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Leseeindrücke bei der Lektüre von Richard Rortys Buch Kontingenz, Ironie und Solidarität

(Suhrkamp, Frankfurt/Main 1992)

 

Dieses Buch erschien im Original auf Englisch unter dem Titel „Contingency, irony, and solidarity“ im Jahre 1989, Cambridge University Press, und basiert, wie man im Vorwort erfahren kann, auf zwei Vorlesungsreihen: drei Northcliffe Lectures, gehalten im Februar 1986 am University College, London, und vier Clark Lectures, gehalten im Februar 1987 am Trinity College, Cambridge.

Was das Buch interessant macht:

Dies ist ein Buch über Literatur und Literaturwissenschaft, das von der erkenntnistheoretischen Position ausgeht, dass Wahrheit nicht aufgefunden, sondern gemacht wird. (Richard Rorty erklärt das auf verschiedene Arten, z.B. dadurch, dass es Wahrheit und Welt immer nur innerhalb von Beschreibungen geben kann – und nicht „dort draußen“ –, Beschreibungen aber werden immer von Menschen geschaffen. Aber mit diesen Erklärungen will ich mich jetzt nicht lang aufhalten.) Für mich ist relevant, dass dieser konstruktivistische erkenntnistheoretische Zugang eine andere Vorstellung von Wissenschaftlichkeit in der Literaturwissenschaft nötig macht. Er macht sie deshalb nötig, weil es innerhalb dieses Paradigmas ja nicht mehr möglich ist, einfach Wissen zu sammeln, als hätte man einen festen, durch wissenschaftliche, methodische Arbeit gefestigten, Grund unter sich, sondern: Die nächste Erkenntnis, die folgende Beschreibung kann die vorhergehende als falsch erscheinen lassen. Deshalb löst die Diskussion, der Konkurrenzkampf der einzelnen wissenschaftlichen Weltbeschreibungen, das vorhergehende wissenschaftliche Paradigma der methodologisch fundierten anhäufenden Wissensansammlung ab. Im herkömmlichen Wissenschaftsverständnis schafft ja die Wissenschaft durch die Zusammenarbeit aller Wissenschaftler ein kollektives Wissensgebäude, welches immer weiter wächst, und der einzelne Wissenschaftler wird dazu angehalten, dabei diszipliniert mitzubauen. Ein solches Gebäude steht und fällt aber mit seinem Fundament – und ein solches gibt es nicht, wenn man es mit Rorty für richtig hält, dass die Wahrheit gemacht wird. Rortys Ausgangspunkt ermöglicht es, dass verschiedene wissenschaftliche Standpunkte entstehen, die miteinander in Diskussion treten – im herkömmlichen Wissenschaftsverständnis ist Diskussion hingegen eigentlich nicht möglich, weil eine bestimmte Behauptung entweder wahr oder aber gar nicht zulässig ist.
Kurz, Rortys Vorstellung von Literatur und Literaturwissenschaft macht Diskussion in der Wissenschaft möglich.


Was dieses Buch uninteressant macht:

Rorty zieht sich in diesem Buch bei seiner Besprechung literarischer Werke auf einen kollektiven Standpunkt, auf einen Wir-Standpunkt zurück – und das ist jener der „Liberalen im zwanzigsten Jahrhundert“. Er tut das ganz ohne Grund, denn er hatte mit seinem konstruktivistischen Ausgangspunkt ja bereits den Zwang zu einer kollektiven Perspektive zerschlagen: Wenn es nun verschiedene Meinungen geben darf und nicht mehr die eine Wahrheit, welche die verschiedenen Meinungen knebelt, warum dürfen dann nicht auch Ichs, also einzelne Individuen ihre Meinung zum Ausdruck bringen, bzw. warum sagt Rorty nicht im eigenen Namen, was er zu sagen hat, und sagt es anstatt dessen stellvertretend für die Gruppe der Liberalen? (Dazu kommt noch, dass Rorty ein besonderes Verständnis von Liberalismus hat, bei dem man ihm zuerst einmal folgen müsste, wenn man das wollte. Dieses besteht für ihn darin, dass der zentrale Wert eines Liberalen darin besteht, dass er nicht grausam zu anderen Menschen sein will. Und diese Sensibilisierung für Grausamkeit überträgt Rorty dann auch auf literarische Werke und macht sie zu einer wichtigen Aufgabe von ihnen – worin man ihm auch erst einmal folgen müsste, was aber schon ein ungewöhnlich weiter Weg zu sein scheint.)
Kurz, mit seiner Einnahme eines kollektiven Standpunkts, einer Wir-Perspektive, macht Rorty eigentlich jenen Fortschritt wieder zunichte, den er sich mit seinem konstruktivistischen erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt erarbeitet hatte. (Es ist von Rortys Ausgangspunkt her gesehen ja auch nicht verständlich, warum etwas, das wir sagen, richtiger sein sollte, als etwas, das ein einzelnes Individuum sagt. Umgekehrt wird die Möglichkeit der Diskussion wiederum eingeschränkt, wenn Wir-Perspektiven gerechtfertigt werden müssen.)


