Was
ist eigentlich Phänomenologie?
Diesen
Text hatte ich schon einmal auf meiner Homepage,
ich
habe ich jetzt wieder draufgegeben, weil er mir wichtig
ist - und zwar aus folgendem Grund: Ich denke, es
gibt verschiedenerart verbrämte (und auch vermurkste)
Arten von Phänomenologie auf dem Markt, es gibt
die veretymologisierte Version davon von Heidegger
(mit der soll, wer mit ihr kann) und es gibt die verpsychoanalysierte
Version von Lacan (mit der soll auch, wer damit kann)
und andere verpsychologisierte Versionen anderer französischer
Autoren, aber:
im
Grunde, meine ich, dass hinter der Phänomenologie
ein einziger und ganz einfacher Gedanke steht (hinter
dem ich auch stehe), nämlich dass die (individual-)menschliche
Erkenntnis in der Erfahrung (d.h. in den Phänomenen)
ihren Grund finden kann, ihren festen Grund, auf dem
sie stehen kann, und damit auch ihre "Wahrheit".
Der
Grund dafür nun wiederum, warum das überhaupt
möglich ist, ist der, dass - kurz gesagt - eine
Sache manchmal einfach so ist, wie man sie eben erlebt,
und es völlig egal ist, wie sie objektiv gesehen
ist, oder ob sie objektiv gesehen anders ist als wie
man sie erlebt.
Damit
will ich sagen, man kann mit der phänomenologischen
Methode nicht grundsätzlich ausschließen,
dass man glaubt, eine Oase zu sehen und in Wirklichkeit
war es eine Fata Morgana. Es gibt immer eine noch
umfassendere Wahrheit, die über den einzelnen
Beobachtungsbereich hinausgreift - die Frage ist nur
die: Welche Relevanz diese noch umfassendere, noch
objektivere Wahrheit im Einzelfall hat und ob sie
überhaupt irgendeine Relevanz hat?
Deshalb
noch einmal in möglichster Kürze warum ich
glaube, dass man phänomenologisch philosophieren
kann: Sie können mit Ihren Freunden ein Wochenende
auf dem Land verbringen. Wenn Sie dieses Wochenende
als furchtbar erleben, dann hilft es Ihnen gar nichts,
wenn es "objekiv gesehen" (in diesem Zusammenhang
scheint der Ausdruck sogar seinen Sinn zu verlieren)
gar nicht so schlimm war. Manchmal ist etwas eben
einfach so, wie man es erlebt -
-
und deshalb gilt die Phänomenologie! |
Wenn
man mich danach fragen würde, was ich denke, was „Phänomenologie“
ist oder sein sollte, was würde ich dann eigentlich
sagen?
Ich meine, man kann natürlich, wenn
es um die Frage nach der Phänomenologie geht, darüber
sprechen, was Edmund Husserl, der allgemein als ihr Gründer
anerkannt wird, letztlich wollte, dass die Phänomenologie
sei. Und ebenso kann man auf die Frage nach der Phänomenologie
anfangen, über die anerkannten phänomenologischen
Philosophen zu reden, als da sind Roman Ingarden, Jean-Paul
Sartre, Maurice Merleau-Ponty, Max Scheler, Martin Heidegger,
Hannah Arendt, Nicolai Hartmann, Helmuth Plessner, Paul
Ricoeur, Jacques Lacan, Hans-Georg Gadamer und Eugen Fink.
Aber ob man auf diese Weise herausbekommen
kann, was Phänomenologie ist? Oder ob man auf diese
Weise nicht doch nur beschreibt, was Husserls Meinung über
die Phänomenologie war? Oder aber zu der Lösung
kommt, dass alle Philosophen, die in der phänomenologischen
Tradition stehen, Phänomenologen sind?! Oder sogar,
dass jene Philosophieprofessoren, die sich mit den anerkannten
phänomenologischen Philosophen beschäftigen, Phänomenologen
sind??
