Analyse
der Diskussion nach meinem Vortrag
„Von Klein-
und Großdenkern, Anglern im Trüben, Wissenschaftsnomaden
und Sudokuwissenschaftlern. Selbstbilder von MedizinforscherInnen
an der Medizinischen Universität Wien“
beim
Workshop „Dr. Jekyll oder Mr. Hyde. Die Figur des
Naturwissenschaftlers und ihre Konstruktion zwischen Selbst-
und Fremdwahrnehmung“ der Schweizerischen Gesellschaft
für die Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften
am 9. Sept. 2010 in Lausanne.
Vorbemerkung
Weiter unten finden Sie eine Transkription
der Tonaufnahme der Diskussion.
Zusammenfassung
In
der nachfolgenden Analyse ist es mir, denke ich, sehr gut
gelungen herauszuarbeiten, dass KulturwissenschaftlerInnen
in einer mündlichen Diskussionssituation nicht in der
Lage sind, die Botschaft eines zu ihnen sprechenden Menschen
zu empfangen und entsprechend auf sie zu reagieren. Anstatt
dessen kaprizieren sie sich auf einzelne Begriffe, verzetteln
sich auf Nebenschauplätzen und geben den Rat „vorsichtig“
zu sein. Der Grund dafür liegt letztlich darin, wie
ich zeige, dass man an einer kulturwissenschaftlichen Diskussion
nicht als Mensch, das ist: nicht als Person, teilnimmt.
Dieser Gesprächsmodus zeigt sich nicht nur in großformatigen
Wirklichkeitsdarstellungen, die eine jede Relativierung
verweigern, sondern z.B. auch darin, dass dem/der Vortragenden
selbst die Aufgabe zugewiesen wird, den eigenen Beitrag
in das Wissenschaftsganze einzuordnen. Dieses Erfordernis
wissenschaftlichen Arbeitens hat Symbolcharakter: Du selbst
musst so tun, als käme, was du vorbringst, nicht von
dir, sondern als zitiertest du nur die Aussagen anderer
WissenschaftlerInnen und fülltest bloß noch ein
bisschen aus, was diese unausgearbeitet gelassen haben.
Verwirrender jedoch gar noch ist der Umkehrschluss: Eine
Diskussion, an der keine Menschen teilnehmen, das ist letzten
Endes doch eigentlich auch keine Diskussion! Damit eine
Diskussion zustande kommen kann, muss es den Menschen erlaubt
sein, etwas Eigenes zu entwickeln, das sie dann zur Diskussion
stellen, um das Gemeinsame in diesem Eigenen zu finden.
Wenn aber von vornherein gar nichts Eigenes zulässig
ist, dann fragt sich, was zwei Gelehrte tun, wenn sie miteinander
diskutieren? Sicher ist nur eines: Diskutieren tun sie nicht
– denn alle Erwartungen, die wir an ein gewöhnliches
Gespräch stellen würden, sind im wissenschaftlichen
Gespräch außer Kraft gesetzt. Dann fragt sich,
was zwei (oder mehrere) WissenschaftlerInnen sind, die miteinander
sprechen: Sind sie noch menschliche Individuen, wenn sie
einen Kommunikationsmodus aufrechterhalten, in welchem sich
die menschliche Personhaftigkeit nicht manifestieren kann?
Und sind sie noch denkende Wesen, wenn sie einen Diskurs
pflegen, welcher in allem gegen das Denken gerichtet ist?
Analyse
in Einzelschritten
1.
B: „Ich würde die Moden in der Medizin nicht
als Revolutionen im Sinne von Kuhn auffassen. Also ich denke
eher sowas wie die Humoralpathologie im Vergleich zu was
wir heute für Medizin haben.“
B
beginnt die Diskussion NICHT mit einer Frage nach dem Inhalt
des Vortrags oder nach dem von mir Gemeinten, sondern pickt
sich ein Detail heraus – den Kuhnschen Begriff der
Revolutionswissenschaft – und fragt nach der Richtigkeit
seiner Verwendung.
2.
B: „Wenn du es versuchst, mit einem historischen Wissenschaftsbegriff
zu reflektieren oder in Verbindung zu bringen, also wie
z.B. mit dieser Idee der Kantschen Wissenschaftsphilosophie
oder mit anderen historischen Bildern, dann tritt genau
das Problem auf, dass wir eben seit der Disziplinierung,
der Disziplingenese unterschiedlicher Wissenschaften ganz
unterschiedliche Vorstellungen haben, was Wissenschaft ausmacht
und daher sozusagen gar nicht von DER Wissenschaft oder
vielleicht doch von der, von dem Wissenschaftlerbild ausgehen
können.“
Das ist wiederum eine Frage auf der Ebene
der Fakten. Es zeigt sich in ihr eine gewisse Unfähigkeit,
Ideen anzunehmen und mit ihnen in einem Gespräch umzugehen.
Denn sonst würde man zuerst fragen: Was bedeuten diese
Ideen, die du vorgebracht hast, eigentlich? D.h. man würde
fragen: Wenn das wahr wäre, was du sagst, was hätte
es für Konsequenzen? B jedoch kennt die Ebene von
Ideen und Argumentation nicht, sie stoppt die Reflexion
über einen gedanklichen Inhalt mit der Frage: Ja, stimmt
denn das überhaupt?
Das ist natürlich für das Denken
ein Schlag ins Gesicht. Der Jagdhund, der die Umgebung erkundschaften
will, wird mit ganz kurzer Leine an den Pflock des „Das
ist so!“ angebunden. Ganz übersehen wird dabei,
was wir spätestens seit Jacques Derrida (wenn nicht
seit Nietzsche) wissen, dass ein jedes „Das ist so!“
eine Frage der Interpretation ist. Dass man also fragen
muss, woher es kommt, wer etwas unter welchen Umständen
behauptet hat, wie dieses Wissen zustande gekommen und weitergegeben
worden ist und welche Interessen dabei verfolgt worden sind.
Nebenbei gesagt, ist es recht unwahrscheinlich,
was B da behauptet: Wenn es wirklich mehrere Vorstellungen
von Wissenschaft gäbe, die heute zur gleichen Zeit
gültig sind, dann wäre es nicht so leicht zu behaupten,
etwas sei „unwissenschaftlich“. Denn es könnte
ja dann wissenschaftlich nach einer anderen Wissenschaftsvorstellung
sein. Mit dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit gehen WissenschaftlerInnen
aber heute immer noch sehr leichtfertig um.
3.
Helmut: "Also diesem Vortrag nach wäre Kulturwissenschaft
keine Wissenschaft."
A: "Also du weißt schon, dass du jetzt
mitten im Löwengraben bist und dass du zittern musst,
dass wir dich nicht alle fressen."
Interessant: C verteidigt die Institution
der Kulturwissenschaften. Aber aus welchem Grund verteidigt
er sie? Welches Motiv hat er? Hier sagt er noch, dass er
mich selber gemeinsam mit den anderen Anwesenden „fressen“
würde. Also ist er erbost? Später wird er sagen,
dass er mich vor anderen beschützen will, wenn ich
meine Doktorarbeit publiziere (die habe ich übrigens
schon publiziert). Drückt sich hier also Identifikation
mit der Institution oder Angst vor der Institution aus?
4.
C: „Ja, ich sehe nicht so eine Dichotomie zwischen
dem, was Sie jetzt beschrieben haben, also aus heutiger
Sicht der Wissenschaftstheorie oder Wissenschaft, weil die
ja vielmehr jetzt auch so einen praxeologischen Zugang […]
in ein solches System eines Wissenschaftlers gehört
sowohl das tägliche Leben in seinem Labor mit seinem
ganz fokussierten Blick auf ein bestimmtes Experiment wie
auch diese ganze Hierarchiefragen, die Umgebung, das Gebäude,
alles, das ist alles.“
Auch C geht nicht auf den Inhalt meines
Vortrags ein. Er weist meinen Diskussionsvorschlag einfach
zurück. Er tut das, wie B, mit Berufung auf die
Faktizität: Die heutige Wissenschaftstheorie habe gezeigt,
dass… Ja, was soll man da dagegen sagen? Es stimmt
ja, was die heutige Wissenschaftstheorie oder Wissenschaftsforschung
zeigt. Nur dass es sich hier um Fragen der Interpretation
handelt. Dass beide Beobachtungen – jene der „modernen
Wissenschaftstheorie“ und meine – zugleich,
nur eben in unterschiedlicher Hinsicht, wahr sein könnten
und dass man sie daraufhin befragen müsste, was sie
zu leisten imstande sind, was und wie viel sie erklären.
Aber um das beurteilen zu können, müsste man die
heutige Wissenschaftsforschung ganz genau anschauen, wofür
jedoch in einer mündlichen Diskussion nicht die Zeit
da ist.
5.
A: „…aber dein Bild von Wissenschaft
ist vielleicht etwas verfälscht dadurch, dass du irgendwie
sie auch aus diesen Interviews rausnimmst, habe ich den
Eindruck. Und dass diese Wissenschaftler selbst ihr eigenes
Bild von Wissenschaft haben, aber das heißt nicht,
dass Wissenschaft so ist.“
A macht sich Sorgen darum, dass
mein Bild von Wissenschaft „verfälscht“
sein könnte. Das ist interessant, weil: Warum dürfte
es denn nicht verfälscht sein? Zur Erinnerung: Als
Philosoph präsentiere ich Argumentationen, das sind
Gedankenzusammenhänge. Bei Zusammenhängen von
Gedanken fragt man zuerst danach, worin sie denn eigentlich
bestehen, bevor man fragt, ob sie wahr sind. Das hat auch
seinen Sinn, denn: In welchem Sinn auch sollte mein Begriff
von Wissenschaft wahr oder verfälscht sein? Es gibt
ja diese absolute Perspektive nicht. Wenn ich also danach
frage, was Wissenschaft für den Normalbürger heute
bedeutet, wird sich ein anderes Wissenschaftsbild zeigen
als wenn man, so wie ich es getan habe, MedizinwissenschaftlerInnen
befragt. Es wird sich ein anderes Bild ergeben, wenn man
fragt, was Wissenschaft heute ist, als wenn man fragt, was
sie vom 15.-21. Jahrhundert ist, oder wenn man fragt, was
sie seit Aristoteles ist. Es wird sich auch etwas anderes
als Wissenschaft ergeben, wenn man fragt, was Wissenschaft
wissenschaftshistorisch (wirklich) ist, als wenn man fragt,
was heutige WissenschaftshistorikerInnen, die von heutigen
Denkstilen geprägt sind, denken, dass sie sei.
