschaft nichts erreichen,
wenn man nicht ein solches thematisches Hoheitsgebiet erringt,
so klein auch immer es ist, innerhalb dessen die eigene
Meinung maßgeblich für alle anderen Wissenschaftler
ist, die sich mit diesem Thema beschäftigen wollen.
Wenn nun die Logik des Funktionierens der
Wissenschaft eine solche ist, was wird dann passieren, wenn
man in den Universitäten verstärkt auf Interdisziplinarität
setzt? Zwei Szenarien sind denkbar:
1) Das interdisziplinäre Wissen wird als populärwissenschaftliches
Wissen bezeichnet und dadurch entwertet – auf diese
Weise kann es das wissenschaftliche Wissen sowie seine „Hausherren“,
die es mit wissenschaftlicher Autorität verwalten,
nicht gefährden. Das Problem dabei: Es wird dadurch
auch selbst entwertet.
2) Das interdisziplinäre Wissen und diejenigen Menschen,
die es unterrichten, möchten nicht länger entwertet
bleiben – also beginnt das Fach sich zu „professionalisieren“,
d.h. es beginnt sich zu verwissenschaftlichen (es sucht
sich eine eigene theoretische Grundlage und eigene Methoden)
und schließt sich gegenüber den anderen wissenschaftlichen
Fächern ab. In dem Fall haben wir aber keine Interdisziplinarität
mehr, sondern ein wissenschaftliches Fach mehr in der Universität.
Man
ersieht aus dem Beispiel: Interdisziplinarität ist,
wenn man die Logik des Funktionierens wissenschaftlicher
Fächer betrachtet, nicht nur etwas Zusätzliches,
zu dem die handelnden Personen vielleicht keine Lust mehr
haben werden, sondern Interdisziplinarität bedeutet,
die gesamte wissenschaftliche Katze ganz extrem gegen den
Strich zu bürsten!
![](../images/philohof_kleinhellgrau_denkermitschrift.gif)
Die gesellschaftliche Ebene
Auch auf der gesellschaftlichen geht es
nicht an, die Struktur- und Funktionsgesetzlichkeiten der
Gesellschaft nicht zu beachten. Freilich ist es auf den
ersten Blick nahe liegend, dass man die Studierenden fächerübergreifendes
und interdisziplinäres Wissen lehrt, damit sie ihr
eigenes Wissen besser integrieren und sich in der Welt besser
orientieren können. Vom Standpunkt dessen, was für
das Individuum das Beste wäre (ohne noch weiteres zu
betrachten), ist das also richtig – aber was zählt
für die Gesellschaft? Und hier zeigt sich, dass für
die Gesellschaft gar nicht in erster Linie Wissen zählt,
sondern (formale) Qualifikationen. (Gibt es überhaupt
Qualifikationen, die nicht bloß formal sind?) Die
Gesellschaft honoriert also die Bildungsanstrengungen der
Einzelnen, aber sie tut es nicht dadurch, indem sie sich
anschaut, welches und wie viel Wissen diese gesammelt haben,
sondern sie honoriert die akademischen Titel, Diplome und
Zeugnisse, die die Menschen erworben haben. Ist es also
ein Wunder, wenn die Einzelnen, indem sie das erkennen,
sich auch vom Ziel des Wissenserwerbs (und gar des Erwerbs
von Allgemeinwissen) abwenden und anstatt dessen den Erwerb
von (formalen) Qualifikationen anstreben? Die Abneigung
der Studierenden gegen Kurse, die Allgemeinwissen vermitteln,
sind also nur allzu verständlich, denn erstens suchen
die Studierenden ja kein Wissen, sondern einen Abschluss,
ein Diplom, und zweitens wird Allgemeinwissen nicht am besten
geeignet sein, um einem Studienabschluss in einem einzelnen
universitären Fach zusätzlichen Marktwert zu verschaffen
– Allgemeinwissen ist das, was alle wissen (zumindest
sollten), ein Studium hingegen bezieht seinen Wert aus dem,
was nicht alle, sondern was nur eine ganz spezielle Gruppe
von Menschen weiß.