Ich bin mit alledem nicht zufrieden; ich
würde es vorziehen, dass man mir eine Idee von der
Phänomenologie vermittelt, wenn man mir von der Phänomenologie
erzählt. Ich möchte ganz allgemein einmal bemerken,
dass es das menschlich Naheliegendste ist, zuerst einmal
die Idee oder das Konzept einer Sache darzustellen, wenn
man nach einer Sache gefragt wird – und nicht deren
Geschichte und allerhand buchfüllende Details. Aber
vielleicht ist es so, dass, weil die Kinder auf diese Weise
fragen, es den erwachsenen Menschen kindisch und den Akademikern
banal erscheint, in einem solchen Sinne auf eine Frage zu
antworten.
Was würde demnach also ich antworten
auf die Frage nach der Phänomenologie? Wie würd
ichs einem Kinde erklären? Ja, wie habs ich selber
denn eigentlich verstanden?
Ich
denke, die Phänomenologie ist eine Reaktion auf den
deutschen Idealismus. Dieser hatte auf dem Grund des leeren
menschlichen Bewusstseins eine metaphysische Suche nach
Kategorien und Grundlagen desselben und des Seins überhaupt
veranstaltet solange, bis alles nur mehr ein müßiger
Streit um Worte zu sein schien und das Bedürfnis neu
erwachte, wieder einmal über „die Dinge selbst“
zu reden und nicht nur immer über das apriorische Bewusstsein,
das Bewusstsein vor aller Erfahrung.
Diese
„Dinge selbst“, das sind die Phänomene.
Die Phänomene sind die Dinge, so wie sie uns erscheinen.
Die Phänomenologie ist nämlich auch ein Konkurrenzunternehmen
zum Positivismus. Der Positivismus, wollte sich den positiva,
den Dingen selbst möglichst direkt zuwenden und sie
durch Beobachten und Messen einfangen. Dagegen verwehrt
sich die Phänomenologie, indem sie darauf besteht,
dass uns die Dinge selber nicht zugänglich sind, sondern
eben nur ihre Erscheinungen.
Die
Idee zur Phänomenologie scheint Husserl von seinem
Lehrer, dem österreichischen Philosophen Franz Brentano
und seiner „intentionalen Psychologie“ übernommen
zu haben. Sie lautet zusammengefasst so: Alles, was ist,
alles Wirkliche, erscheint uns im Bewusstsein, als einzelne
Bewusstseinsinhalte; wenn ich an irgendwas denke, einen
Tisch etwa, geht die Intention, die ich habe, über
den Bewusstseinsinhalt, über die Vorstellung eines
Tisches hinaus und richtet sich auf einen wirklichen Tisch
draußen in der Wirklichkeit. Nun ist es aber so, dass
Scheinbares und Wahres gleichermaßen über meine
Sinnesorgane in mein Bewusstsein kommen und dort als Bewusstseinsinhalte
aufscheinen; gesucht ist demnach eine Methode der Reinigung
dieser Bewusstseinsinhalte, um Wahres von Falschem zu trennen.
Diese Methode der Reinigung besteht nun darin, dass ich
nach dem Wesen einer Sache oder nach dem Wesentlichen an
einer Sache frage. (Das hat Husserl dann weiterentwickelt
mit seiner „phänomenologischen Reduktion“,
aber im Grunde bleibt es dasselbe.) Zusammengefasst, wenn
ich meine Bewusstseinsinhalte betrachte und mich danach
frage: Was ist das Wesentliche an diesem oder jenem Ding,
an dieser oder jener Erfahrung? - dann betreibe ich Phänomenologie.
Nun hat Husserl den meiner Ansicht nach
erschreckenden Fehler gemacht, in der Phänomenologie
eine Wissenschaft und noch dazu eine apriorische Wissenschaft
sehen zu wollen. Was die apriorische Wissenschaft betrifft
– da hätte er doch gleich weiter Deutschen Idealismus
betreiben können! Denn die Phänomenologie, so
wie ich das verstehe, ist ja die Abwendung von den Fragen
nach dem Apriorischen, zugunsten einer Hinwendung zu den
Phänomenen. Um es noch klarer zu formulieren: Wenn
ich mich um die Fragen nach den apriorischen Gegebenheiten
kümmere, dann richte ich mein Bewusstsein auf logische
Fragen danach, was vor aller Erfahrung da ist und alle mögliche
Erfahrung grundlegt. Wenn ich mich phänomenologisch
der Wahrheit nähere, dann lasse ich solche apriorische
Fragen offen und wende mich den Phänomenen zu, um diese
ganz genau zu betrachten und mich von ihnen belehren zu
lassen.