Mit einem Wort: Sachlich gesehen, ist As
Vorwurf so ziemlich das Unsinnigste, das man sich vorstellen
kann: Zu prüfen, ob eine Aussage in sich kohärent
und vernünftig ist, ist ein leichtes im Vergleich zur
Frage, ob sie wahr ist. Man müsste sich dann zuerst
auf einen zeitlichen Geltungsrahmen verständigen, auf
Geltungsebenen, auf Kriterien usw.
Mehr noch: Wenn man As Vorwurf ernst
nimmt, ich habe mein Wissenschaftsbild aus meinen Interviews
mit MedizinforscherInnen herausdestilliert – das besagt
nämlich der Wortlaut – dann würde das ja
bedeuten: Wie heutige WissenschaftlerInnen, die in der Organisation
der Wissenschaft selbst drinstecken und deshalb Einblick
in ihn haben, Wissenschaft sehen, sei falsch! Diesen Vorwurf
kann man nicht ernst nehmen. Sonst behauptet A vielleicht
bei anderer Gelegenheit, Busfahrer, wenn ich diese befrage,
hätten keine Ahnung davon, was Busfahrerei ist.
Folglich muss hinter As Vorwurf
des „verfälschten Wissenschaftsbilds“ etwas
anderes stecken als das, was er aussagt. Vielleicht ist
es das: Orientiere dich, wenn du Kulturwissenschaft betreibst,
an dem, was andere KulturwissenschaftlerInnen schreiben!
Tust du es nicht, gilt es ihnen als falsch – und zwar
gleichgültig, ob es in Wirklichkeit wahr oder falsch
ist!
6.
A: „Und ich glaube, das ist das, was uns ein
bisschen Magengeschwüre vorbereitet. Weil ich glaube
– also ich glaube, ich kann für die anderen auch
sprechen – wenn ich sage, dass wir diese Entwicklung
nicht sehen. Und deswegen sagen wir nicht: Es ist falsch,
was du sagst, aber vielleicht solltest du etwas vorsichtiger
sein.“
„Vorsichtig sein“ – vorher
hatte B schon einmal gesagt, sie wäre „vorsichtig“
bei der Verwendung des Kuhnschen Wissenschaftsbegriffs.
Hier sagt A – und das ist sehr interessant
– er würde nicht sagen, dass das falsch ist,
was ich sage (und er maßt es sich dabei sogar an,
für alle zu sprechen, was sehr ungewöhnlich ist),
aber er würde „vorsichtig“ damit sein.
Aber: Warum soll man vorsichtig sein? Bei der Erwägung
von Ideen muss man nicht vorsichtig sein. Im Gegenteil,
man sollte sogar sehr wagemutig sein: Denn die Idee soll
mit allen ihren Prämissen und Folgen soll so weit wie
möglich ans Licht gezerrt werden, damit man sie in
ihrem vollen Umfang sehen und richtig beurteilen kann. Eine
„vorsichtig“, also eine halbherzige und nur
angedeutete Präsentation eines Gedankens, nützt
niemand. Sie kann der rationalen Diskussion über ihn
nur schaden.
Warum also soll man „vorsichtig“
sein? Die unmittelbare Wortbedeutung scheint zu suggerieren:
Man soll „vorsichtig“ sein, weil das, was man
behauptet, falsch sein könnte. Aber diese Wortbedeutung
ist unsinnig, weil ohnehin klar ist, dass in einer Diskussion
Behauptungen falsch sein können. Wären sie alle
richtig, bräuchte man keine Diskussion mehr, sondern
befände sich schon an deren Ende. Wiederum muss also
die Warnung, „vorsichtiger“ etwas anderes bedeuten,
als was sie dem Wortlaut nach zu bedeuten scheint. Was könnte
das sein?
Nun, wenn die Mahnung zur Vorsicht nicht
bedeuten kann, man solle vorsichtiger sein, damit man nichts
Falsches behaupte, dann muss sie bedeuten, man müsse
sich hüten vor bestimmten Menschen, die in den Kulturwissenschaften
Autorität besitzen – und wenn man diesen Ratschlag
nicht befolgt, dann könnten sie einem schaden oder
nicht helfen oder einem schaden dadurch, dass sie einem
nicht helfen. Die Mahnung zur Vorsicht bedeutet also, dass
man sich in einer kulturwissenschaftlichen Diskussion immer
zugleich einem strafenden Diskurs befindet mit vielen Personen,
die körperlich nicht anwesend sind – und diesen
nicht anwesenden Menschen gegenüber sollte man nichts
falsch machen. Es gibt also eine soziale Norm in den Kulturwissenschaften,
gegenüber der man fehlen kann – worin auch immer
sie bestehen mag. Das zeigt ganz en passant recht gut, warum
B nicht recht haben kann mit ihrer Behauptungen, es
gebe heute verschiedene Vorstellungen von Wissenschaft:
Der Kulturwissenschaftler hab immer DIE Wissenschaft im
Kopf, gegenüber der er „vorsichtig“ sein
muss.
7.
Helmut: Na, vielleicht sollten wir auf der Ebene der Anliegen
sprechen, nicht? Also, ist jetzt dein Anliegen, wenn du
das so sagst, dass du verhindern möchtest, dass ich
den Namen der Wissenschaft beflecke?
A: Nein!
A: Mein Anliegen ist, dass du nicht von Löwen
gefressen werden wirst, wenn du deine Doktorarbeit publizierst
und dann irgendwie Leute sagen: Aber, also, Helmut, das
ist doch ganz klar: Das hatten wir schon irgendwie lange
revidiert, dieses Bild der Wissenschaften…“
An meiner Frage zeigt sich, dass ich mich
völlig verloren fühle. Das ist auch kein Wunder:
Über den eigentlichen Inhalt meines Vortrags wurde
bislang nicht diskutiert. Alles, was gesagt wird, lässt
den Inhalt des Vortrags außer acht, umgeht ihn in
weitem Bogen. Darauf, dass ich bislang kein einziges Mal
gefragt wurde: „Was hast du eigentlich gemeint? Was
wolltest du damit sagen? Vielleicht ist der Gedanke noch
halb – wir helfen dir, ihn zu vervollständigen!“
– möchte ich mit meiner Frage hinweisen. Man
sieht hier: Diejenigen Elemente, die in einem gewöhnlichen
Gespräch unerlässlicher Standard sind, damit jemand
sich verstanden fühlen kann, werden im wissenschaftlichen
Gespräch ausgespart. Möglicherweise ist das wissenschaftliche
Streitgespräch deshalb nicht als ein Gespräch
zu werten.
In seiner Antwort will A mich vor
den „Löwen“, das sind die anderen Wissenschaftler,
besonders jene, die in der Hierarchie über uns stehen,
bewahren. Und das ist nun wiederum interessant aus folgendem
Grund: Er hätte ja auch sagen können: „Das
Projekt der Kulturwissenschaft ist ein so tolles; es bringt
der Menschheit so großen Nutzen; ich selbst möchte
mich daran unbedingt beteiligen – und du gefährdest
mit deinem Diskurs dieses Projekt!“ Das tut er aber
nicht. Sieht er etwa nichts Positives im kulturwissenschaftlichen
Projekt? Identifiziert er sich nicht damit und möchte
bei seiner Entwicklung helfen? Mit einem Wort, sieht er
selbst vielleicht keinen SINN in diesem Projekt? Betrachtet
er die Kulturwissenschaften bloß als ein Arbeitsfeld
mit ziemlich heiklen Regeln, in dem man sich in Vorsicht
üben muss, mit einem Wort: als eine Art Gegner? …
8.
A: „…ich habe ja auch Philosophie studiert,
und ich fand es bereichernd, so wie du den Fleck in dem
Text zu lesen. […] Oder z.B. irgendwie Bourdieu in
dem Text zu lesen."
Dann, A, müsstest du aber wissen,
dass Philosophie darin besteht, das Bestehende zu hinterfragen.
Das gilt natürlich für Konventionen, Gebräuche
und die Glaubensvorstellungen der Menschen, genauso aber
auch für die Wissenschaft!
9.
D: „Also, man ist irgendwie, also ich bin, aber
ich glaube [3-4 Worte unverständlich] mal auch wirklich
noch gerührt, was für ein, was für hehre
Meinung du über Wissenschaft hast. Also, ich meine,
es ist ein System, das sich nach außen als rational
verkauft und von dem wir alle, so wie wir hier sitzen, nach
einigen Jahren wissen, dass es zutiefst irrational ist,
was Karrieren angeht.
B: Nicht nur Karrieren, auch Forschung selber.
D: Ja, auch Forschung selber.“
Das ist erst interessant! Eine völlige
Bankrotterklärung der Wissenschaft! Denn: Es macht
schon einen Unterschied – und zwar einen gewaltigen
– ob die Wissenschaft ihren eigenen hehren Ansprüchen
in der Praxis nicht genügen kann, weil diese eben hehr
und nicht leicht zu verwirklichen sind, oder ob sie es gar
nicht mehr versucht und zugibt, dass sie ein irrationaler
Betrieb ist! Denn solange sie diese Ansprüche noch
aufrecht erhält, kann sie immer wieder versuchen, ihnen
zu genügen. Aber wenn sie über sich selbst sagt:
„Das ist ohnehin ein irrationaler Betrieb!“
– woran soll sie sich dann noch halten? Ich möchte
wiederum hinweisen auf den Kontrast dieser Aussage zu jenen
über mein „verfälschtes Wissenschaftsbild“
und der Mahnung, ich solle „vorsichtiger“ sein.
Wie passt das zusammen: Wenn ohnehin alles falsch ist, könnte
es nichts Richtiges mehr darin geben, und wenn der gesamte
Wissenschaftsbetrieb irrational ist, dann wüsste ich
auch nicht, wie man da noch vorsichtig sein sollte –
man wüsste gar nicht, wovor man sich in Vorsicht üben
sollte?
Wenn man verstehen will, was ein kulturwissenschaftlicher
Diskurs ist und worin er besteht, dann muss man sich eigentlich
fragen, warum Ds unglaublich harte Aussage keinerlei
Widerspruch erregt hat unter den Diskussionsteilnehmern,
sondern – im Gegenteil – sogar Zustimmung bekam?
Schließlich war sie weit härter als alles, was
ich in meinem Vortrag über Wissenschaft ausgesagt hatte.
Es war sozusagen das unübertreffbare Abschlussurteil
über die ganze Sache: Taugt nichts – am besten
wäre, sie einfach in den historischen Mistkübel
zu entsorgen.