Warum das Buch so heißt, wie es heißt:

Das Buch handelt davon, dass die Welt kontingent ist (kontingent ist alles, was so ist, wie es ist, aber auch anders sein kann; die Alltagswirklichkeit ist kontingent – d.h. ein Stuhl steht heute hier, aber morgen kann er auch woanders stehen; das Gegenteil von kontingent ist apodiktisch – das ist alles, was so ist, wie es ist und gar nicht anders sein kann). Kontingent sind für Rorty für allem die Sprache, das menschliche Selbst und das Gemeinwesen. Das bedeutet: Heute erscheint uns die Welt so, weil wir eine bestimmte Sprache haben, um über sie zu reden; aber wenn wir diese Sprache weiterentwickeln, wird uns die Welt anders erscheinen – so hat sich etwa die Sprache von Aristoteles über Newton bis zur heutigen Zeit verändert, und diese Kontingenz der Sprache ermöglicht/verursacht eine andere Weltsicht. Ebenso kontingent stellt sich Rorty das menschliche Selbst vor, das für ihn keinen Kern hat, sondern aus Zufälligkeiten geformt ist, die in der Entwicklung des Individuums passiert sind und sich verfestigt haben – wenn das so ist, dann gibt es auch so etwas wie ein Wesen des Menschlichen nicht, der ganze Mensch ist zufällig und könnte auch anders sein. Kontingent, also veränderlich ist auch das Gemeinwesen, die Gesellschaft – und Rorty wünscht sich sogar, dass es sich verändert, hin zu einer „Kultur des Liberalismus“ (S. 85), in welcher die Literatur die Welt erklärende Stellung einnimmt, die früher Religion und Philosophie innehatten.
Kontingenz (vor allem die Kontingenz der Sprache) ist die Grundlage für Rortys erkenntnistheoretischen Relativismus oder Konstruktivismus: Wenn alles so ist, aber auch anders sein könnte, gibt es kein einfaches Wahr oder Falsch, sondern nur bessere oder schlechtere bzw. brauchbarere und weniger brauchbare Beschreibungen der Welt.

Der zweite wichtige Pfeiler des Buches ist Ironie. Rorty meint damit eine (individuelle) Haltung von immer mehr Menschen in der westlichen Welt, die darin besteht, sich selbst und seine Überzeugungen nicht allzusehr ernst zu nehmen, und zwar eben deshalb, weil man die Kontingenz der Sprache und der Welt erkannt hat und deshalb nicht ausschließt, dass das „abschließende Vokabular“ (S. 127), in dem man seine eigenen Überzeugungen formuliert, in Zukunft über den Haufen geworfen wird. Rortys Problem in diesem Buch besteht darin, das Verhältnis von Ironismus und Theorie zu erklären, wobei er unter Theorie so etwas wie die eine philosophische Wahrheit versteht, die für alle Menschen gelten soll. In Kontingenz, Ironie und Solidarität läuft es darauf hinaus, dass Ironismus und Theorie eben nicht zusammengehen, weil, wenn ein Ironiker (philosophische oder politische) Theorie entwirft, immer etwas entsteht, das für die Politik „im besten Fall unnütz und im schlimmsten Fall gefährlich“ ist (S. 121). Ironiker sollten sich, nach Rortys Meinung, besser wie Marcel Proust auf ihr Privatleben beschränken und dieses philosophisch-literarisch aufarbeiten.

Solidarität als dritter zentraler Begriff hat eine Rettungsfunktion für das Gesamtgebäude der hier dargestellten Rorty’schen Theorie. Solidarität besagt, dass ein Gemeinwesen, das aus immer mehr ironischen Menschen besteht, die sich selber nicht völlig ernst nehmen, nicht zerfallen muss, weil Ironie (im privaten Bereich) und Solidarität (auf der gesellschaftlichen Ebene) neben einander zu bestehen vermögen.


Welche Aufgaben der Literaturwissenschaftler nach Rorty hat:

Ich will es gleich auf das Wesentliche komprimieren, was mich an diesem Entwurf einer Literaturwissenschaft von Rorty stört: Da es Kontingenz bei Rorty zwischen verschiedenen Sprachen oder Entwicklungsstadien einer Sprache gibt, fällt dem Literaturwissenschaftler/der Literaturwissenschaftlerin die Aufgabe zu, die Vokabulare von Büchern oder Gruppen von Büchern miteinander zu vergleichen. Das bedeutet, Newton hatte nicht nur einfach einzelne Meinungen, die sich von denen von Aristoteles unterschieden, sondern er hatte vor allem eine andere Sprache mit anderen zentralen Begriffen, die man deshalb untersuchen und als ganze mit der Sprache von z.B. Aristoteles vergleichen muss. Ich habe nun nichts dagegen, dass man das macht – man kann das auch machen. Aber ich würde als Literaturwissenschaftler eigentlich nicht in erster Linie die Vokabulare von Büchern miteinander vergleichen wollen, sondern einzelne Bücher lesen und über sie nachdenken. Das ist jedoch eine Erkenntnismethode – zu lesen und darüber nachzudenken, wie die einzelnen Inhalte eines Buches eigentlich zusammenpassen – die aus Rortys Perspektive als nicht sehr fruchtbar oder erfolgversprechend erscheint: Schließlich verheddert man sich auf diese Weise in einem einzelnen Diskurs, während der große Vorteil des Literaturwissenschaftlers als eines Viellesers ja in der Fähigkeit, verschiedene Diskurse miteinander zu vergleichen, besteht, wodurch er dem einzelnen Diskurs nicht ausgeliefert ist.