Und was nun den Fehler betrifft, die Phänomenologie
als eine Wissenschaft zu sehen, da möchte ich fast
sagen, da hätte Husserl ja auch bei den Positivisten
mitmachen können. Denn in der Phänomenologie geht
es – meiner Ansicht nach, aber offenbar nicht nach
jener Husserls oder anderer Phänomenologen –
um die Phänomene. Die Phänomenologie ist die erste
Denkrichtung in der Geschichte, die in ihrer Wahrheitssuche
und Erkenntnistheorie die Phänomene richtig zu würdigen
begann. Aber damit ein solches Projekt nicht von vornherein
auf Abwege gerät, muss man sich zuerst einmal gehörig
die Frage stellen, was denn ein „Phänomen“
überhaupt ist.
Was
ist ein Phänomen? Ich habe die Antwort ja schon gegeben,
ein Phänomen ist ein Ding in der Wirklichkeit, so wie
es uns in unserem Bewusstsein erscheint. Aber so versteht
das ja noch niemand; deshalb muss ich die Antwort noch etwas
radikalisieren: Die bewusste Wahrnehmung von Phänomenen,
also die bewusste Idee, das, was man sieht und denkt und
sich vorstellt, als Phänomene wahrzunehmen, ist eine
neue Position im alten philosophischen Streit zwischen Schein
und Wahrheit, der seit jeher, seit den Anfängen der
Philosophie besteht. Immer schon hat die Philosophie versucht,
nicht auf den Schein hereinzufallen und unter/hinter/über
dem Schein die Wahrheit zu suchen. Die Wahrheit gab es seit
jeher in zwei Gestalten: entweder in den Dingen selbst,
so wie sie richtig wahrgenommen werden (siehe Aristoteles,
Universalienstreit, Empirismus, Positivismus...) oder, zweite
Möglichkeit, in der richtigen Idee, die man über
die Dinge hat (siehe Platon, Universalienstreit, Rationalismus,
Deutscher Idealismus...). Das heißt, die Wahrheit
über die Dinge wurde immer entweder in den Dingen selbst
oder in den richtigen Ideen über die Dinge gesucht.
Die Hinwendung zu den Phänomenen, mithin also die Idee
der Phänomenologie, so wie ich sie verstehe, bedeutet
zu sagen: Nicht da, noch dort, sondern dazwischen, zwischen
den wahren Ideen und den Dingen an sich, (weil beide uns
nicht zugänglich sind), ist die Wahrheit zu suchen,
nämlich in den Phänomenen, in dem, was wir tatsächlich
erleben und was uns tatsächlich zu Bewusstsein kommt.
Das
ist aber noch nicht die ganze Geschichte: Die Phänomenologie
wendet sich also den Phänomenen zu – und damit
von den an sich wahren Ideen und den Dingen an sich ab.
Das bedeutet aber nun nicht nur, wie ich gesagt habe, eine
ganz neue Position in dem alten philosophischen Streit zwischen
Schein und Wahrheit, sondern auch eine völlig neue
Bewertung von Schein und Wahrheit selber. Während nämlich
für alle Philosophie vor der Phänomenologie klar
war, dass die Wahrheit das ist, was zu suchen ist und der
Schein das, was uns von der Wahrheit abhält, sucht
die Phänomenologie die Wahrheit im Schein!!! Das phainomenon
ist etwas, das erscheint. Ihm wendet die Phänomenologie
ihre Aufmerksamkeit zu, sie wendet sich also dem Schein
zu. Das ist eine völlig neue Idee, die allen herkömmlichen
Wahrheitskonzeptionen widerspricht. Die Wahrheit im Schein
zu suchen, wäre für die Philosophen vor der Phänomenologie
wie auch für die allermeisten Nichtphilosophen, wie
auch im übrigen für die Wissenschaft eine völlig
absurde Idee. Wie lässt sie sich erklären?