Zwei Dinge sind im Anschluss an Ds
bemerkenswerte Aussage (der niemand widersprochen hat) zu
sagen: Erstens, dass jemand, der die Wissenschaft so sieht
und trotzdem in ihr arbeitet, ein zynisches Bewusstsein
aufbauen muss – und ein zynischer Mensch ist unerreichbar
für Argumente. Ich verwende diese Formel auch, um mir
zu erklären, warum die Diskussionsteilnehmer bei der
Tagung unerreichbar waren für die Argumente, die in
meinem Vortrag enthalten sind: Ein Argument ist einfach,
es funktioniert so: Hier bin ich – entweder ich stimme
oder ich stimme nicht. Ein Zyniker hingegen denkt gedoppelt,
er hat zwei Ebenen: Die eine ist die des Gesagten. Aber
dieser Ebene misstraut der Zyniker und vermutet, dass das
Gesagte auf einer anderen Ebene etwas anderes, vielleicht
sogar Gegensätzliches, bedeutet. Das heißt, ein
Zyniker kann sich auf ein Argument nicht einlassen, denn
ein Argument ist einfach.
Der zweite bedenkenswerte Punkt, über
den hier von meiner Seite her zu reden ist, ist folgender:
Ich bezog mich in meinem Vortrag auf das, was die Wissenschaft
vorgibt zu sein (woran D und die anderen im Raum schon
lange aufgehört haben, auch nur einen Gedanken zu verschwenden)
– warum tue ich das? Antwort: Weil ich auf der Ebene
der Ideen argumentiere. Den Grund, warum das sinnvoll ist,
habe ich schon erwähnt: Ein Anspruch (die Wissenschaft
behauptet – in Sonntagsreden – das und das zu
sein) ist relativ leicht fasslich im Vergleich zur Wahrheit.
Die Wissenschaftler (hier die Kulturwissenschaftler) scheinen
umgekehrt zu denken: Die Wahrheit, die Übereinstimmung
mit der Realität, ist für sie jene Sache, die
leichter zu fassen ist. Das erscheint mir wie eine völlige
Verkehrung aller tatsächlichen Gegebenheiten. Und das
ist auch der Grund, warum ich die Wissenschaft am Schopf
packe bei dem, was sie sein will, also bei dem, was sie
vorgibt zu sein. Wo sollte ich sie sonst anpacken? Sollte
ich bei der Wahrheit ansetzen, also bei dem, wie sie wirklich
ist? Aber das kann ich ja nicht, weil ich der Ansicht bin,
dass die Wahrheit extrem problematisch ist.
10.
D: „Also, so sehr ich jetzt irgendwie diese
ganze Bereitschaft, da noch solche Normen zu vertreten,
irgendwie rührend finde und auch bewundere, aber zu
behaupten, dass das früher anders war, das kommt mir
vollkommen absurd vor nach dem, was ich über frühneuzeitliche
Wissenschaftsgeschichte weiß.“
Das ist wiederum interessant und zwar deswegen,
weil D meine Aussage darüber, was Wissenschaft
„früher“ war, mit der Frühneuzeit
identifiziert. Das sagt mehr über den kulturwissenschaftlichen
Diskurs aus, als man glauben möchte. D kommt
nicht auf die Idee, dass ich mit „früher“
„vor 15 oder 20 Jahren“ gemeint haben könnte,
er denkt in großformatigen Kategorien. Vom Standpunkt
des Vortragenden aus ist es schwierig, Aussagen über
die Gegenwartswissenschaft in eine Form zu bringen, so dass
sie richtig sind für die Geschichte der gesamten Wissenschaft.
Vielleicht haben Entwicklungen wie jene der letzten Jahre
in anderer Form schon mehrmals in der Wissenschaftsgeschichte
stattgefunden? Doch auch das ist für D kein Thema,
weil er sich auf der Ebene der Tatsachen bewegt und nicht
jener, der Interpretation. Er fragt nicht danach, was ich
gemeint haben könnte und in welcher Weise es nicht
vielleicht doch stimmen könnte, sondern er sagt ganz
einfach – indem er es in einen historischen Rahmen
von einer Größe spannt, die von mir nicht intendiert
gewesen war, dass es nicht stimmt.
11.
A: „Du musst ja nicht zwingend alles an deinen
Ideen ändern. Es war nur: Du musst gucken, was die
anderen darüber geschrieben haben und es mit deinen
Ideen vergleichen und dann sehen: Was behalte ich und was
nicht, irgendwie.“
Jetzt kommen wir der Hauptsache näher:
A gibt mir hier Nachhilfeunterricht in wissenschaftlichem
Arbeiten. In seiner Aussage zeigt sich, was Wissenschaft
in den Kulturwissenschaften wirklich ist. Zuvor aber muss
man ein Missverständnis aufklären: A scheint
zu meinen, dass man zur Kenntnis nehmen soll, was andere
geschrieben haben, um in einem wissenschaftlichen Sinne
informiert argumentieren zu können. Das aber ist nicht
der Fall. Ich zum Beispiel habe meine wissenschaftliche
Arbeit an den sozialwissenschaftlichen Interviews nicht
begonnen, ohne mich zuerst bei Sandra Beaufaÿs einzulesen.
In meinem Vortrag kamen außerdem noch die Namen Wojciech
Sady, Ludwik Fleck, Thomas Kuhn und William Whewell vor;
aber ich hatte noch zwölf weitere Bücher zur Vorbereitung
auf diese Arbeit gelesen. Ganz zu schweigen von den vielen
Büchern aus den Sozialwissenschaften, die ich schon
zu Studienzeiten und für mein Doktorat gelesen hatte.
Das kann es also nicht sein: Der Ratschlag, sich zuerst
umzusehen, um nicht das Rad neu zu erfinden in der Wissenschaft,
kann also nicht gemeint sein.
Die Frage ist, was sonst gemeint sein könnte?
Nun, mir fällt eigentlich nur eine Möglichkeit
ein: A erwartet von mir (d.h. nicht er, sondern
der Standard wissenschaftlichen Arbeitens in den Kulturwissenschaften
verlangt es vom Vortragenden, dass er sich…), dass
ich selbst mich im kulturwissenschaftlichen Diskurs verorte
und mich in ihm einordne.
Das ist faszinierend aus zwei Gründen:
Der erste ist, dass, wie schon ausgeführt, der Ratschlag
„zu gucken, was andere denken“ in keiner Weise
bedeutet, zu gucken, was andere denken, sondern etwas ganz
anderes: Es bedeutet vorzutragen (oder in einem Text: zu
schreiben), was andere denken. Der zweite Punkt, warum das
so interessant ist, ist die Frage: Warum soll ich das tun?
Warum tun das nicht sie, meine Zuhörer?
Aus meiner Kommunikationshaltung als Philosoph
erwächst nämlich genau die umgekehrte Erwartung
an die Kommunikationssituation: Ich präsentiere ein
Gedankengebilde, das ich vor dem Hintergrund meines geistigen
Lebens, meiner Lektüren usw. entwickelt habe. Umgekehrt
würde ich nun erwarten, dass mir die Adressaten meiner
Botschaften mitteilen, ob diese Gedanken vor ihrem jeweiligen
geistigen Hintergrund ein Bild ergeben und vielleicht einen
zusätzlichen Aspekt sichtbar werden lassen, der wiederum
mir weiterhelfen kann.
Aber ein wissenschaftlicher Diskurs (in
der Kulturwissenschaft) funktioniert offenbar nicht so:
Man erwartet vom Vortragenden, dass er sich nicht nur in
die wissenschaftliche Literatur einliest (was ich ja auch
nach Kräften tue), sondern darüber hinaus dass
seine eigenen Aussagen in das Gesamtgebäude der wissenschaftlichen
Literatur eingliedert, was einigermaßen absurd ist,
denn: Wenn ich nun zu einer Tagung komme, wo sich Spezialisten
aus verschiedenen verwandten Disziplinen mit ihren jeweiligen
Spezialthemen befinden, dann können diese die Aufgabe
der Einordnung meiner Thesen in das Ganze der Wissenschaft
viel besser vollziehen, als ich das je könnte. Das
ist ja auch ganz klar: Sie haben ja zusammen viel mehr gelesen,
als ich als Einzelner je lesen könnte.
Jetzt können wir wieder einen Schritt
weiterdenken: Daraus folgt, dass die Bewältigung der
Aufgabe, die Thesen des Vortragenden in das Wissenschaftsganze
einzuordnen, also den richtigen Ort und die entsprechenden
Verwandtschaftsbeziehungen in der wissenschaftlichen Literatur
für sie zu finden, auch nicht eigentlich das ist, worum
es hier geht. Aber worum soll es sonst gehen, wenn nicht
darum? Vielleicht darum: „Zu gucken, was andere denken“,
hat weder den Sinn zu gucken, was andere denken, noch hat
es den Sinn, die eigenen Gedanken im Wissenschaftsganzen
einzuordnen (denn da könnten einem ja die Anderen dabei
behilflich sein), sondern es hat eine reine Disziplinierungsfunktion
für den einzelnen Wissenschaftler oder die einzelne
Wissenschaftlerin.
Interessant ist natürlich, dass das
mit solchen Worten zum Ausdruck gebracht wird, die etwas
ganz anderes zu sagen scheinen. (Man könnte ja wirklich
auf die Idee kommen zu schauen, was andere sagen –
aber man wird herausfinden, dass das nicht gemeint ist.)
Was hingegen wirklich gemeint ist, ist: Fülle deinen
Vortrag nicht mit deinen eigenen Gedanken und Aussagen,
sondern fülle ihn mit den Gedanken und Aussagen von
anderen WissenschaftlerInnnen! Derselbe Inhalt, nur in einer
anderen Formulierung, würde lauten: Bringe in einem
wissenschaftlichen Vortrag nicht das vor, was du selbst
dir überlegt, beforscht und herausgefunden hast, sondern
wiederhole das, was Andere geschrieben haben.
Vielleicht wird jetzt auch mancher meinen,
ich würde mich irren. Denn A sagt ja: Ich müsste
nicht alles an meinen Ideen ändern. Aber ich irre mich
nicht, denn: Freilich müsste ich nicht alles an meinen
Ideen ändern, ich müsste sie nur so präsentieren,
als ob sie nicht die meinen wären.
12.
D: Na, die Gefahr ist, dass du sagst: Die Wissenschaft
ist nicht so, wie ich es mir vorstelle.
A: Ja.
D: Das ist für dich ein interessantes Ergebnis,
aber das kannst du nicht publizieren, […]
A: Weil die anderen sagen: Naja, ich hätte
sowieso nicht so ein Bild von Wissenschaft!
