Was
ist eigentlich Argumentieren?
Wenn
man philosophieren will, muss man argumentieren. Gut. Aber
was ist eigentlich Argumentieren? Holm Tetens gibt in einem
Aufsatz, der dem Argumentationsunterricht in Schulen gewidmet
ist, folgende Bestimmung:
„Mit
einem Argument versuchen wir die Wahrheit der fraglichen
Aussage zu entscheiden. Argumentierend führen
wir die Wahrheit auf die Wahrheit bestimmter anderer
Aussagen zurück. Daher haben Argumente eine Prämissen-Konklusion-Struktur.
Die Konklusion ist diejenige Aussage, deren Wahrheit
auf die Wahrheit der anderen Aussagen, die Prämissen,
zurückgeführt wird. Mit diesen Unterscheidungen
lässt sich kurz und bündig sagen: Wer argumentiert,
behauptet, dass die Kon[S. 199]klusion seines Arguments
wahr ist, weil seine Prämissen es sind.“
Holm
Tetens: „Argumentieren lernen. Eine kleine Fallstudie“,
in: Kirsten Meyer (Hg.): Texte zur Didaktik der
Philosophie. Reclam, Stuttgart 2010. S. 198-199. |
Im
Grunde stimmt das so. Ich würde dennoch diese Bestimmung
oder Definition des Argumentierens an einem kleinen, aber
wichtigen Punkt korrigieren wollen: Das letzte „weil“
würde ich durch ein „wenn“ ersetzen wollen.
Also: „Wer argumentiert, behauptet, dass die Konklusion
seines Arguments wahr ist, WENN/FALLS seine Prämissen
es sind.“
Warum
bin ich dieser Ansicht? – Deshalb, weil die Wahrheit
einer Prämisse nicht selbst wiederum argumentativ bewiesen
werden kann. Oder, anders gesagt, weil ein Argument nur
auf die Richtigkeit des Wegs von den Prämissen zur
Konklusion abhebt, nicht aber auf die Richtigkeit des Entstehens
der Prämissen. Oder, noch einmal anders gesagt: Ein
Argument hat die Form einer mathematischen Rechnung oder
Gleichung. Also z.B. „2+2=4“, gelesen: „WENN
2+2, dann ist 2+2 gleich 4.“ Aber ob 2+2 gegeben ist,
steht überhaupt nicht fest. Vielleicht verlangt mein
Mathematikbuch, dass ich 5+6 ausrechnen soll, dann fange
ich mit meinem Wissen, dass 2+2=4 ist überhaupt nichts
an. (Ich erinnere mich da noch an die Stimme meines Mathematikprofessors
in der Schule; sie sagte: „GEGEBEN SEI ein Dreieck
mit den Seiten…“ – und dieses „gegeben
sei“ drückt eben genau das „WENN“
aus.)
„Noch
durchsichtiger wird ein Argument, sobald man sich
vergegenwärtigt, dass man sich mit einem Argument
genauer auf drei Behauptungen verpflichtet. (1) Die
Prämissen sind wahr. (2) Wenn die Prämissen
wahr sind, ist auch die Konklusion wahr. (3) Wegen
(1) und (2) ist die Konklusion ebenfalls wahr. Ein
Argument scheitert somit auf jeden Fall dann, erweist
sich mindestens eine der drei Behauptungen am Ende
doch als falsch.“
(Holm
Tetens: Ebenda, S. 199.) |
Stimmt.
Aber wiederum nur mit der kleinen, aber wichtigen Einschränkung,
die ich vorgebracht habe: „WENN die Prämissen
wahr sind.“ Damit verlagert sich aber auch das Schwergewicht
der Aussage über das Argument, sodass ich Holm Tetens
noch einmal korrigieren würde: Ein Argument scheitert
nicht dann, wenn einzelne Behauptungen scheitern, sondern
wenn sein innerer Zusammenhang nicht stimmig ist. Nun, irgendwie
steht das ja ohnehin da: Behauptung (2) und (3) beziehen
sich ja auf diesen inneren Zusammenhang, der im Inneren
des Arguments waltet. Nur Behauptung (1) setzt stur auf
die Wahrheit der Prämissen, so als ob die Wahrheit
von etwas so einfach feststellbar wäre. Dennoch betont
Holm Tetens in diesem Zitat sehr die Wahrheit oder Falschheit
von Behauptungen im Argument, während ich den Schwerpunkt
auf den inneren Zusammenhang legen würde.