Sie
lässt sich so erklären, indem man danach fragt:
In welcher Realität lebt denn der Mensch eigentlich?
Lebt der Mensch in der Welt der Dinge, so wie sie wirklich
sind? – Nein! Lebt der Mensch in der idealen Welt
der Ideen? – Auch nicht. Wo lebt der Mensch also?
– Um es ganz einfach so herauszusagen, er lebt in
seinem Bewusstsein. Vielleicht kann ich das mit Luhmann
erklären, für den es „soziale Systeme“
gibt und „Bewusstseinssysteme“. Ein soziales
System etwa nimmt nicht die Wirklichkeit wahr, wie sie ist,
sondern das Wirtschaftssystem etwa nimmt nur Kaufen/Nicht
kaufen wahr und ist blind für die Umweltverschmutzung.
Wir individuelle Menschen nun sind Bewusstseinssysteme,
wir nehmen auch nicht wahr, was eigentlich los ist, also
etwa ob uns ein kleines Äderchen im Hirn platzt, (solange
das nicht gravierendere Folgen nach sich zieht), sondern
wir nehmen nur wahr, was uns ins Bewusstsein kommt –
oder vielleicht: was unser Bewusstsein zulässt, dass
uns zu Bewusstsein kommt. Mit einem Wort, unser Bewusstsein
spielt uns etwas vor, spielt uns eine Realität vor.
Der
Mensch lebt in seinem Bewusstsein, und dieses erschafft
für ihn eine Scheinwelt, aber: Da er sein ganzes Leben
in dieser Scheinwelt zubringt, ohne Möglichkeit aus
ihr auszusteigen und sie durch einen Blick von außen
zu relativieren, da der Mensch also im Schein lebt, ist
dieser Schein für ihn Wahrheit! Jedenfalls dann, wenn
man danach fragt, in welcher Realität der Mensch nun
wirklich lebt.
Um
nun die Frage: Was ist eigentlich ein Phänomen? zu
einem würdigen Abschluss zu bringen: Ein Phänomen
ist nicht das erste Anzeichen von einem wirklichen Ding,
dergestalt, dass man wieder zu wirklichen Dingen kommen
würde, wenn man nur die Phänomene ein wenig genauer
untersucht. Ein Phänomen ist also nicht die Erscheinung
eines wirklichen Dinges, sondern es ist das wirkliche Ding
als Erscheinung oder, noch radikaler formuliert: Es ist
die Erscheinung als wirkliches Ding. Wenn ich mit dem Bewusstsein,
nach Phänomenen Ausschau zu halten, meinen Blick auf
die Wirklichkeit richte, so ist es das Bewusstsein davon,
dass ich "nur" Phänomene zu sehen bekomme,
wenn ich "zurück zu den Dingen selbst" gehen
möchte, dass ich von Phänomenen umgeben bin und
in einer Welt lebe, die komplett aus Phänomenen besteht,
das heißt, aus Dingen, die kein anderes Sein haben
als die Weise, wie sie mir erscheinen. Wenn man ein Bewusstsein
vom Phänomen hat, also davon, was ein Phänomen
wirklich ist, dann hört man auf damit zu fragen, wie
die Dinge in Wirklichkeit sind, weil man verstanden hat,
dass es das gar nicht gibt, dieses "in Wirklichkeit"
hinter den Erscheinungen - sondern dass die Dinge so sind,
wie sie uns erscheinen, dass die Dinge in Wahrheit ihre
Erscheinungen sind. Deshalb wendet man sich den Erscheinungen
zu, um diese genauer zu betrachten, weil man verstanden
hat, dass die Wahrheit auf dieser Ebene liegt: auf der Ebene
der Phänomene.