Bei den (formalen) Qualifikationen jedoch
ist die quantitative Standardisierung essentiell, denn sowohl
die Studierenden wie auch die Gesellschaft (in der Form
der Arbeitgeber, aber nicht nur) wollen wissen, wie viel
so ein Magistertitel wert ist und wie viel an Lernarbeit
in ihm steckt. Die Bildungsabschlüsse haben einen Marktwert
auf dem Arbeitsmarkt, an dessen Erhaltung sowohl die Studierenden
wie auch die Bildungsinstitutionen interessiert sein müssen;
erstere, um nicht unnötig Zeit und sonstige Ressourcen
vergeudet zu haben und die Bildungsinstitutionen, um im
Rang nicht zurückzufallen und auch in Zukunft gute
(und/oder zahlungswillige) Studenten zu bekommen.
Was also würde passieren, wenn man
die ECTS-Punkte wieder abschafft und alle Beurteilungen
so weit wie möglich von quantitativen auf qualitative
Beurteilungskriterien umstellt? – Die Bildungsanstalt
oder derjenige Staat, die das machen, würden gegenüber
den anderen im Rang zurückfallen, (weil diese ja weiterhin
quantitative Kriterien zur Benotung anwenden); die Human
Resources-Manager würden nicht mehr wissen, wie sie
die Studienabschlüsse von Bewerbern einschätzen
sollen und sie deshalb nicht mehr einstellen, und die Studenten
würden sich auf eine solche Bildungsanstalt, von der
man nicht einen Abschluss bekommen kann, der auch garantiert
„etwas wert ist“ nicht mehr einlassen und auf
andere Universitäten ausweichen.
Wie das Beispiel zeigt, braucht man also
nicht sehr weit zu denken, um eines zu lernen: Wenn man
das Universitätsstudium wirklich vom Drang zur Quantifizierung
in der Benotung befreien, müsste man zuerst einen noch
viel größeren Stein bewegen – man müsste
das Studium nämlich von aller Abhängigkeit vom
Arbeitsmarkt befreien. Nur wenn ein Studium nicht länger
„Ausbildung“ wäre, könnten Universitäten
dasjenige lehren und sie könnten es auf die Weise lehren,
wie sie glauben, dass es am besten wäre.
Schluss
Die Erkenntnis, dass Viertelintelligentlinge
umso gefährlicher sind, je mehr sie wissen, ist sicher
richtig, aber wir werden der Produktion von Viertelintelligentlingen
wohl nicht entkommen (es sei denn, wir könnten die
gesamte Gesellschaft auf andere Funktionsprinzipien umstellen).
Dem kann man auch nicht ein bisschen entgegensteuern, weil
der gesellschaftliche Trend immer mehr hin zum Viertelintelligentling
geht. Dabei müssen wir uns auf einen Zerfallsprozess
einstellen, der drei Ebenen hat:
1) der Zerfall des Wissens – Wissen
wird immer mehr spezialisiertes Wissen und hört immer
mehr auf, Wissen zu sein, das uns zur Orientierung in der
Welt hilft;
2) der Zerfall der Persönlichkeit – Menschen
mit immer mehr Spezialwissen haben immer weniger Allgemeinwissen,
um ihre Persönlichkeit zu integrieren;
3) und der Zerfall der Gesellschaft – zumindest in
den Köpfen der Menschen zerfällt die Gesellschaft,
weil ein jeder aufgrund des Mangels an Allgemeinwissen nur
mehr einen immer kleineren Teil von ihr bewusst wahrnimmt
Eine weitere interessante Frage ist, ob
unsere Gesellschaft diesen Trend zum Viertelintelligentling
– trotz allgemeinem Konsens, wonach das nicht gut
ist – nicht bereits akzeptiert hat und sogar ganz
bewusst aktiv verfolgt? Weiter gehend müsste man folglich
die Frage stellen, ob nicht Viertelintelligentlinge aus
gesellschaftlicher Sicht auch Vorteile haben?