Noch
etwas: Dieses Zitat lässt es so aussehen, als würde
Argumentieren im Formulieren und Prüfen eines einzigen
Arguments bestehen. Schon unsere Alltagserfahrung erhellt
uns, dass das nicht der Fall ist. Wir sagen gewöhnlich:
„Weil das so und so ist, ist das so und so. Und weil
das so und so ist, ist wiederum jenes Andere so und so!“
Was wir also beim Argumentieren machen, ist, dass wir mehrere
Argumente aneinanderreihen. Das geht aber nicht endlos.
Die Argumentation muss ein übersichtliches Gebilde
bleiben, denn sonst sind wir unfähig, den korrekten
Weg von den Anfangsprämissen zu den Endkonklusionen
zu überprüfen. Und insofern stimmt Holm Tetens
Darstellung wiederum: Im Wesentlichen nämlich ist Argumentieren,
auch wenn da mehrere Argumente im Spiel sind, nichts anderes
als das, was wir auch tun, wenn wir es nur mit einem einzigen
Argument zu tun haben: Argumentieren ist die Herstellung
eines Gebildes, das – dem Anspruch nach – von
den Prämissen bis zur Konklusion hin innerlich stimmig
ist.
In
den nächsten Zitat von Holm Tetens, das ich bringe,
gibt er implizit selber zu, dass ich Recht habe: Die Wahrheit
der Prämissen ist nicht etwas, das ein Argument wahr
machen würde (oder falsch, wenn die Prämissen
falsch sind). Worum es hingegen beim Argumentieren geht,
ist, einen geistigen Zusammenhang zu „durchschauen“,
ihn „transparent“ zu machen und „nachvollziehbar“.
Dafür ist es völlig gleichgültig, ob die
Prämissen wahr sind oder nicht.
„Gleichgültig,
ob man selber argumentiert oder mit dem Argument eines
anderen konfrontiert ist: Argumente sollte man selber
so weit durchschauen und auch so transparent darstellen
können, dass klar wird, was die Konklusion eines
Arguments ist, was seine Prämissen sind und ob
[S. 200] die Prämissen tatsächlich die Konklusion
logisch zur Folge haben. Allerdings verletzen in vielen
Texten und Gesprächssituationen innerhalb, aber
mindestens so oft auch außerhalb der Philosophie
die Argumentierenden diese Grundanforderung an ein
transparentes und gut nachvollziehbares Argumentieren.“
(Holm
Tetens: Ebenda, S. 200.) |
Natürlich
wird man nicht zufrieden sein mit dem Status gänzlicher
Fiktionalität von Argumenten. Aus dem Grund wird man
die Prämissen betrachten und auf ihren Wahrheitsgehalt
hin abschätzen wollen. Aber die methodologischen Möglichkeiten,
das zu tun, sind begrenzt:
„Alle
erforderlichen Prämissen eines Arguments ans
Tageslicht zu holen, ist eine der wichtigsten Schritte
jeder Argumentationsanalyse.“
(Holm
Tetens: Ebenda, S. 203.) |
Genau.
Das kann man zum Beispiel machen. Man kann versuchen,
-
alle Prämissen, die in einem Argument stecken, herauszukitzeln.
-
Man kann alle Prämissen auf die Wahrscheinlichkeit
ihrer Wahrheit hin abschätzen.
-
Man kann eine Prämisse daraufhin ansehen, ob sie
wirklich das ist, was im Argument vorausgesetzt wurde
(z.B. wenn die Kreationisten argumentieren, die Welt müsse
von einem vernünftigen Wesen geschaffen worden sein,
dann ist das bis zu einem gewissen Grad hin logisch und
nachvollziehbar. Wenn sich aber herausstellt, dass sie
in ihrem Argument eigentlich den Schöpfergott aus
der Bibel mit diesem vernünftigen Wesen gleichgesetzt
haben, dann muss man sagen, dass auf der argumentativen
Ebene eigentlich kein Weg vom vernünftigen Wesen
zum Bibelgott rüberführt. Es ist also ein Argument,
in dem man ein Kuckuckskind untergeschoben bekommen hat.)