Dass
man sich auch dem Schein, den Phänomenen zuwenden und
sie untersuchen könne, dass man sie genau beschreiben
und miteinander vergleichen könne und auf diese Weise
innerhalb der Scheinwelt des Bewusstseins Wesentlicheres
von Unwesentlicherem, Wahreres von weniger Wahrem trennen
könne, das halte ich für die verdienstvolle Idee
der Phänomenologie, die gemacht und sofort wieder vergessen
wurde. Husserls „eidetische Phänomenologie“,
scheint mir ja ein richtiger Rückfall in den Platonismus
zu sein, er konnte sich offenbar nicht halten auf der prekären
Ebene der Phänomene und so musste, wenn er die Phänomene
hinterfragte, am Ende eine ewige Wahrheit und also eine
Idee herauskommen. Phänomene sind ja tatsächlich
prekäre, flüchtige Dinge, ihre Wahrheit ist heute
so und morgen anders, na so, wie sie eben erscheinen –
und die Versuchung ist groß, wenn man sie hinterfragt,
nach einem Ergebnis zu suchen, das etwas anderes ist, als
wieder ein Phänomen. Das heißt, wie wir schon
wissen, entweder nach einer Idee oder nach dem Ding, wie
es wirklich ist. Wenn man das tut, verlässt man aber
die Ebene der Phänomene schon wieder, welche die eigentliche
Ebene der Phänomenologie darstellt.
In
diesem Sinne ist zu fragen: Wie könnte denn die Phänomenologie
überhaupt Wissenschaft sein? Die Phänomenologie
spielt sich auf der Ebene der Phänomene ab und hinterfragt
diese in ihrem Zusammenhang; die Wissenschaft hingegen fragt
letztlich immer wieder nach den Dingen selbst. Ein wissenschaftliches
Resultat ist kein Phänomen, sondern eine Tatsache,
und Tatsachen sind es auch immer wieder, die die Gesellschaft
von der Wissenschaft erwartet - und nicht Erklärungen
beispielsweise darüber, wie es einem bestimmten Menschen
nun wirklich geht, wenn er verliebt ist.
Befremdlich
an der Tatsache, dass Husserl unbedingt wollte, dass die
Phänomenologie Wissenschaft sei, ist auch, dass die
Wissenschaft ja auch intersubjektiv und der Intention nach
sogar objektiv ist. Nun ist zu fragen: Lebt denn der Mensch
in einer intersubjektiven Welt? Können Sie denn, werter
Leser, wenn ich gerade Zahnschmerzen habe, meinen Zahnschmerz
mitfühlen? – Nein. Die Intersubjektivität,
in der wir Menschen leben, ist eine nachträgliche,
sie ist eine Erscheinung der Sprache und natürlich
auch eine Folge dessen, dass wir alle einander nicht völlig
unähnlich sind. Ich kann also annehmen, dass Sie auch
wissen, was Zahnschmerz ist. Aber im Grunde leben wir eingesperrt
in unserem eigenen Körper und in unserem eigenen Bewusstsein;
wir leben in einer individuellen Welt, die durch Sprache
und Kommunikation erst nachträglich zu einer gemeinsamen
wird. Wenn man darüber nachdenkt, kann man auch nachvollziehen,
was für eine Verfälschung der Phänomene sich
ergeben muss, wenn man die Phänomenologie als Wissenschaft
betreibt: Man setzt dann von vornherein ein intersubjektives
Maß an die Erfahrungen und Phänomene an, die
zur Sprache kommen sollen und das hat zur Folge, dass ein
jedes Phänomen, das über den intersubjektiven
Durchschnitt hinausgeht, ratzeputz geköpft und abgehobelt
wird, ja, eigentlich kann ein Phänomen unter solchen
Bedingungen überhaupt nicht zur Sprache kommen. Wenn
man die Phänomene nicht an ihrem ureigensten Entstehungsort,
dem individuellen menschlichen Bewusstsein aufsucht, dann
gibt es sehr schnell nur mehr Gemeinplätze zu hören,
aber keine einzige authentische Erfahrung mehr, die irgendein
Mensch wirklich gemacht hätte.
Und
in diesem Zusammenhang hätte ich auch noch einen letzten
Hinweis anzubringen: Es ist auch befremdlich, dass die Phänomenologie
„Phänomenologie“ heißt. Wie ich dargestellt
habe, muss und kann das phänomenologische Projekt kein
anderes als ein individuelles sein. Schließlich geht
es dabei ja darum, Phänomene auch tatsächlich
zu erfassen, das heißt authentische Erfahrungen, authentisches
Erleben, dort zu sehen und zu beschreiben, wo es geschieht
und in dem Zusammenhang, in dem es geschieht. Nun, der Ort,
an dem es geschieht, ist die individuelle menschliche Innenwelt,
und der Zusammenhang, in dem es geschieht, ist der der persönlichen
Lebensgeschichte – die Hinwendung zur eigenen Innenwelt
und zur persönlichen Lebensgeschichte aber bedeutet
eine Abwendung von allen –ismen und –logien.