D: Es ist uns wurscht, ob sie nicht so ist, wie du
sie dir vorstellst, sondern du müsstest zeigen...“
Hier nun sind wir bei des Pudels Kern tatsächlich
angekommen. Ich bin nach meinem Vortrag in Lausanne noch
nicht so weit gewesen - damals hatte ich gedacht: Seltsam,
wenn es so ist, dass sich die Naturwissenschaften durch
inhaltlichen Asketizismus auszeichnen (Wir untersuchen nur
einen ganz kleinen Teil der Wirklichkeit, aber den dafür
ganz genau), so ist das doch bei den Kulturwissenschaften
eigentlich nicht der Fall, denn bei diesen ist es Programm,
die Grenzen des Untersuchungsgegenstandes auszuweiten oder
zu übersteigen. Insofern, dachte ich, sind die Kulturwissenschaften
doch eigentlich der Philosophie ähnlich, welche sich
auch permanent, mit Dingen beschäftigt, „die
sie nichts angehen“. Doch das war ein Irrtum, denn:
Alleine die Tatsache, dass die Kulturwissenschaften jene
„Beschränkung des Blicks“, welcher Wissenschaft
nach der Ansicht von Wojciech Sady ausmacht, nicht durch
inhaltliche Einschränkung ihres Untersuchungsbereichs
vollziehen, heißt ja noch nicht, dass sie das nicht
auf irgendeine andere Weise bewerkstelligen.
Und tatsächlich stellen auch die Kulturwissenschaften
eine „Beschränkung des Blicks“ dar, nur
vollziehen sie diese Beschränkung eben auf formaler
Ebene. D.h. beschäftigen tun sie sich, womit immer
die Wissenschaftler Lust haben, aber sie beschränken
die Arten der Fragen, die an diese Untersuchungsgegenstände
gestellt werden dürfen. Ausgeschlossen sind beispielsweise
alle Fragen, die ein Mensch an die Untersuchungsgegenstände
der Kulturwissenschaften haben könnte. Warum? –
Weil diese Fragen haben ja zum Zweck, dass dieser Mensch
sich eine Meinung über diese Gegenstände zur Orientierung
im eigenen Leben bilden könnte. Eine derartige Meinung
aber würde die Kulturwissenschaften in die Nähe
des Subjektiven rücken und würde sie in ihrem
Ansehen als objektive Wissenschaft gefährden.
Nun sage ich dasselbe noch einmal, nur von
der anderen Seite kommend: Was sich in den Aussagen im zuletzt
gebrachten Zitat zeigt, ist eine skandalöse Respektlosigkeit
vor der Meinung! Man berücksichtigt hier nicht, dass
es extrem schwierig ist, sich gute Meinungen zu bilden sowie
an deren Verbesserung konsequent zu arbeiten, und auch nicht,
dass seine Meinung für einen Menschen von größter
Bedeutung ist, weil er ihr nämlich ausgeliefert ist
und mit ihr leben muss. Von einem pädagogischen Standpunkt
aus also würde man sagen: Es ist extrem wichtig, welche
Meinungen die Menschen haben, und es ist alles daran zu
setzen, diese Meinungen immer wieder zu verbessern, sodass
sie mit der Wirklichkeit immer mehr übereinstimmen.
Für die bei der Diskussion anwesenden Wissenschaftler
ist eine Meinung jedoch schlichtweg ohne jeglichen Wert:
„Na, die Gefahr ist, dass du sagst: Die Wissenschaft
ist nicht so, wie ich es mir vorstelle.“ Ich würde
sagen: Es ist schon extrem viel gewonnen, wenn ich herausfinde,
dass die Wissenschaft nicht so ist, wie ich sie mir vorstelle.
Dann ist es auch nicht so, dass eine Meinung, wie die Behauptung
lautet, etwas ist, das bloß „für mich interessant
ist“ und für die anderen nicht, denn die Meinung
eines Menschen, wenn sie gut ist und viel Realitätsgehalt
besitzt, kann für andere Menschen Beispiel und Vorbild
sein.
Ich rede hier umständlich herum, um
wiederum zu zeigen, dass hier zwar bestimmte Worte gebraucht
werden und dass sie aber in diesem Zusammenhang gar nicht
das bedeuten, was sie zu bedeuten scheinen. Spricht man
in der Wissenschaft von einer Meinung oder – wie im
Zitat – von einer persönlichen Vorstellung, so
suggeriert man damit, dass diese falsch sind, während
die wissenschaftliche Wahrheit wahr ist. Das muss aber nicht
sein: Eine Meinung wie auch eine persönliche Vorstellung
können falsch oder auch richtig sein. Der Clou, der
zündende Gedanke, um überhaupt zu verstehen, wovon
D und A hier sprechen, besteht darin, zu verstehen,
dass es hier gar nicht um persönliche Meinungen oder
Vorstellungen geht, die man nicht in wissenschaftliche Vorträge
hineinbringen sollte, sondern es geht um etwas viel Fundamentaleres:
Es geht darum, dass kulturwissenschaftliches Wissen nicht
einmal die FORM oder das FORMAT PERSÖNLICHEN WISSENS
annehmen sollen!
Das ist ganz wichtig! Dadurch erklärt
sich auch, warum die anwesenden WissenschaftlerInnen sich
nicht um die Frage gekümmert haben: Was wäre,
wenn das richtig ist, was Helmut Hofbauer sagt, was bedeutet
es für das Schicksal der einzelnen WissenschaftlerInnen?
– und warum sie sich anstatt dessen auf scheinbaren
Nebenschauplätzen (Entspricht der Gebrauch im Vortrag
wirklich Thomas Kuhns Wissenschaftsbegriff? Kann man heute
noch von EINER Wissenschaft sprechen?) verloren haben. Es
erklärt auch, warum großformatige Betrachtungen
herangezogen wurden, um nachzuweisen, dass die WissenschaftlerInnen,
die ich interviewt habe, einen „verfälschten“
Wissenschaftsbegriff haben müssen, weil es in der Frühneuzeit
oder im 17. Jahrhundert anders gewesen ist. Mit anderen
Worten, Kulturwissenschaft produziert großformatige
Realitätsbeschreibungen, die den Zweck haben, individalmenschliche
Fragen nicht zu berücksichtigen und sich nicht auf
das Format persönlicher Lebensorientierung zuspitzen
zu lassen.
Das ist tatsächlich faszinierend: Kulturwissenschaft
ist Wissenschaft, weil sie Spezialistentum ist. Da sie das
Spezialistentum nicht durch inhaltliche Beschränkungen
herbeiführt (so wie die Naturwissenschaften), weil
sich ein Kulturwissenschaftler heute mit allem beschäftigen
kann, muss sie es auf formaler Ebene tun – und sie
bewerkstelligt das, indem sie sich gegen das schlechthin
Allgemeine abgrenzt, nämlich gegen die Fragen des gewöhnlichen
Menschen. Und um von den Fragen des gewöhnlichen Menschen
nicht gestört zu werden, geht sie sogar noch einen
Schritt weiter: Sie erarbeitet Wirklichkeitsbeschreibungen,
die dem gewöhnlichen Menschen nicht einmal mehr einen
Anhaltspunkt für eine Frage geben, weil sie so großformatig
sind und in absoluten Termini (bestes Beispiel: die von
A von mir eingeforderte Orientierung an dem, was
Wissenschaft „wirklich“ ist) formuliert sind,
dass sie von der Gestalt personenzentrierten Orientierungswissens
so weit wie nur möglich entfernt sind.
Das ist übrigens auch noch aus dem
Grund interessant: Da Kulturwissenschaft keine Medikamente
oder technische Produkte hervorbringt, fragt sich, worin
ihr Nutzen besteht? Ihr einziger Nutzen bestünde im
Grunde darin, dass sie den Menschen etwas lehrt. Dagegen
aber sperrt sie sich, indem sie ihr Wissen in eine Form
bringt, welche zum Gebrauch für Personen absolut ungeeignet
ist. Fragt sich nur, wozu Kulturwissenschaft sonst gut ist.
Bleibt noch eine andere Möglichkeit: KulturwissenschaftlerInnen
als staatlich geförderte Mandarine zur Verwaltung legitimen
gesellschaftlichen Wissens. Das ist ja auch ganz klar, dass
sie diese Funktion ausüben können: Dadurch, dass
sie die Frage nach der Wahrheit mit einem derart absoluten
Anspruch stellen, sind sie immer diejenigen, die am tiefsten
graben – also das „wahrste“ Wissen besitzen.
Dass dieses Wissen unbrauchbar ist, interessiert wenig im
gesellschaftlichen Kontext, sobald eine Institution auch
nur behaupten kann, dass es „wahr“ ist.
13.
A: „Entweder sind wir alle irgendwie Idioten
und musst du irgendwie da weitermachen, wo du weitermachst.
Oder irgendwie du denkst: Ok, vielleicht haben die irgendwie
ein anderes Bild. Warum ist das so?“
A stellt hier die entscheidende
Frage: Warum ist das so? Warum denken die KulturwissenschaftlerInnen
anders als ich? Ich kann es mir tatsächlich nicht erklären,
denn das Erste, was aus der Herangehensweise der Kulturwissenschaftler
für mich heraussticht, ist ihre Sinnlosigkeit. Ich
meine das so: Es dürfte nach meinen bisherigen Ausführungen
nicht mehr verwundern, wenn ich folgere: An eine wissenschaftliche
Fragestellung herangehen, bedeutet nach dem Wissenschaftskonzept
der KulturwissenschaftlerInnen, auf meine eigenen Fragen
zu verzichten und anstatt dessen die Fragen Anderer in den
Mittelpunkt zu stellen (Ich lese, was andere schreiben;
dann tue ich so, als wäre ich selber die Kulturwissenschaft
und erkläre: „In dieser Forschungsrichtung werden
folgende Fragen gestellt“, und: „Meine Untersuchung
leistet dazu folgenden Beitrag!“). Das bedeutet den
unmittelbaren geistigen Tod des Menschen! Ich meine damit
nicht, dass der Mensch irgendwann zu denken aufhört,
wenn er länger Kulturwissenschaft betreibt –
das ist vielleicht auch der Fall – sondern: Sobald
ich wissenschaftlich zu arbeiten beginne, verzichte ich
auf meine Fragen, verzichte ich auf mein Ich und verzichte
auf mein Denken und dessen Fortentwicklung. In der Performanz
wissenschaftlichen Arbeitens wird das menschliche Denken
ausgeschaltet und ist tot. Es gibt zwar vielleicht dann
immer noch irgendeine Art von Denken in der wissenschaftlichen
Arbeit, aber es ist nicht mehr das Denken einer Person –
und ein Denken, das nicht das Denken einer Person ist, ist
kein Denken. Wir könnten es höchstens ein „Rechnen“
nennen.