-
Man kann bei einigen Prämissen losgehen und versuchen,
sie empirisch, durch konkrete Nachprüfung, zu verifizieren.
-
Und man kann sicher noch einige weitere Dinge probieren.
Aber
was man sicherlich nicht kann, ist: Durch ein Argument die
Wahrheit einer Behauptung feststellen. Denn ein Argument
stellt immer nur die Richtigkeit des inneren Zusammenhangs
zwischen Prämissen und Konklusion dar. Ob die Prämissen
aber wahr sind, ist Einschätzungssache und gehört
nicht mehr zur Angelegenheit des Arguments.
Was
ich mit alldem sagen will, ist: Drehen wir nun meine gesamte
Argumentation um und betrachten sie von der anderen Seite.
Wenn wir das tun, dann ergibt sich folgende Konklusion:
Argumente haben KURZE BEINE! Die Beine, das sind die Prämissen,
und Argumentationen langen eben nicht bis hin zur (objektiven)
Wahrheit, sondern sie langen nur hin bis zu ihren Prämissen.
Und
das ist wichtig, weil es uns erkennen lässt, dass mithilfe
von Argumenten und Argumentationen allein die Wahrheit einer
Sache allein nicht feststellbar ist. Ich habe oben ein Argument
mit einer mathematischen Gleichung verglichen: „Gegeben
sei 2+2“; wenn das gegeben ist, dann 4. Ob aber 2+2
gegeben ist, ist kontingent, also es könnte auch was
anderes gegeben sein. Hier möchte ich nun die Argumentation
vergleichen mit einer Erzählung oder einer Geschichte.
Da eine Argumentation nur bis zu ihren Prämissen reichen
kann (und nicht bis zur Wahrheit), kann sie nur von einer
oder einigen Annahmen ausgehen, die sie – logisch,
argumentativ – weiterspinnt. Damit entscheidet sie
sich in nichts von Erzählungen oder Geschichten, die
auch einen Ausgangspunkt erfinden und ihre „Story“
dann weiterspinnen. Und wie Argumente sind auch Geschichten
dazu verpflichtet, einen inneren Zusammenhang zu wahren,
denn sonst glaubt sie der Leser/die Leserin nicht oder sie
werden ihm/ihr langweilig.
Ja,
es gibt überhaupt Erzählungen, deren Inhalt in
nichts anderem besteht als in einer logischen Argumentation.
Ich denke hier z.B. an Fernando Pessoas „Der anarchistische
Bankier“ oder an Jorge Luis Borges’ „Drei
Versionen des Judas“. Und diese Erzählungen sind
nicht mehr als einen kleinen Schritt von der Philosophie
entfernt, die ja auch nichts anderes tut als Geschichten
zu erzählen, deren Inhalt Argumentationen sind. (Der
einzige Unterschied ist, dass ihre Autoren für diese
beiden Erzählungen Protagonisten erfunden haben, denen
sie die Argumente in den Mund legen oder deren Gedanken
sie schildern; das tut man in der Philosophie gewöhnlich
nicht. Wenn man sich aber daran erinnert, dass die philosophische
Literatur auch aus den platonischen Dialogen heraus entstanden
ist, gibt es keinen Grund, es in der Philosophie nicht genauso
zu machen.)
In der Wissenschaft wird nicht argumentiert
Wir
haben jetzt gesehen, dass Argumente in Wirklichkeit Erzählungen
sind, weil ihr Anfangspunkt, die Prämissen, im Bereich
der Annahme oder des Fürwahrhaltens liegt. Das ist
für die Meisten sicherlich eine überraschende
Erkenntnis. Nun geht es noch darum zu verstehen, dass die
Wissenschaft nicht argumentiert und warum sie das nicht
tut. Das wäre eine zweite überraschende und auch
sehr wichtige Einsicht, weil über die Wissenschaft
das Vorurteil herrscht, dass sie auf logischer Argumentation
beruhe oder diese in ihr zumindest eine wichtige Rolle spiele.
Durch dieses Vorurteil aber wird das Wesen der Wissenschaft
verkannt und wissenschaftliche Arbeit ziemlich falsch eingeschätzt.
Also,
wenn Wissenschaft nicht argumentiert, was tut sie denn dann?