Insofern ist es, wie ich glaube, ein Widerspruch in sich
selber, dass die Phänomenologie „Phänomenologie“
heißt.
Insgesamt
kann ich sagen, dass ich die Phänomenologie für
eine gute Idee halte. Es ist tatsächlich sinnvoll,
dass er Mensch sich den Phänomenen zuwendet. Das geschieht
sonst nirgendwo: Die Wissenschaft beglückt uns mit
Beschreibungen der Welt, die zwar richtig und wissenschaftlich
erwiesen sind, aber allgemein, und uns im Grunde nichts
angehen. Das soll nicht gegen die Wissenschaft gehen, aber
ich würde einem jungen Menschen, der auf der Suche
nach der Wahrheit in seinem Leben ist, nicht das Studium
der Elektrotechnik empfehlen, da könnte ich ihm genausogut
das Studium der Soziologie, der Amphibienkunde, des Telefonbuchs
oder sonstwas empfehlen. Andererseits halte ich die großen
metaphysischen Fragen von der Art: „Woher kommen wir?“,
„Wohin gehen wir?“ und „Wozu sind wir
eigentlich hier auf dieser Welt?“ auch für unbeantwortbar.
Praktikabel aber ist, sich zu fragen, „Wie gehts mir
eigentlich?“, „Was erlebe ich eigentlich?“
und „Wie passt das alles, was ich erlebe, eigentlich
zusammen?“ Das ist es jedenfalls, was ich tue, wenn
ich Phänomenologie treibe.
Mein
Problem mit den Phänomenologen ist dabei nur, dass
ich mich mit ihnen nicht verständigen kann; sie schauen
das an, was ich mache und können es nicht als Phänomenologie
erkennen. Ja, aber dann muss ich fragen: Was sollte es denn
sonst sein? – Analytische Philosophie etwa? Sprachphilosophie?
Pragmatismus? Utilitarismus? ... Es wäre doch absurd,
wenn ich gerade bei den Phänomenologen kein Verständnis
finden könnte! Wiewohl mir schon bei gewissen angeblich
phänomenologischen Vorträgen das Verständnis
ausgegangen ist, wenn in bester Heideggerscher Tradition
endlos griechisch etymologisiert wurde, anstatt eine einzige
wirkliche Erfahrung zur Sprache zu bringen.
Ich
verstehe Phänomenologie eben so, wie ichs verstehe.
Und ich verstehe Phänomenologie so, wie es für
mich Sinn macht. Und Sinn macht es für mich nur, wenn
man diese Hinwendung zu den Phänomenen ernst nimmt.
Auch wenn Husserl das letztenendes doch wieder anders gemeint
hat. Aber ohne diese Hinwendung zu den Phänomenen scheint
mir an der Phänomenologie nichts Neues und auch nichts
Interessantes zu sein. Ohne das verliert die Idee der Phänomenologie
ihre Konturen, und es wird tatsächlich so, dass Phänomenologie
ist, wenn man sich mit den anerkannten phänomenologischen
Philosophen beschäftigt.
Referenz:
Helmuth
Vetter: Stichwort: „Phänomenologie, phänomenologisch“
– für ein noch in Entstehung befindliches Wörterbuch
phänomenologischer Grundbegriffe. Zu finden auf der
homepage der Österreichischen Gesellschaft für
Phänomenologie:
http://phaidon.philo.at/~oegesph/ArtPhä.htm
Julian Marías: Historia de la filosofía. Revista
de Occidente. Madrid 1974 (erste Aufl.1941), S. 360-366
und S. 392-405.