Was grundsätzlich verwunderlich ist
an dem Artikel von Marta Bucholz und Pawel Spiewak, ist,
dass hier zwei Soziologen Vorschläge zur Änderung
der Ausbildung an den Universitäten machen und dabei
die gesellschaftliche Ebene des Problems gar nicht berücksichtigen.
Insbesondere berücksichtigen sie nicht mit, dass die
Universität nicht nur eine Ausbildungsstätte ist,
sondern traditionell auch der Hort der Wissenschaft; zweitens
muss man die Abhängigkeit der Universität vom
Arbeitsmarkt beachten. Hieran wiederum ist interessant,
dass, wenn die Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt eine vom
Markt oder von der Marktrealität ist, so ist die Universität
als Hort der Wissenschaften auf der anderen Seite auch von
organisationellen Bedingungen abhängig, davon, wie
die einzelnen Fächer als Organisationen organisiert
sind. Es ist also nicht einfach so, dass der böse kalte
Arm des Marktes in die Universitäten hineingreifen
würde, um dort alles zu verderben, sondern auch die
wissenschaftliche Organisation der Wissenschaft lässt
Verhaltensweisen entstehen, welche (siehe das Beispiel der
Interdisziplinarität) aus pädagogischer oder lerntheoretischer
Sicht gelinde gesprochen „suboptimal“ sind.
Diese Erklärung ist aber noch zu kurz
gegriffen, denn auch beim Arbeitsmarkt haben wir es nicht
mit einer reinen Marktlogik zu tun, sondern, weil wir ja
meistens von Organisationen angestellt werden, mit der Logik
des Organisationellen. Die Logik des Organisationellen –
z.B. in ihrer Tendenz der Abschließung nach außen
hin – zeigt sich z.B. darin, wenn Unternehmen Mitarbeiter
suchen, deren Ausbildung fast vollkommen mit dem Stellenprofil
übereinstimmt. Hier finden wir eine ähnliche „Fachleutelogik“
wieder, die Außenstehende draußen hält,
wie in der Wissenschaft. Es würde mich nicht wundern,
wenn auch die (vom Arbeitsmarkt geforderte) Tendenz zur
Quantifizierung in der Benotung von StudentInnen zusammenhängt
mit der Quantifizierung der Beurteilung von wissenschaftlichen
Leistungen bei den WissenschaftlerInnen (nach Anzahl der
Publikationen und Impact-Faktor der Publikationsorgane,
Mitgliedschaften in wissenschaftlichen Organisationen usw.).
Wir haben es hier wie dort mit der Tendenz von Organisationen
zu tun, den Rang und die Zutrittsrechte von Personen von
Formalanforderungen abhängig zu machen, was Neulingen
oder Außenstehenden beinahe alle Türen verschließt
und den Organisationen zu ihrem bekannten Flair des Konservativen
verhilft.
Somit
bleibt aus meiner Sicht noch eine Frage bestehen: Woher
kommen immer wieder diese Renaissancen des Interdisziplinären
und fächerübergreifenden Lehrens, wie sie auch
dem hier analysierten Artikel von Bucholz und Spiewak zugrundeliegen?
Drei Antwortmöglichkeiten sind vorstellbar:
1) aus dem individuellen Bedürfnis (der Artikelautoren
etwa) heraus, welche „spüren“, dass da
heute etwas fehlt? – Das wäre immerhin denkbar.
2) Aus politischen Motiven? – Das wäre auch denkbar,
denn in der Politik muss ja nicht alles durchführbar
sein, was man vorschlägt; es muss nur einer großen
Zahl von Menschen gefallen.
3) Zur Verschleierung der tatsächlichen Zustände
und Funktionsgesetzlichkeiten in Universität und Wissenschaft.
– Das müsste man den beiden Autoren des Artikels
fast unterstellen, weil sie es als Soziologen ja besser
wissen müssten.
8.
Oktober 2009
|