Höchstwahrscheinlich
ist das etwas, was kaum ein Vater oder eine Mutter wissen,
die ihr Kind auf die Universität schicken und die halbwüchsigen
Mittelschulabsolventen, die frohen Mutes ins Studium streben,
wissen es noch weniger: Kulturwissenschaft ist tatsächlich
Aufhören zu denken! Man meint ja normalerweise immer
das Gegenteil: Das eigene Denken würde bereichert werden
durch so ein Studium. Mit dieser Analyse einer Diskussion
mit KulturwissenschaftlerInnen meine ich, zur Genüge
gezeigt zu haben, dass KulturwissenschaftlerInnen aufgrund
ihrer Verstricktheit in den wissenschaftlichen Diskurs,
der eine bestimmte Form hat und bestimmte Dinge nicht zulässt,
nicht einmal in der Lage sind, einen Gedanken von einem
anderen Menschen aufzunehmen und auf ihn als Gedanken einzugehen
und entsprechend zu reagieren. Aus pädagogischer Sicht
- und Philosophie ist eine Art der Selbstpädagogik,
des pädagogischen Umgangs mit der eigenen Person -
ist das höchst bedenklich, was die KulturwissenschaftlerInnen
da tun!
Nun
die Frage, warum sie das tun? Das ist wirklich eine ganz
besonders schwierige Frage, auf die ich gern aus ihren eigenen
Mündern eine Antwort hörte. Ich kann mir nicht
vorstellen, dass jemand, dem sein eigenes geistiges Leben
wichtig ist, überhaupt in der Lage ist, kulturwissenschaftlich
zu denken. Er müsste dieses geistige Leben ja abstellen
und sich damit des größten Wertes berauben, den
ein geistiger Mensch überhaupt kennt. Daher kann mich
mir eigentlich nur vorstellen, dass ein solcher Mensch kulturwissenschaftlich
arbeitet, der seinen Lebenssinn und seine tieferen existenziellen
Bedürfnisse in der Freizeit, etwa in seiner Familie,
oder anderswo befriedigt.
Ich habe einmal in der Analyse darauf hingewiesen
und möchte das an dieser Stelle noch einmal wiederholen:
Niemand hat in der Diskussion gesagt, dass Kulturwissenschaft
ein so tolles Projekt sei, von dem die Gesellschaft großen
Nutzen habe und dass er/sie sie deshalb unbedingt unterstützen
wollte, auch wenn sie dem Individuum bisweilen Unannehmlichkeiten
bereitet. Die Identifikation mit einer großen Idee
oder mit einem großen Projekt ist also nicht der Grund,
warum die KulturwissenschaftlerInnen um A herum
ihr Wissenschaftsbild mit Zähnen und Klauen verteidigten?
Was kann sonst noch der Grund sein? Einen
Gedanken habe ich noch, den ich in diesem Zusammenhang äußern
möchte. Ich bin in das gesamte Projekt der Beforschung
von Wissenschaftsbildern mittels sozialwissenschaftlicher
Interviews hineingegangen mit der Vermutung: Vielleicht
ist es die Organisation der Wissenschaft, die mit der Zeit
das Denken der in ihr Tätigen verändert? Das mag
wohl schon auch der Fall sein, aber bei dem, was die TeilnehmerInnen
dieser Diskussion hier verteidigt haben, scheint es sich
doch um „echte Überzeugungen“ zu handeln.
Zwar vielleicht nicht um Überzeugungen, die das Ganze
der einzelnen Personen umfassen und zum Ausdruck bringen,
was diese aus einer bestimmten Vorstellung vom Leben und
Zusammenleben der Menschen heraus für wahr halten WOLLEN.
Aber doch Vorstellungen, die einen Teil ihres Selbst repräsentieren,
und zwar ist das ein harter, unbeweglicher Punkt, welcher
von einer „Das kann doch nicht sein!“-Vorstellung
festgehalten wird.
Auf diesen Gedanken bin ich verfallen bei
der Betrachtung des „moral objectivism“, dem
viele Akademiker mit ebensolcher Obstination verfallen zu
sein scheinen: „Moral objectivists“ meinen,
dass „moral subjectivism“ unbedingt falsch sein
müsse, weil darin Person A bestimmte moralische Handlungsvorstellungen
besitzt und Person B völlig andere oder sogar gegensätzliche
wie Person A. Unter der Voraussetzung des „moral subjectivism“
meinen sie, ließe es sich über Ethik nicht einmal
mehr reden, weil man nicht Bezug nehmen könnte auf
objektive Werte, die für alle gelten. Aus meiner Sicht
übersehen die „moralischen Objektivisten“
dabei nur eines: die Perspektive, aus der sie das sagen.
Sie beurteilen die Personen A und B nämlich von außen.
Sie vergessen dabei, dass moralische Überzeugungen
auch im „moralischen Relativismus“ überhaupt
nicht relativ sind, wenn man sie aus der Perspektive von
Person A beurteilt, weil Person A ja völlig von ihren
moralischen Ansichten überzeugt ist. Sie vergessen
also die Innenperspektive, die Perspektive aus der Person
heraus. Und noch etwas Wichtigeres vergessen sie: Wenn der
„moralische Objektivismus“, also der Blick von
außen gilt, dann ist ein jeder Ethikprofessor besser
imstande, die moralische Qualität der Handlungen von
Person A und B zu beurteilen als diese selber; klar, er
hat ja auch mehr Fachwissen als sie. Das würde aber
bedeuten, dass Person A und Person B die eigentliche moralische
Verantwortung für ihre Handlungsentscheidungen genommen
wäre. Wenn ich weiß, es gibt da ein objektives
Wissen darüber, wie ich mich zu verhalten habe, dann
brauche ich über mein Handeln nicht mehr wirklich nachdenken
– anstatt dessen halte ich mich an dieses objektive
Wissen. Dann haben wir es mit Heteronomie zu tun –
nicht mehr Person A und B entscheiden selber über ihre
moralischen Handlungen, sondern das objektive Wissen und
der Professor oder das Professorenkomitee, die dieses Wissen
besitzen, entscheiden über die Handlungen von Person
A und B. „Moralischer Relativismus“ ist folglich
eine grundlegende Bedingung der Möglichkeit dafür,
dass einzelne Menschen über das, was sie tun wollen,
selber nachdenken dürfen. „Moralischer Relativismus“
ist aber etwas, was viele, auch sehr gescheite Menschen,
mit einem unbändigen Hass bekämpfen, weil sie
fürchten, dass Chaos und Anarchie über die Welt
hereinbrechen müssen, wenn man ihn zulässt.
Um nun die Frage von A zu beantworten:
Warum denken die Kulturwissenschaftler anders als ich? Ich
mutmaße, dass sie deshalb anders als ich denken, weil
sie einem dem „moral objectivism“ vergleichbaren
„epistemological objectivism“ anhängen.
Dieser epistemologische, also erkenntnistheoretische Objektivismus
besagt: Es kann nur eine, die objektive Wahrheit geben,
und es kann keine individuellen Versionen (in den Köpfen
der Einzelmenschen) dieser Wahrheit geben.
Denn würde es verschiedene individuelle
Versionen der Wahrheit geben, dann würde das Chaos
ausbrechen und die gemeinsame Wahrheit der Wissenschaft
wäre gefährdet. Falls die KulturwissenschaftlerInnen
so denken, dann machen sie freilich denselben Perspektivenfehler
wie vorher die „moral objectivists“: Sie betrachten
und beurteilen die Menschen von außen. In Wirklichkeit
ist es – und das wäre mein eigentlicher Beitrag
zu diesem gesamten Thema – die eigentliche Bedingung
der Möglichkeit, bei der Diskussion über die gemeinsame,
die wissenschaftliche Wahrheit ihren Beitrag leisten zu
können, dass die Menschen zuerst ihre eigenen Beschreibungen
der Wirklichkeit entwickeln.
Ihre eigenen Beobachtungen und Beschreibungen
der Wirklichkeit sind es nämlich, welche sie als Personen
konstituieren – und als Personen würden sie in
der Folge an der wissenschaftlichen Diskussion teilnehmen.
Nun können aber „epistemological objectivists“,
so wie auch die KulturwissenschaftlerInnen welche sind,
keine Meinung und auch kein Wissen, das die Gestalt einer
Meinung annehmen kann (also die Gestalt von personenzentriertem
Wissen) zulassen, aus diesem Grund können sie es auch
nicht zulassen, DASS PERSONEN AN DER WISSENSCHAFTLICHEN
DISKUSSION TEILNEHMEN. Die Diskussionsteilnehmer müssen
bei der Teilnahme an der wissenschaftlichen Diskussion nicht
nur ihrer Persönlichkeit, sondern zuvor schon ihrer
Personhaftigkeit entsagen, um überhaupt mitmachen zu
dürfen. Also sie müssen nicht nur ihre spezielle
Persönlichkeit mit ihren Vorlieben hintanstellen, sondern
überhaupt auf das Kommunikationsformat der menschlichen
Person (die sich an eine andere wendet, um ihr etwas mitzuteilen)
verzichten, was sich unter anderem etwa darin zeigt, dass
sie ihre eigenen Diskussionsbeiträge selbst an den
gehörigen Orten in der Wissenschaft einordnen müssen:
Dadurch verkörpern sie selbst die Wissenschaft und
hören auf, sich als Personen ihr – als etwas
Gemeinsamem – gegenüberzustellen.
NaturwissenschaftlerInnen hingegen scheinen
keine solchen Probleme zu haben. Für sie stellt es
auch kein Problem dar, frei herauszusagen, was sie selber
über eine bestimmte Angelegenheit denken, ohne dadurch
ihre Identität als WissenschaftlerInnen zu gefährden.
Der Grund dafür liegt in inhaltlichen Begrenzung ihrer
Untersuchungsfelder: Ihr Spezialistentum speist sich daraus,
dass sie möglichst viel über einen sehr kleinen
Bereich der Wirklichkeit wissen. Sie müssen daher nicht
dadurch ihr Spezialistentum beweisen, dass sie in einer
bestimmten Form Fragen stellen und Aussagen einer bestimmten
Gestalt und mit bestimmten Bezügen zu anderen Aussagen
hervorbringen. Ihnen sind alle Formen und Gestalten von
Aussagen erlaubt – innerhalb ihres Fachgebiets.