Nehmen wir zur folgenden Betrachtung einige Zitate von Theodor
W. Adorno zu Hilfe. Was im folgenden Zitat zum Ausdruck
gebracht wird, haben alle Studierenden schon erlebt: In
der Universität lassen einen die Lehrenden nicht einfach
so argumentieren. Sie nennen das „unkontrolliertes“
Denken, und das sei nicht wissenschaftlich. Anstatt dessen
lehren sie einem die eine oder andere wissenschaftliche
Theorie, von der ausgehend man dann seine Forschungsthesen
und seine Argumentation errichten soll. Sie schieben also
eine wissenschaftliche Theorie zwischen den Menschen und
die Sache, zwischen den Menschen und die Wirklichkeit. Durch
diese Theorie – die gewöhnlich auch ziemlich
umfangreich ist, sodass sie schwer oder gar nicht zu überblicken
ist – verliert der Mensch das, was Adorno hier die
„Unmittelbarkeit zum Objekt“ nennt. Und damit
ersticken sie den „Geist“, das ist das Wort,
mit dem Adorno, ein bisschen großspurig, die Argumentation
benennt.
„Zur
Intoleranz gegen den Geist, der ihr nicht gleicht,
neigt Wissenschaft offenbar umso mehr, pocht um so
mehr auf ihr Privileg, je tiefer sie ahnt, dass sie
das nicht gewährt, was sie verspricht. An der
Enttäuschung vieler geisteswissenschaftlicher
Studenten in den ersten Semestern ist nicht nur deren
Naivetät schuld, sondern ebenso, daß die
Geisteswissenschaften jenes Moment von Naivetät,
von Unmittelbarkeit zum Objekt eingebüßt
haben, ohne das Geist nicht lebt;“
Theodor
W. Adorno: „Notiz über Geisteswissenschaft
und Bildung“, in: ders.: Eingriffe. Neun
kritische Modelle. Suhrkamp, Frankfurt/Main 1996
(1963). S. 54. |
Das
ist ein guter Ausgangspunkt, um zu verstehen, was in der
Wissenschaft abläuft, weil es alle, die mit der Wissenschaft
oder der Universität einmal in Kontakt gekommen sind,
aus eigener Erfahrung zu kennen: Versucht in der Wissenschaft
einer/eine zu denken, dann geht das nicht, ohne eine riesige
Last am Bein zu haben. Es ist das die Last einer wissenschaftlichen
Theorie, die von einem Textkorpus repräsentiert wird,
von dem man oft nicht einmal in der Lage ist, alles zu lesen
oder die unterschiedlichen Darstellungen dieser Theorie
bei verschiedenen AutorInnen zu berücksichtigen, sodass
in der Praxis meist nicht mehr bleibt, als die bloße
Behauptung, dass man sich auf diese Theorie berufe.
Und
mit diesem Klotz am Bein soll man nun argumentieren. Aus
dem Vorigen sollte schon klar geworden sein, worin Argumentieren
besteht: Es besteht darin, irgendwelche Zusammenhänge
transparent, durchsichtig, nachvollziehbar zu machen. Um
das aber machen zu können, muss ich die Argumentkette
irgendwo unterbrechen und das Gebilde eingrenzen, um ein
überschaubares Ganzes vor mir zu haben. Sonst kann
ich keinen argumentativen Zusammenhang prüfen. Das
ist aber unmöglich, wenn man mit einer wissenschaftlichen
Theorie im Hintergrund argumentiert. Und zwar ist das nicht
nur deshalb möglich, weil die Texte, in denen diese
Theorie formuliert wird, zahlreich und unüberschaubar
sind, sondern auch, weil die Methode des Eingrenzens gegen
die Logik wissenschaftlicher Arbeit geht. (Das gilt für
die Geistes- oder heute: Kulturwissenschaften.) Behaupte
ich, Nietzsche sage in diesem oder jenem Werk dieses, kommt
sofort ein Nietzsche-Spezialist mit einem Notizzettel Nietzsches
aus dem Nachlass und behauptet, auf diesen gestützt,
das Gegenteil. Die Untersuchungsbasis wird also immer ausgeweitet.
Damit kann Argumentation nicht Schritt halten.