Philosophisches
Arbeitsblatt:
Otto
Weininger und die Birkin Bag
Thema: Phänomenologie als Beobachtung
pdf-Dokument (2 Seiten)
KRITIK
AN HUSSERLS PHÄNOMENOLOGIE
Noch
ein Zitat von Jean Piaget, das eine Vorstellung davon
gibt, was Husserls Phänomenologie als wissenschaftliche
(oder als Erkenntnisart, die mit der Wissenschaft
konkurrieren konnte) vielleicht der Intention ihres
Urhebers nach hatte werden sollen - ein Projekt, das,
Piaget zufolge, schon in seinem Konzept nicht aufgeht:
„Der
zweite Irrtum hat sehr viel ernstere Konsequenzen
nach sich gezogen. Husserl war kein Logiker von Beruf
oder aus Berufung; er interessierte sich nicht für
den Formalismus als solchen und glaubte an die „Sachen“
und die Subjekt-Objekt-Interaktion im Innern des Phänomens.
Nachdem er sich dem Verdikt der Logiker gefügt
und auf jeden Psychologismus verzichtet hatte, begann
er zu untersuchen, wie man von der phänomenologischen
Interaktion ausgehend zu den zeitlosen Wahrheiten
gelangen kann. Überzeugt von der Tatsache (die
in Wirklichkeit erst eine Hypothese war), daß
das psychologische Subjekt nicht dorthin gelangen
kann, weil es an eine räumlich-zeitliche „Welt“
gebunden ist, hat er eine Methode zur Flucht aus oder
zur Befreiung von dieser natürlichen Welt ersonnen,
die es ermöglichen soll, eine tiefere Ebene als
die des „weltlichen“ Bewußtseins
zu erreichen; er hat geglaubt, damit habe er die Möglichkeit
reiner oder transzendentaler „Intuitionen“
entdeckt. Gleichzeitig glaubte er, einer autonomen,
vom empirischen Subjekt und den sich auf es beziehenden
Wissenschaften befreiten, philosophischen Erkenntnis
den Weg zu bahnen. Der fundamentale Irrtum liegt nun
darin, dass sein transzendentales Subjekt immer noch
ein Subjekt ist und die „reine Intuition“
immer noch die Aktivität eines Subjekts ist (in
welches die „Sache“ oder die „Wesenheit“
eindringt, das ist klar, doch wenn es Intuition gibt,
gibt es auch ein Subjekt), kurz, ob „transzendental“
oder empirisch, die Berufung auf eine Intuition ist
immer noch ein Psychologismus, ein Übergang von
der Tatsache zur Norm.“
Jean
Piaget: Weisheit und Illusionen der Philosophie.
Suhrkamp, Frankfurt Main 1974 (1. Aufl. franz. 1965).
S. 134. |
LUDWIG
MARCUSE HEBT DEN PLATONISMUS VON EDMUND HUSSERLS PHÄNOMENOLOGIE
HERVOR
-
MIT ANDEREN WORTEN: HUSSERLS PHÄNOMENOLOGIE WAR
SO ZIEMLICH DAS GEGENTEIL VON DEM, WAS MIR UNTER PHÄNOMENOLOGIE
VORSCHWEBT
„Im Jahre 1911 erschien in einer der besten
kulturphilosophischen Zeitschriften, im „Logos“,
der Aufsatz Philosophie als strenge Wissenschaft
von Edmund Husserl. Sie war, nach dem Mittelalter,
der Traum vieler Denker gewesen; seit Kant war dieser
Wille zur Wissenschaftlichkeit der Philosophie Metaphysik-feindlich.
So wendet sich Husserl nicht nur gegen jede „Weltanschauung“,
vor allem die geschichtsphilosophische, auch gegen
die „Philosophische Anthropologie“. In
seiner antihistorischen, platonischen Tendenz hatte
er viel mit dem Expressionismus gemein; seine Dramen
[S. 240] waren ort und zeitlos und frei von Individuellem
[…]
Wie
Descartes begann: mit der Herausstellung unangreifbarer
Wahrheiten – begann Husserl: „in Absicht
auf die Herausstellung einer absoluten, zweifellosen
Seins-Sphäre.“
Er schuf einen neuen, vorsichtigeren Platonismus.