„Entweder
sind wir alle irgendwie Idioten…“ – A
lädt mich hier ein, etwas sehr Unhöfliches zu
sagen. Dieser Einladung will ich nicht nachkommen, würde
sie auch doch weit an den Tatsachen vorbeigehen: Mit einer
derartigen Aussage meint man nämlich gewöhnlich
eine gewisse Beschränktheit des Verstandes von bestimmten
Menschen, die sie zu einer bestimmten Realitätssicht
kommen lässt. Wir haben es hier aber mit einem Phänomen
von genau der umgekehrten Bauform zu tun: Menschen von zum
Teil sehr hoher Intelligenz, die sich – aufgrund von
mir letztlich unzugänglichen Gründen – dazu
entschließen, die Welt auf eine bestimmte Weise zu
sehen. Diese Realitätssicht aber ist, ich habe das
schon angedeutet, viel schlimmer als Idiotie: Wenn wir sagen,
dass mit Idiotie Dummheit und also eine gewisse Einschränkung
gemeint ist, dann ist die kulturwissenschaftliche Arbeitsweise
demgegenüber das völlige Ausschalten des eigenen
Verstandes – ein geistiger Mensch, der sein Denken
liebt und in ihm seinen Lebenssinn findet könnte das
nie tun. Kulturwissenschaft ist also nicht nur Dummheit,
sondern sie ist viel mehr als das: Sie ist unmittelbar in
actu, in der Performanz des kulturwissenschaftlichen Arbeitens
der augenblickliche Tod des Denkens. Aber, und hier liegt
die Schwierigkeit, dieser Tod des Geistes wird bewusst von
durchaus intelligenten Menschen herbeigeführt.
TRANSKRIPTION
DER TONAUFNAHME DER DISKUSSION NACH MEINEM VORTRAG
„Von
Klein- und Großdenkern, Anglern im Trüben, Wissenschaftsnomaden
und Sudokuwissenschaftlern. Selbstbilder von MedizinforscherInnen
an der Medizinischen Universität Wien“
beim
Workshop „Dr. Jekyll oder Mr. Hyde. Die Figur des
Naturwissenschaftlers und ihre Konstruktion zwischen Selbst-
und Fremdwahrnehmung“ der Schweizerischen Gesellschaft
für die Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften
am 9. Sept. 2010 in Lausanne.
A: Vielen Dank für deinen Vortrag! Ich glaube, du hast
hier spannende[s] Interviewmaterial. Ich denke, deine Voraussetzung,
also die Ausgangsthese, die du hattest, und dein Bild von
der Wissenschaft geben bestimmt Stoff zu Gespräch.
Ich habe schon eine Frage anvisiert - von B, [ein Wort
unverständlich], C ist ja auch schon auf der Liste:
B?
B: Also vorab eine Anmerkung: Ich würde
die Moden in der Medizin nicht als Revolutionen im Sinne
von Kuhn auffassen. Also ich denke eher sowas wie die Humoralpathologie
im Vergleich zu was wir heute für Medizin haben. Das
ist, glaube ich, eher so im Sinne von Kuhnscher Revolution
gemeint. Also da wäre ich vorsichtig, sozusagen den
Kuhnschen Begriff der Revolution, wenn man ihn den überhaupt
benutzen will, auf Moden anzuwenden.
Helmut: Das habe ich aber auch nicht getan.
B: Ok, dann habe ich es missverstanden.
Helmut: Nein, es ist so: Also, es gibt Medizinforscher
in Wien, die sagen, sie können dem Konzept der Revolutionswissenschaft
etwas abgewinnen, indem sie es auf sich persönlich
anwenden, weil sie sagen: "Wenn ich Wissenschaft mache,
ist das: Ich trete als erstes an gegen eine Lehrmeinung.
Ja? Ich bin gegen etwas. Das ist diese Revolutionswissenschaft,
ja? Ich stürze etwas um. Ich stürze ein Dogma.
B: Ok. Das Zweite, was mir sozusagen
die ganze Zeit irgendwie mitschwang, war der... dass der
Begriff von Wissenschaft, den du verwendest, ja sich eigentlich
nur auf die Medizin bezieht - und ich kenne die Studie von
der Sandra, den Nachnamen habe ich schon wieder vergessen,
kenne ich nicht genau... ich finde angesichts der Tatsache,
dass wir zumindest seit, wenn ich mich recht erinnere, seit
den 60er Jahren davon ausgehen, dass es also Sozialwissenschaftler
gibt, dass es Naturwissenschaftler gibt und dass ja sie
angeblich in unterschiedlichen Kulturen völlig inkommensurabel,
ja, in getrennten Welten leben, finde ich das sehr schwierig,
sozusagen, vom Begriff Wissenschaft als solches zu reden
und würde da auf alle Fälle denken, dass es ganz
hilfreich wäre, einfach zu reflektieren: Was meine
ich? Also was ist, welche Wissenschaft meine ich? Und genau
das ist dann das nächste Problem: Wenn du es versuchst,
mit einem historischen Wissenschaftsbegriff zu reflektieren
oder in Verbindung zu bringen, also wie z.B. mit dieser
Idee der Kantschen Wissenschaftsphilosophie oder mit anderen
historischen Bildern, dann tritt genau das Problem auf,
dass wir eben seit der Disziplinierung, der Disziplingenese
unterschiedlicher Wissenschaften ganz unterschiedliche Vorstellungen
haben, was Wissenschaft ausmacht und daher sozusagen gar
nicht von DER Wissenschaft oder vielleicht doch von der,
von dem Wissenschaftlerbild ausgehen können. Also ich
frage mich: Hat der Ingenieur wirklich das gleiche Selbstverständnis
wie der Mediziner und wie wir als Geisteswissenschaftler,
also jetzt als Historiker?
Helmut: Ja, gebe ich recht. Ich meine, das
ist Thema irgendwo meines Vortrags. Das wird nicht explizit
reflektiert, aber mein Vortrag hat eine Spitze eigentlich,
sagen wir, gegen die Kulturwissenschaft. Weil Kulturwissenschaften
ist ja auch, also das ist ja, die Kulturwissenschaften sind
ja die Nachfolgerinnen der Geisteswissenschaft, und die
bestehen ja auch darin, dass man über den Rand hinausblickt.
Nicht, genau wie das diesem Konzept nach die Philosophie
tut. Also diesem Vortrag nach wäre Kulturwissenschaft
keine Wissenschaft.
A: Also du weißt schon, dass
du jetzt mitten im Löwengraben bist und dass du zittern
musst, dass wir dich nicht alle fressen. Aber gut. Ich bin
jetzt gespannt auf die anderen Fragen, ich glaube, ihr wart
ziemlich zeitgleich: C bitte!
C: Ja, ich sehe nicht so eine Dichotomie
zwischen dem, was Sie jetzt beschrieben haben, also aus
heutiger Sicht der Wissenschaftstheorie oder Wissenschaft,
weil die ja vielmehr jetzt auch so einen praxeologischen
Zugang hat dann. Also weil man jetzt vielmehr schaut: Was
tun eigentlich diese Wissenschaftler? – so sind das
nicht Dinge, die einander widersprechen. Sondern, wenn man
z.B. Ansätze anschaut wie von einem Rheinberg, der
von Experimentalsystemen schreibt, so gehören in ein
solches System eines Wissenschaftlers gehört sowohl
das tägliche Leben in seinem Labor mit seinem ganz
fokussierten Blick auf ein bestimmtes Experiment wie auch
diese ganze Hierarchiefragen, die Umgebung, das Gebäude,
alles, das ist alles. In dem Sinne, wenn man es mehr von
dieser Praxisseite: Was tut ein Wissenschaftler? Dass das
in dem Sinn stärker als Einheit verstanden werden kann,
auch wenn man versuchen kann, eine solche Dichotomie zu
ziehen. Aber ich finde: Rein jetzt diesen Ansatz, das als
Einheit zu verstehen, ist ja wesentlich, was die modernere
Wissenschaftsforschung eigentlich herausgearbeitet hat und
die uns auch eigentlich in der Erkenntnis darüber,
was Wissenschaft eigentlich ist, weitergebracht hat, indem
man das als System versteht.
Helmut: Ich weiß nicht. Das stimmt
natürlich alles. Es ist die Frage, wie man das jetzt
sehen kann oder bewerten kann. Weil, ich glaube nicht, dass
das dieselben Leute sind, die die Wissenschaft analytisch
so untersuchen, wie Sie das sagen, und die anderen, die
sie betreiben, nicht? Weil, ich bin ja jetzt doch seit Oktober
im Journal Club von Jan Ankersmit dringesessen und da geht
es nicht darum, was der Wissenschaftler tut, sondern da
geht es darum, was diese einzelnen Proteine tun, ja? So
das Interleukin 16 tut das, das ST2 tut das und so weiter,
ja? Und der Rahmen ist wirklich, ist der Rahmen der PowerPoint-Präsentation.
C: Aber was Sie sagen, ist ja nicht...
ist ja logisch, dass sie über das sprechen, aber das
heißt doch nicht, dass das ihre ganze Welt ist, oder?
Also, wenn Sie jetzt nachverfolgen würden den Tag vom
Morgen bis zum Abend: Was tun die eigentlich den ganzen
Tag? - so sehen Sie, dass das eigentlich ineinander geht,
vielleicht von... Aber Sie fokussieren natürlich auf
die Selbstbilder und das ist wieder was, ist wieder was
anderes.
A: Eben. Weil ich meine: Was Mélody
Faury vorhin gemacht hat, ist, dass sie eben diesen Vergleich
gemacht hat zwischen, was tatsächlich im Labor passiert
durch diese Agenda, was sie irgendwie hat, und dann die
Interviews, wo sie dann sehen kann, wie sprechen sie über
ihre eigene [Wort unverständlich: Angabe] und wo gibt
es da Unterschiede? Aber das ist ja eigentlich nicht dein
Thema: Dich interessieren am Anfang die Selbstbilder, und
sicher ist das dann irgendwie gerechtfertigt, wie du dein,
wie du [he]rangehst, aber dein Bild von Wissenschaft ist
vielleicht etwas verfälscht dadurch, dass du irgendwie
sie auch aus diesen Interviews rausnimmst, habe ich den
Eindruck. Und dass diese Wissenschaftler selbst ihr eigenes
Bild von Wissenschaft haben, aber das heißt nicht,
dass Wissenschaft so ist.
Helmut: Ja, wie?
A: Ich weiß nicht, ob das
klar ist?
Helmut: Nein.