Der
Grund, warum die Wissenschaft große, unhandliche Theorien
schafft (die selbst natürlich nichts anderes sind als
großangelegte Argumentationen), ist natürlich
der, dass sie damit versucht, die Wahrheit zu erreichen,
den Abgrund von Argument und objektiver Wahrheit zu überbrücken
und das zu erlangen, was Theodor W. Adorno im nächsten
Zitat das „Hieb- und Stichfeste“ nennt.
„Die
Funktion des Wissenschaftsbegriffs ist umgeschlagen.
Die vielberufene methodische Sauberkeit, allgemeine
Kontrollierbarkeit, der Consensus der zuständigen
Gelehrten, die Belegbarkeit aller Behauptungen, selbst
die logische Stringenz der Gedankengänge ist
nicht Geist: das Kriterium des Hieb- und Stichfesten
wirkt jenem immer zugleich auch entgegen.“
(Theodor
W. Adorno: Ebenda, S. 55.) |
Theodor
W. Adorno kommt in diesem Zitat zu der verblüffenden
und paradox erscheinenden Aussage, dass das Kriterium des
Hieb- und Stichfesten dem Geist, also dem Nachdenken und
der Möglichkeit von Argumentation immer zugleich auch
entgegenwirkt. Warum ist das so?
Das
ist deshalb so, weil man eine jede Argumentation platt schlagen
kann, wenn man sie unmittelbar mit der Frage: Ist das wahr?
– konfrontiert. Eine Argumentation will ja –
wie wir gesehen haben – nicht einfach wahr sein, sondern
sie will richtig sein, sie will die innere Schlüssigkeit
eines Arguments darlegen. Fragt man sofort danach, ob eine
Argumentation denn auch wahr sei, dann begeht man dadurch
einen Kommunikationsfehler: Man geht gleichsam gar nicht
auf das ein, was der andere vorgebracht hat, sondern wechselt
das Thema. Für den Argumentierenden ist das wie ein
Schlag mit dem nassen Lappen ins Gesicht. Da hat er/oder
sie sich bemüht, einen inneren Zusammenhang durchsichtig
zu machen und nun wird auf die Argumentation nicht einmal
eingegangen. Sie wird nicht geprüft. Anstatt dessen
pickt man sich irgendein Element heraus und sagt: „Das
ist nicht wahr!“
Als
Argumentierender müsste man hierauf sagen: „Das
interessiert mich jetzt aber gar nicht. Darüber können
wir nachher sprechen, nachdem wir meine Argumentation geprüft
haben.“ Aber leider herrscht in den wissenschaftlichen
Kommunikationskonventionen die Frage nach der Wahrheit über
alle anderen Fragen. Das hat zur Folge: Argumentationen
können nicht mehr geprüft werden. Und diese Einsicht
ist wiederum ganz wichtig um zu verstehen, warum WissenschaftlerInnen
heute VÖLLIG UNZUGÄNGLICH FÜR ARGUMENTE sind.
Man fragt sich ja oft, gerade als Philosophierender, warum
WissenschaftlerInnen nicht in der Lage sind, auf Argumente
einzugehen? Man bringt ihnen ein Argument vor – und
dann prüfen sie dieses Argument nicht, sondern schlagen
es einfach mit der unmittelbaren Frage nach der Wahrheit
platt. Der Grund dafür ist, dass sie gar nicht wissen,
was ein Argument ist, sie haben das nie gelernt. Sie wissen
nicht, dass ein Argument ein geistiges Gebilde ist, das
aus der Kraft seines inneren logischen Zusammenhangs heraus
lebt und deshalb auch bis zu einem gewissen Grade unmittelbar
vom Nachweis seiner Wahrheit bestehen kann. Will sagen:
Auch unwahre Argumente können interessant und lehrreich
sein. Aber sage das mal einem Wissenschaftler/einer Wissenschaftlerin!