Er sagte nicht, daß, was man das Wirkliche nennt,
nicht wirklich wirklich sei, nur ein Schatten. Er
erfand eine vorsichtigere Behandlung der Realität:
sie wurde „ausgeklammert“. Das heißt:
ihn kümmerte nicht das Problem, wieweit Phänomene
wirklich sind (was immer dies „Wirklich“
bedeuten mag); nur das andere: was sie sind, unabhängig
von ihrer Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit.
[…]
Er
ersetzte die Seins-Forschung durch die Bedeutungs-Forschung.
Er definierte seine „Phänomenologie“
als „eine rein deskriptive, das Feld transzendentalen
reinen Bewusstseins in der puren Intuition durchforschenden
Disziplin“, als „Wesenswissenschaft“.
Auch für ihn war (wie für alle Empiriker)
der Ausgangspunkt die Erfahrung: nur schaltete Husserl
das Realitäts-Problem aus. Gegenstand der Philosophie
ist nicht das den Sinnen Gegebene, sondern die besondere
Essenz jedes Gegebenen. Sie ist keine physische und
psychische und keine psychophysische Erfahrung. Husserl
kam von der Mathematik her; ein Beispiel aus der Geometrie
illustriert am besten, was er unter „Wesen“
verstand: der mathematische Kreis wird in jedem sinnlich
aufnehmbaren als „Wesen“ angeschaut.
[…
S. 241]
Das
Wort „Phänomenologie“, die Lehre
von der Erscheinung, wurde hier nicht gebraucht im
Sinne Kants, der das Phänomen in Gegensatz setzte
zum Ding an sich; auch nicht im Sinne Schopenhauers,
der das Phänomen gleichsetzte mit Schein; eher
im Sinne von Hegels Phänomenologie,
der Husserls Definition des Phänomens: das, was
sich selbst zeigt… akzeptiert hätte. Mit
dem Unterschied, daß Hegels Metaphysik die Transzendenz
dessen, was sich in der Erscheinung zeigt, sichtbar
machte, während Husserl, in Metaphysik-ängstlicher
Zeit, jede Antwort auf die Frage nach dem Trans ablehnte.
Aus Husserls Ideen zu einer reinen Phänomenologie
und den Arbeiten seiner Schüler (Scheler, Heidegger)
wuchs eine bedeutende philosophische Literatur, deren
ärgster Mangel die Verwechslung von ewigem „Wesen“
und zeitlich beschränkter Einsicht war.
Zwar traute sich diese „Intuition“ nicht
zu, bis zu Gott und seinem Leben in der Zeit vorzustoßen;
oder bis zu einer Urkraft, wie sie Schopenhauer im
„Willen“ intuitiv erfaßte. Aber
die Phänomenologen erschauten Rot-an-sich und
Reue-an-sich … alle Abstrakta, alle Allgemeinbegriffe
werden zu platonischen Ideen, zu einer überempirischen
Welt, der nur die Qualität „Realität“
vorenthalten wird.
[…
S. 242]
Die
ewigen Phänomene, zu denen die Anhänger
der Husserlschen Doktrin durch die Oberfläche
der unwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Erfahrung
durchzustoßen glaubten, waren „ewig“
vielleicht nur in dem Gebiet der Mathematik, in dem
die Anschauung des nicht-realen gleichschenkeligen
Dreiecks unabhängig ist vom zufälligen Subjekt.
Alle anderen Ideen sind wohl so bedingt durch den
Betrachter wie – sagen wir: das Wesen „Der
See“, dessen Abhängigkeit von der Kultur,
der Epoche die Geschichte der Malerei lehrt. Was dieser
„See“ als ewige „Idee“ sein
kann, für die phänomenologische Intuition,
ist höchstens ein ärmliches Destillat aus
einer Fülle von Seen. Kommt man gar zu den moralischen
Phänomenen, in welche Max Scheler glänzend
eingedrungen ist, so wird ganz offenbar, wie das Zeitlose,
das er herausgestellt hat, seine Zeitlichkeit großartig
widerspiegelt.“
Ludwig
Marcuse: Meine Geschichte der Philosophie. Aus
den Papieren eines bejahrten Philosophiestudenten.
Diogenes, Zürich 1981. S. 239-242.
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