A: Also das heißt: Du hast
Interviews geführt mit Profs. Du hast ja einer, in
diesem wunderbaren Beispiel mit dem Angeln, und ich war
dann gleich irgendwie, und deswegen würde ich, also
es gibt auf jeden Fall Unterschiede, aber irgendwie es gibt
auch irgendwie Ähnlichkeiten, ich war gleich an Bacon
erinnert, der sagte: Früher ist man irgendwie, im dunklen
Mittelalter mit starken Anführungszeichen, mit so ein[em]
Leuchter, mit so ein[er] Fackel irgendwie gelaufen und hat
man nur bestimmte Sachen zufällig irgendwie beleuchtet,
und das war es dann. Und er will einen Katalog irgendwie
erstellen. Er will alle möglichen Fragen stellen und
sie dann irgendwie dementsprechend beantworten. Das ist
sein Programm. Und dieser Prof sagte: Naja, aber das letztendlich...
also, das sagte er nicht, aber, ich meine zwischen den Linien
kann man ja auch nicht mehr. Also dass wir einen gesamten
Katalog und ein Gesamtsystem bauen können, das geht
nicht, aber wir können 100 000 mal irgendwie angeln
und irgendwie: Da kommt dann schon was raus.
Helmut: Nein, er meint, wir sollten systematisch
arbeiten.
A: Sicher...!
Helmut: Aber wir tun es nicht.
A: Gut, ok, aber es ist schon ein
Unterschied in diesem Optimismus von Bacon, der glaubt,
irgendwie alle möglichen Experimente durchführen
zu können, alle möglichen Fragen stellen zu können
und deinem Professor, der irgendwie sieht: Ok, ich kann
mit dem bestimmten Geld, was ich habe, ein bisschen zeigen,
nur 100 000 mal angeln, und sicher, werde ich da interessante
Sachen finden und da hat [es] sich dann schon gelohnt. Und
irgendwann ist das dann, als würde man mit 100 000
Fackeln durch die Gegend laufen und nicht mehr irgendwie
dieses ganze System der Wissenschaft irgendwie aufstellen.
Helmut: Nein, das ist auch ein Missverständ...
nicht er kann 100 000mal angeln. Sondern: Es wird draußen...
A: Aber sein Team.
Helmut: Nicht sein Team! Sondern es wird
überall geangelt: Vielleicht kommt was raus, vielleicht
kommt nichts raus.
A: Gut, dann ist das noch schlimmer,
weil sie sind noch kleiner...
Helmut: Das ist diese große gesellschaftliche
(wir reden gleichzeitig) die große gesellschaftliche
Erwartung, dass großartige Ergebnisse rauskommen,
die da befriedigt wird.
D: Ja, das war ein Programm der Pharmaindustrie,
das jetzt so langsam etwas fragwürdig wird, dass sie
einfach aufgrund der unglaublichen Datenmenge, die es gibt
an klinischen Daten, versucht haben mit Computerprogrammen,
alle Daten miteinander zu vernetzen um herauszukriegen,
ob da irgendwann mal bei irgendeiner Versuchsreihe der 60er
Jahre irgendwie ein Nebeneffekt war, weil die meisten Blockbuster-Medikamente
sind ja irgendwie Nebeneffekte von anderen Medikamenten,
nach denen man gar nicht gesucht hat, zu gucken, ob man
da über moderne Methoden der Datenverarbeitung irgendwie
plötzlich was rausfindet, was man jetzt jahrzehntelang
übersehen hat, weil es im anderen Kontext nicht beachtet
wurde. Also, das ist, glaube ich, eine ganz zutreffende
Beschreibung. Das war, da wurde sehr viel Geld reingesteckt,
spätestens in den 90er Jahren, als die Computer leistungsfähiger
wurden, und jetzt wird langsam klar, dass das halt doch
nicht so wahnsinnig zielführend ist. Also da muss man
halt schon auch das spezielle Problem sehen, Bacon hatte
sicher andere im Kopf als diese.
Helmut: Also mein Ausgangspunkt war, warum
ich diese Interviews geführt habe, sozusagen ob - die
Frage, ob sich die ForscherInnen eigene Wertvorstellungen
machen können und diese dann auch durchhalten können,
die NachwuchswissenschaftlerInnen. Und ich habe solche eigenen
Vorstellungen zum Großteil nur bei den Professoren
gefunden, bei den NachwuchswissenschaftlerInnen eigentlich
nur bei einer Person eigentlich und habe mich dann gefragt:
Warum, ja? Ich glaube schon, dass die Wissenschaft früher,
als sie noch einen tieferen [gemeint ist: geringeren] Organisationsgrad
hatte, mehr darauf angewiesen war auf Forscher, die Ideale
hatten und die sie auf ihrem Rücken praktisch trugen,
getragen haben. Und jetzt ist der Organisationsgrad rapide
angestiegen, und jetzt braucht man eigentlich keine Menschen
mehr, die selber denken - man braucht Puzzlesteine.
A: Und ich glaube, das ist das,
was uns ein bisschen Magengeschwüre vorbereitet. Weil
ich glaube – also ich glaube, ich kann für die
anderen auch sprechen – wenn ich sage, dass wir diese
Entwicklung nicht sehen. Und deswegen sagen wir nicht: Es
ist falsch, was du sagst, aber vielleicht solltest du etwas
vorsichtiger sein. Und weil auch wenn du z.B. von der Wissenschaft
als ganzes sprichst und du referierst auf William Whewell,
einen der Väter der Wissenschaftsgeschichte in England,
der aber auch irgendwie sehr viel Natural Theology irgendwie
betrachtet, also der eigentlich selber ein großer
Träger von Werten war... das ist ein altes Modell,
das irgendwie stark relativiert worden ist in den letzten
Dekaden. Und wenn du dann im nächsten Atemzug irgendwie
Ludwig Fleck zitierst, dann ist das ein ganz anderes Bild:
Dann kann man nicht mehr von Wissenschaft als ganzes sprechen.
Da sind klare Entwicklungen, klare Trennungen zwischen verschiedenen
Denkstilen - und wenn du dann irgendwie von Thomas Kuhn
sprichst und von Revolution, ich kann mir kaum vorstellen,
dass deine Wissenschaftler wirklich wissen, was hinter Kuhn
sich tatsächlich verbirgt, sie denken vielleicht an
die Revolution, an die Umwälzungen, aber was Kuhn sagt,
ist eigentlich korrosiv für die Wissenschaften, weil
er sagt: Was davor ist vor der Revolution, ist inkommensurabel
mit dem, was danach ist. Das heißt, es kann gar keine
Kommunikation geben, und der eine Wissenschaftler kann nicht
irgendwie einmal das sagen und dann irgendwie merken: Nein
das stimmt nicht. Man revolutioniert irgendwas. Weil er
kann das gar nicht verstehen, was davor da war. Das ist
ein Paradigmenwechsel, der nicht durch einzelne Menschen
stattfindet, sondern irgendwie so in einem Prozess und plötzlich
hat man ein völlig anderes Paradigma, das mit dem anderen
irgendwie nicht mehr kompatibel ist.
Helmut: Na, vielleicht sollten wir auf der
Ebene der Anliegen sprechen, nicht? Also, ist jetzt dein
Anliegen, wenn du das so sagst, dass du verhindern möchtest,
dass ich den Namen der Wissenschaft beflecke?
A: Nein!
Helmut: Und mein Anliegen ist: Ich möchte
nicht, dass die Wissenschaftler in ihrer Arbeit so gestreamlined
werden, dass sie am Ende Menschen gar nicht mehr ähnlich
sehen, ja?
A: Mein Anliegen ist, dass du nicht
von Löwen gefressen werden wirst, wenn du deine Doktorarbeit
publizierst und dann irgendwie Leute sagen: Aber, also,
Helmut, das ist doch ganz klar: Das hatten wir schon irgendwie
lange revidiert, dieses Bild der Wissenschaften, das du...
Eben, ich glaube, du hast in diesen Interviews irgendwie
wirklich ganz, ganz spannende Themen, die, wenn du sie irgendwie
da auch noch weiter herausarbeitest - und du hast ja selber
gesagt: Ich habe begonnen zu zweifeln an meiner Ausgangslage...
Helmut: Ja, aber nicht aus diesem Grund!
A: Gut, vielleicht nicht, aber ich
meine.. Ah ja stimmt, ich habe... Entschuldigung!
D: Also, man ist irgendwie, also ich
bin, aber ich glaube [3-4 Worte unverständlich] mal
auch wirklich noch gerührt, was für ein, was für
hehre Meinung du über Wissenschaft hast. Also, ich
meine, es ist ein System, das sich nach außen als
rational verkauft und von dem wir alle, so wie wir hier
sitzen, nach einigen Jahren wissen, dass es zutiefst irrational
ist, was Karrieren angeht.
B: Nicht nur Karrieren, auch Forschung
selber.
D:
Ja, auch Forschung selber. Und alles. Also gut. Und natürlich
sind Professoren viel eher in der Notwendigkeit, etwa dir
gegenüber, so würde ich das verstehen, auch akademische
Sonntagsreden halten zu dürfen, indem man dann sagt:
Jaja, Wahrheitsfindung, Fortschritt usw. und gleichzeitig
im Hinterstübchen zu wissen: Hahaha! Worauf ich aber
rauswill eigentlich, ist Folgendes. Vermutlich mache ich
einen Fehler als Frühneuzeitforscher jetzt hier irgendwie
empört aufzuschreien, weil ich glaube, in dem Bild,
das du jetzt für deine Gegenwartssoziologie malst,
die Frühzeuzeit halt wieder mal das Prototypische Andere
ist, das was früher war, bevor Gesellschaft modern
richtig kam. Das heißt, also ich glaube, dieses Bild
von Wissenschaft ist so plump modernisierungstheoretisch,
dass ich eigentlich gar nicht dagegen andiskutieren sollte,
sondern es einfach ignorieren. Aber wenn die Wissenschaftsgeschichtsschreibung
der letzten 3-4 Jahrzehnte eigentlich eins immer wieder
gezeigt hat, dann ist es, wie wahnsinnig sozial eingebunden
das ist, was man heute Wissenschaft nennen würde, damals
gab [ein paar Wörter unverständlich], und das
Maß an sozialer Abhängigkeit und der Druck zu
sozialer Anpassung unter Bedingungen, wo man eben, wenn
man schlechter Wissenschaftler und arbeitslos war, nicht
Hartz 4 bezogen hat, sondern verhungert ist, war, denke
ich, eher noch höher als damals - und da gibt es wunderbare
Untersuchungen dazu, etwa über Galileo, den Höfling
usw. oder mich selber bescheiden hier noch zu nennen, was
ich über Platter gezeigt habe [der Arzt Felix Platter
(1536-1614)], zeigt doch, dass die Leute nicht reich wurden
und nicht berühmt wurden, weil sie so tolle Wissenschaft
gemacht haben, sondern weil sie neben ihrer intellektuellen
Brillanz eben auch in der Lage oder das Glück hatten,
in Positionen zu kommen, wo sie sich z.B. Publikationen
leisten konnten. Eine Publikation, ein publiziertes Buch
kostete mehrere Jahreslöhne eines Stadtarztes. Ergo
hat, wer keinen Jahreslohn hat, auch nichts publiziert.