Daraus
wiederum erhellt, dass Argumentation nicht das hauptsächliche
und wesentliche methodologische Mittel der Wissenschaft
ist, um sich die Wahrheit von etwas schrittweise zu erarbeiten
(so wie das in der Philosophie der Fall ist). Ihr hauptsächliches
Mittel oder die Generalmethode für die Erkenntnis der
Wahrheit ist das, was Theodor W. Adorno im folgenden Zitat
das „Geflecht“ nennt. Das ist ein bisschen ein
merkwürdiges Wort, besonders im Zusammenhang mit der
Wissenschaft, aber wenn ich seinen Sinn erkläre, wird
man ihn sogleich nachvollziehen können. In der Wissenschaft
versucht man so etwas wie ein Gebäude wahren Wissens
zu bauen, in dem alles inhaltlich zusammenstimmt. Dadurch
sollen ältere und geprüftere Teile dieses Wissensgebäudes
auch für jüngere und frischere Teile gewissermaßen
„bürgen“ können. Allgemeiner gesagt:
In der Wissenschaft bestätigt ein Teil der Wissenschaft
die Wahrheit des anderen Teils. Damit sind wir beim „Geflecht“
angelangt: Die Wahrheit ergibt sich aus dem Zusammenhang.
„Das
Geflecht, mit welchem die organisierte Geisteswissenschaft
ihre Gegenstände überzogen hat, wird tendenziell
zum Fetisch;“
(Theodor
W. Adorno: Ebenda. S. 56) |
Und
mit dem „Geflecht“ sind wir auch bei der Antwort
auf die Frage angelangt, warum Argumentationen in der Wissenschaft
bestenfalls eine untergeordnete Rolle spielen: Die Hauptfrage
der Wissenschaft ist nämlich nicht die, ob eine Argumentation
richtig ist, sondern ob sie in das „Geflecht“
der Wissenschaft reinpasst. Erst wenn sie die richtige Passform
hat, kann sie eventuell auch auf ihren inneren, argumentativen
Zusammenhang geprüft werden. Aber das ist ein sekundärer
Vorgang. Vorher ist es schon möglich, eine jede Argumentation
hinauszukicken mit dem Hinweis: „Sie passt nicht in
unseren Diskurs!“ Sie passt in keine Theorie, sie
passt in keine der bestehenden wissenschaftlichen Schulen
zu einem bestimmten Thema, sie verwendet ihre Begriffe anders,
als wir das tun – sie ist nicht anschlussfähig.
Hierauf
legt auch Theodor W. Adorno seinen Finger, indem er sagt:
Worum es den WissenschaftlerInnen geht, das ist zumeist
gar nicht so sehr die Sache oder ihre Wahrheit selber, sondern
sie wollen etwas Gesellschaftliches: Ein Wissenschaftszweig
soll den anderen decken. Beziehungsweise: Wenn sie etwas
behaupten, wollen sie von anderen Wissenschaftszweigen gedeckt
werden. Das ist gewissermaßen eine Einstellung, die,
würde man sie auf die Verhältnisse in der Schulklasse
übersetzen, ungefähr folgende Gestalt hätte:
„Ich, der kleine Franzi, bilde mir nicht einfach eine
Meinung und sage sie dann, sondern ich orientiere mich an
Erich, dem Klassenstärksten, und an seinen Überzeugungen.
Wenn dann der freche Michael, der mich nicht mag, etwas
gegen mich sagt, haut ihm der Erich eine runter!“
Auf einer anderen Abstraktionsebene könnte man denselben
Tatbestand formulieren, indem man sagt: Autonomie, also
Selbstdenken, weicht in der Wissenschaft der Heteronomie,
dem Sich-Abhängig-Machen von fremdem Denken.
„Was
das verdinglichte wissenschaftliche Bewußtsein
anstelle der Sache begehrt, ist aber ein Gesellschaftliches:
Deckung durch den institutionellen Wissenschaftszweig,
auf welchen jenes [S. 57] Bewußtsein als einzige
Instanz sich beruft, sobald man es wagt, an das sie
zu mahnen, was sie vergessen.“
(Theodor
W. Adorno: Ebenda, S. 56-57.) |
Ganz
essentiell ist hier jedoch Theodor W. Adornos Hinweis auf
das „Gesellschaftliche“, das die WissenschaftlerInnen
begehren: Sie wollen nicht einfach Recht haben, sie wollen
Anerkennung in einem sozialen System. Das weist uns darauf
hin, dass Wissenschaft ohne Berücksichtigung ihrer
sozialen Verfasstheit nicht zu verstehen ist. Und ohne Berücksichtigung
der Art ihrer sozialen Verfasstheit natürlich: Denn
die Analyse Adornos geht davon aus, dass es sich um Strukturen
handelt, die sich verfestigen und erhalten, in denen also
Macht angesammelt werden und in den Händen Älterer
dazu verwendet werden kann, die Aussagen Jüngerer zu
„decken“, wenn sie mit den eigenen Aussagen
kompatibel sind. Hätten wir dagegen ein soziales System
vor uns, in welchem die Karten jedes Mal neu gemischt werden,
so hätte die Argumentation in ihm bestimmt einen höheren
Stellenwert.