"Wir Ironiker behandeln diese Autoren nicht als anonyme Kanäle der Wahrheit, sondern als Abbreviaturen eines bestimmten Vokabulars und der typischen Überzeugungen und Wünsche, die die Benutzer dieses Vokabulars haben." (S. 137)

"Es ist uns gleichgültig, ob die Schriftsteller ihrem Selbstbild entsprechend lebten. Was wir wissen wollen, ist, ob wir diese Bilder übernehmen und uns selbst nach dem Bild dieser Menschen ganz oder teilweise umschaffen sollen. Wir nähern uns einer Antwort auf diese Frage dadurch, daß wir mit den Vokabularen experimentieren, die diese Menschen zusammenbrauten." (ebd.)

"Diese Art Vergleich, dieses Gegeneinander-Ausspielen verschiedener Gestalten ist in der Hauptsache das, was man heute mit dem Terminus "Literaturkritik" bezeichnet. Einflussreiche Kritiker, solche, die neue Kanones aufstellen, zum Beispiel Arnold, Pater, Leavis, Eliot, Edmund Wilson, Lionel Trilling, Frank Kermode, Harold Bloom, machen es sich nicht zur Aufgabe, die wirkliche Bedeutung von Büchern zu erklären oder ihr sogenanntes "literarisches Verdienst" zu werten. Sie verwenden ihre Zeit darauf, Bücher im Kontext anderer Bücher, Gestalten im Kontext anderer Gestalten einzuordnen." (S. 138)

"Für uns Ironiker kann als Kritik an einem abschließenden Vokabular nur ein anderes abschließendes Vokabular dienen..." (ebd.)

"Ironikerinnen und Ironiker lesen Literaturkritiker und nehmen sie als Ratgeber in moralischen Fragen, [...] weil sie mehr Bücher gelesen [haben] und sich deshalb weniger leicht vom Vokabular eines einzigen Buches einfangen [lassen]." (S. 139)

Mit der Methode des Diskursvergleichs hebt Rorty den Literaturwissenschaftler gegenüber dem gewöhnlichen Leser/der gewöhnlichen Leserin in eine höhere erkenntnistheoretische Position, aus welcher er/sie mehr sieht als diese/r und von daher auch den Anspruch erheben kann, mehr über Literatur zu wissen als diese/r, was zugleich auch die Literaturwissenschaft als gesellschaftliche Institution rechtfertigt. Auf der anderen Seite erhebt sich die Frage, ob literarische Werke, gemäß dieser Methode untersucht, nicht in einem uneigentlichen Sinne benutzt werden – ein bisschen so, wie wenn ein Chemiker einen Laib Brot untersucht: Zwar wird er dann mehr über ihn wissen als der gewöhnliche Mensch, aber er wird ihn nicht im Sinne des Herstellers verwendet haben, der das Brot gemacht hat, damit man es isst. Noch wird er das herausgefunden haben, was sie meisten Menschen bei einem Brot interessiert: wie das Brot schmeckt.
(Zusätzlich stellt sich aber auch noch die Frage, ob Diskussion in einer Literaturwissenschaft des Diskurs- und Vokabularvergleichs von literarischen Werken überhaupt noch möglich wäre, oder ob sich nicht der/die Literaturwissenschaftler/in eben durch diese Methode des Vergleichs von Vokabularen über eine jede Diskussion erhebt (die ja immer ein einziges Vokabular zur Grundlage hat) und gleichsam durch und mit seiner Vokabularvergleichsmethode zum Ausdruck bringt: "Ich mache hier etwas Besseres als Diskutieren!" - Vokabularvergleich ist dann etwas, das sich über die Diskussion erheben will und diese als unzulängliches Mittel für das Verständnis von Literatur ansieht.)
Kurz, es stellt sich, wie immer, die Frage, ob das, was die Literaturwissenschaft mit Literatur macht, mit Literatur (und ihren gewöhnlichen Verwendungsweisen) noch etwas zu tun hat – oder ob nicht die Literaturwissenschaft aus der Literatur etwas völlig anderes macht, das nur als spezieller Gebrauch von ihr unter wissenschaftlichen (Labor-)Bedingungen verstanden und beschrieben werden kann.

 

10. November 2008


Warum ich mit Richard Rortys Philosophiebegriff nicht einverstanden bin

 

© helmut hofbauer 2008