Das ist so, nicht? Also, das war mal schon eine notwendige
Bedingung, dass man ein entsprechendes Vermögen oder
Einkommen hatte, um was zu publizieren. Also, so sehr ich
jetzt irgendwie diese ganze Bereitschaft, da noch solche
Normen zu vertreten, irgendwie rührend finde und auch
bewundere, aber zu behaupten, dass das früher anders
war, das kommt mir vollkommen absurd vor nach dem, was ich
über frühneuzeitliche Wissenschaftsgeschichte
weiß. Das Maß an der Notwendigkeit sozialer
Anpassung gegenüber Fürsten, gegenüber Geldgebern,
war eher höher als heute. Da kann man heute eher machen,
was man will, kann man sagen.
A: Na gut, vielleicht nicht gleich,
aber...
Helmut: Sehe ich jetzt nicht, wie das...
B [redet gleichzeitig]: Ich würde
da noch weiter gehen: Die Organisationsformen waren zwar
andere als heute, weil der Wissenschaftsbetrieb nicht universitär
in dem Maße war. Aber es gab andere Organisationsformen,
Akademien z.B., die sind stark durchorganisiert, also jetzt
aus der frühen Neuzeit; die Gelehrtenrepublik, die
ist zwar nicht irgendwie strukturell festgeschrieben, aber
es sind Organisationsformen, da ist man drin sozialisiert
worden und man wusste, wie man sich zu benehmen hat - also
es sind andere Organisationsformen, aber trotzdem hat die
Wissenschaft auch des 18. Jhs. ist auch organisiert. Zwar
anders, als wir das heute kennen, aber sie sozusagen als
unorganisierte Form zu bezeichnen, wo der Wissenschaftler
als Mensch auftrat, das, da wäre ich, da wäre
ich ganz vorsichtig. Auch da gab es einfach verschiedene
Rollen, die dieser Wissenschaftler oder der Mensch einnahm,
eben einmal als Höfling wie Galilei, einmal als Akademiemitglied
und gleichzeitig sicher auch als Ehemann. Also...
Helmut: Ja. Na, um alles dieses wissenschaftshistorische
Wissen zu bekommen, bin ich ja hergekommen, nicht? Allerdings,
ich sehe jetzt nicht, wie jetzt Galilei mit seinen Verpflichtungen,
Höfling zu sein, dem widersprechen müsste, nicht.
Weil das sind ja jetzt andere Verpflichtungen, nicht? Das
ist ja nicht die Verpflichtung, wissenschaftlich zu denken
in einem ganz bestimmten Sinne und alles andere wegzulassen,
nicht? Also wie soll ich sagen..?
A [unterbricht]: Vielleicht hängt
das mehr zusammen als du denkst…
Helmut: Ich bin mit der Wissenschaft...
A: …und ich denke, was du
irgendwie ansprichst ist die Studie von Mario Biagioli [Galilei
der Höfling. Entdeckung und Etikette: Vom Aufstieg
der neuen Wissenschaft. Erschienen im S. Fischer Verlag]
und eben, das würde reichen irgendwie, wenn du irgendwie
[einige Wörter unverständlich]. Wir sind ja kein
Gericht. Wir sagen nicht, was du zu schreiben hast und was
nicht. Wir sind keine Zensur. Es ist nur irgendwie, es wäre
für dich... ich habe ja auch Philosophie studiert,
und ich fand es bereichernd, so wie du den Fleck in dem
Text zu lesen.
Helmut: Ja.
A: Oder z.B. irgendwie Bourdieu
in dem Text zu lesen. Weil ich weiß nicht, wie Beaufaÿs
ihn irgendwie rezipiert hat, aber ich meine, es wäre
sicherlich für dich von Interesse irgendwie, und dann
daraus irgendwie zu sagen: So, ok, ich habe mein Wissenschaftsbild
gehabt, das heißt nicht, dass es irgendwie... es entspricht
ungefähr vielleicht das [=dem], was ich in den Interviews
herausgehört habe. Und jetzt musst du gucken: Was denken
andere über dieses Wissenschaftsbild und vielleicht
findest du da einen anderen [ein Wort unverständlich:
Faden?], dann könntest du relativieren, bestimmte Sachen
relativieren. Du musst ja nicht zwingend alles an deinen
Ideen ändern. Es war nur: Du musst gucken, was die
anderen darüber geschrieben haben und es mit deinen
Ideen vergleichen und dann sehen: Was behalte ich und was
nicht, irgendwie. Oder: Du hattest an einem Punkt irgendwie
hattest du von stark kontrollierte Experimente gesprochen
versus unkontrollierbare Akademien-, ah, -laufbahn, genau:
-karrieren. Und ich glaube: So klar ist das nicht, also
weil…
Helmut: Das ist eine Behauptung, klar.
A: Experimente sind nicht so kontrolliert,
wie man es vielleicht vorgibt als Wissenschaftler im Nachhinein,
die die Arbeiten...
Helmut [unterbricht]: Aber darum geht es
ja nicht, sondern es geht darum, was man vorgibt zu tun.
A: Gut. Sowieso, weil dir geht es
um Selbstbilder. Dir geht es um irgendwie Inszenierungen
von wie man seine eigene Arbeit als Wissenschaftler versteht,
hier in dem Fall als Mediziner. Aber trotzdem brauchst du
irgendwie den Vergleich mit dem, was Wissenschaft tatsächlich
zwischen Anführungszeichen ist, sprich: Du brauchst
irgendwie [das] Studium von Leuten, die sich mit Wissenschaft
als Wissenschaftshistoriker, Wissenschaftsphilosophen, Wissenschaftssoziologe
beschäftigt haben, um zu wissen, was haben sie für
ein Bild der Wissenschaft rekonstruiert und dann kannst
du es vergleichen mit dem Bild, das deine Interviewten irgendwie
haben und dann kannst du zu extrem interessanten Ergebnissen
kommen. Wenn du es aber nur mit dem Bild vergleichst, [das]
du jetzt hast du hast noch nicht vielleicht den Schritt
gemacht, irgendwie zu gucken, wie es sonst irgendwie [bei]
Leuten, die sich wirklich damit beschäftigen mit Wissenschaft,
also Wissenschaftssoziologie usw., dann läufst du Gefahr,
dass du irgendwie vielleicht irgendwie ein leicht verfälschtes
Bild von Wissenschaft hast. Und wenn du es dann damit vergleichst,
dann irgendwie ist es weniger interessant für deinen
Leser.
D: Na, die Gefahr ist, dass du sagst:
Die Wissenschaft ist nicht so, wie ich es mir vorstelle.
A: Ja.
D: Das ist für dich ein interessantes
Ergebnis, aber das kannst du nicht publizieren, [einige
Wörter unverständlich] uns wurscht!
A: Weil die anderen sagen: Naja,
ich hätte sowieso nicht so ein Bild von Wissenschaft!
D: Es ist uns wurscht, ob sie nicht
so ist, wie du sie dir vorstellst, sondern du müsstest
zeigen...
Helmut: Ja. Ja.
A: Du musst sagen: Leute, ihr habt
euch Wissenschaft so vorgestellt, aber in Anbetracht der
Interviews, die ich geführt habe, haben diese Leute
einen ganz anderen Eindruck von Wissenschaft - und da liegt
die Diskrepanz. Wenn du nur sagst: Leute, ich habe gedacht,
so ist Wissenschaft, die sagen: Es ist so! - und es passt
oder es passt nicht, dann ist es nur für dich interessant.
[Leise:] Das ist doch das, was du sagst, oder?
Helmut: Jain, jain. Also ich habe mit der
Frau Prof. Ulrike Felt gesprochen in Wien, was man machen
könnte damit. Und sie sagte: Wenn man das publizieren
wollte, eben in einer soziologischen Zeitschrift, dann müsste
man eben irgendwie soziale Folgen, ja, herausarbeiten. Also
was hat das für Folgen für die Gesellschaft, nicht?
Und, sagen wir, ich habe das eingerahmt [zeigt auf einen
Punkt der PowerPoint-Präsentation], das ist eben das,
was mich nicht interessiert. Mich interessiert das, was
es für Folgen hat für das Individuum, nicht? Und
was ist jetzt der Unterschied zwischen Individuum und Gesellschaft?
Ich habe unlängst mal versucht, das in einem Text herauszuarbeiten,
wo ich einen Artikel aus der Wirtschaftswoche einfach analysiert
habe. Wir wissen das ja instinktiv ohnehin sehr genau, nicht?
Also: Wenn es jemandem schlecht geht, ist das keine Folge
für die Gesellschaft. Wenn es Selbstmorde gibt bei
France Telecom, ist das eine Folge für die Gesellschaft.
Also bestimmte Grenzen dürfen nicht übertreten
werden. Wenn man erklären möchte, was eine Folge
ist für die Gesellschaft, kann man sagen: Die Arbeitsbedingungen
sind heute so - keine Ahnung, dass die Leute weniger Kinder
kriegen. Das ist etwas, das die Gesellschaft spürt.
Aber wenn man eben sagt - keine Ahnung - die Gesellschaft,
also die, ja: Menschen geht es schlecht, Menschen können
sich nicht entfalten, das wird nie eine gesellschaftliche
Folge sein – also kein soziologischer Diskurs, nicht?
D: [Anfang unverständlich] erziehungswissenschaftlich.
Kannst du auch [unverständlich] qualitativen Interviews.
Helmut: Für die Soziologie ist der
Mensch eine black box, da kann man nicht reinschauen.
A: Ja, [einige Wörter unverständlich].
Ja, also ich denke, ich möchte mich entschuldigen.
Ich wollte dich nicht jetzt brüskieren so. Ich bin
sicher, das war auch nicht unser, von keinem irgendwie hier
die Idee. Es ist einfach irgendwie: Entweder sind wir alle
irgendwie Idioten und musst du irgendwie da weitermachen,
wo du weitermachst. Oder irgendwie du denkst: Ok, vielleicht
haben die irgendwie ein anderes Bild. Warum ist das so?
Und dann guckst du, was dieses andere Bild ist - und dann
kannst du immer noch entscheiden, was dein Bild ist. Ich
denke, das ist irgendwie, das liegt deinen, in deinen Entscheidungsmöglichkeiten.
Und ich bedanke mich auf jeden Fall für den Vortrag.
Aber ich fand auch die Interviews [ein paar Wörter
unverständlich] Material.
Hel: Dankeschön!
A: Und ich glaube, wir gehen jetzt
einfach in die Pause.
ENDE DER TONAUFNAHME
Analyse erstellt am 18. Okt. 2010
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