Für
den jungen Menschen kann die Vorstellung, in der Wissenschaft
werde nachgedacht und argumentiert, verhängnisvoll
sein, wenn er (oder sie) sich aus diesem Grund entschließt,
ein Studium oder gar eine wissenschaftliche Karriere zu
beginnen. Davon berichtet uns Theodor W. Adornos nächstes
Zitat. Es nimmt dabei nicht nur Bezug darauf, dass dem/der
NachwuchswissenschaftlerIn in der Wissenschaft zuerst einmal
das Denken und Argumentieren abgewöhnt werden muss,
sondern auch auf weitere Deformationen, die dem wissenschaftlichen
Menschen zugefügt werden müssen, damit er/sie
WissenschaftlerIn überhaupt sein kann, nämlich
solche wie die Unselbstständigkeit und die sukzessive
Einschränkung der Wahrnehmungsfähigkeit. Und dass
sind gerade solche Deformationen, die einem aufgeweckten
und zum Nachdenkenden neigenden Menschen besonders schädlich
sein müssen, sodass eigentlich seine Persönlichkeit
gesprengt wird, weil sie mit Gewalt in ihr Gegenteil verkehrt
wird.
„Prätendiert
sie, geistige Menschen zu bilden, so werden diese
eher von ihr gebrochen. Sie errichten in sich eine
mehr oder minder freiwillige Selbstkontrolle. Diese
veranlasst sie zunächst dazu, nichts zu sagen,
was den etablierten Spielregeln ihrer Wissenschaft
nicht gehorcht; allmählich verlernen sie, es
auch nur wahrzunehmen. Selbst geistigen Gebilden gegenüber
fällt es nachgerade den akademisch mit ihnen
Befaßten schwer, etwas anderes zu denken als
das, was dem ausdrücklichen und deshalb umso
mächtigeren Wissenschaftsideal entspricht.“
(Theodor
W. Adorno: Ebenda, S. 57) |
Ich
kann es eigentlich nur der Unachtsamkeit der Menschen geistigen
Bedürfnissen und geistiger Gesundheit gegenüber
zuschreiben, dass zugelassen wird, dass die Universitäten
und die Wissenschaft gerade diejenigen Menschen am stärksten
anlockt, die dort am wenigsten hinpassen: die interessierten
und nachdenklichen Menschen. Man sucht ja auch nicht Bäckergesellen
danach aus, ob sie eine Mehlstauballergie haben –
warum also rekrutiert man intelligente Menschen zum Beruf
der geistigen Unselbstständigkeit?
Eine
weitere Frage, die sich erhebt, wenn Denken in der Wissenschaft
vor allem Anpassung und Einpassung in bestehende Strukturen
und Wissenschaftstheorien meint: Wie soll es dann möglich
sein, von Zeit zu Zeit etwas Neues zu denken, eine Idee
zu haben?
„Bewußtlos
schaltet akademische Bildung auch dort, wo sie es
thematisch mit Geistigem zu tun hat, einer Wissenschaft
sich gleich[t], deren Maß das Vorfindliche,
Tatsächliche und seine Aufbereitung ist –
jene Faktizität, bei der nicht sich zu bescheiden
das Lebenselement des Geistes wäre.“
(Theodor
W. Adorno: Ebenda, S. 57) |
Theodor
W. Adorno formuliert das hier recht gut: Sich zu „bescheiden“,
und zwar auf das „Vorfindliche, Tatsächliche“
ist das wesentliche Element der Wissenschaft. Wie man auf
dieser Grundlage zu neuen Gedanken kommen kann, die ja auch
in der Wissenschaft von Zeit zu Zeit notwendig sind, ist
mir unverständlich. Wahrscheinlich geschieht das von
Zeit zu Zeit, ist aber nicht durch die Standards wissenschaftlichen
Arbeitens rechtfertigbar. Berücksichtigt man zusätzlich
die Organisation der Wissenschaft, also ihre Hierarchie,
kann man wohl annehmen, dass es NachwuchswissenschaftlerInnen
verboten ist, neue Gedanken zu entwickeln, weil sie sich
besonders streng an die Regeln des Wissenschaftsbetriebs
halten müssen, während es arrivierten WissenschaftlerInnen
und ProfessorInnen unter Umständen erlaubt ist. Falls
das der Fall ist, und ich habe doch schon mehrere Erfahrungen
gemacht, die tatsächlich nahelegen, dass das der Fall
ist, stellt sich die Frage, wie man dieses Paradoxon im
Wissenschaftsbetrieb erklären und die aus ihm erwachsende
Ungerechtigkeit gegenüber den jungen WissenschaftlerInnen
rechtfertigen kann.
Diese
Frage ist aber in meinem Zusammenhang, also wenn ich von
der Philosophie ausgehe, vielleicht nicht so wichtig. Wichtiger
ist, dass aus dieser Beschreibung wissenschaftlichen Denkens
und Wahrnehmens durch den Umkehrschluss besser erhält,
wo eigentlich die Stärken der Argumentation liegen:
Denken, Argumentieren geht über das Tatsächliche,
über das faktisch Wahre hinaus. Eine Argumentation
stellt etwas dar, was man sinnvoller Weise in Betracht ziehen
kann. WissenschaftlerInnen jedoch begreifen nicht, dass
etwas von Wert sein kann, das man sinnvoller Weise in Betracht
ziehen kann. Das ist der Grund, warum sie dann immer sofort
sagen: „Das ist nicht wahr!“, wenn sie hören,
wie einer anfängt zu argumentieren.
Zum
Schluss noch einmal ein Zitat von Theodor W. Adorno, diesmal
aus einem anderen Aufsatz, der das in meinem Text, in meiner
Argumentation Vorgetragene, noch einmal konzise zusammenfasst.
Adornos Prosa hat ja oft den Ton einer prophetischen Predigt
– ich hoffe daher, dass ich in diesen Ausführungen
davon überzeugen konnte, dass sie oft auch einen Sachgrund
hat. Vor allem hoffe ich, das dadurch gezeigt zu haben,
indem ich die bombastischen Zitate von Adorno argumentativ
ein bisschen zusammengehängt habe.
„Die
Berufung auf Wissenschaft, auf ihre Spielregeln, auf
die Allgemeingültigkeit der Methoden, zu denen
[S. 22] sie sich entwickelte, ist zur Kontrollinstanz
geworden, die den freien, ungegängelten, nicht
schon dressierten Gedanken ahndet und vom Geist nichts
duldet als das methodologisch Approbierte. Wissenschaft,
das Medium von Autonomie, ist in einen Apparat der
Heteronomie ausgeartet.“
Theodor
W. Adorno: „Wozu noch Philosophie“, in:
ders.: Eingriffe. Neun kritische Modelle.
Suhrkamp, Frankfurt/Main 1996 (1963). S. 21-22. |
Zusammenfassung:
-
Eine Argumentation hat nicht die Wahrheit ihrer Prämissen
zur Voraussetzung.
-
Für die Feststellung der Wahrheit der Prämissen
haben wir kein argumentatives Mittel – es bleibt
uns nur die Möglichkeit, ihren Wahrheitswert abzuschätzen.
-
Deshalb ist ein Argument wie eine mathematische Gleichung,
die aussagt „WENN 2+2, dann 4.“, oder: „GEGEBEN
SEI 2+2“, nicht aber: „2+2 ist wahr!“
-
Deshalb ist eine Argumentation (eine kleine, überschaubare
Kette von Argumenten) wie eine Erzählung oder eine
Geschichte: Jeder weiß, dass die konkreten Umstände
und Personen einer Erzählung erfunden sind, aber
ohne einen überzeugenden inneren Zusammenhang kommt
eine Erzählung trotzdem nicht aus.
-
Dass eine Argumentation wie eine Erzählung sei, muss
natürlich einen Skandal darstellen für die Wissenschaft,
die sich mit ihrem hohen Wahrheitsanspruch gegenüber
der bloßen „Fiktion“ entrüstet;
aber: Umgekehrt lässt sich aus der Tatsache, dass
eine Argumentation einer Erzählung gleicht ableiten,
dass die Wissenschaft nicht argumentiert.
23.
September 2010
|