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Kritik der zeitlichen Vernunft

Rezension von Eckhart Tolle:

Jetzt! Die Kraft der Gegenwart. Ein Leitfaden zum spirituellen Erwachen.

J. Kamphausen Mediengruppe, Bielefeld 2014 (28. Aufl., 2000).

 

1. Gibt es das Problem überhaupt, das Tolle zu lösen verspricht?

Eckhart Tolle sieht das Problem der meisten Menschen darin, dass sie in der Zukunft und/oder in der Vergangenheit leben und dadurch das Leben in der Gegenwart versäumen.

„Für das Ego existiert der gegenwärtige Moment kaum. Nur Vergangenheit und Zukunft haben Bedeutung. Diese völlige Umkehrung der Wahrheit ist der Grund dafür, dass der Verstand auf der Ego-Ebene so krank ist. Er ist ständig damit beschäftigt, die Vergangenheit am Leben zu erhalten, denn ohne sie – wer bist du da überhaupt? Er versetzt sich selbst immer wieder in die Zukunft, um sein Überleben zu sichern und um dort eine Art von Befreiung und Erfüllung zu finden. Er sagt: „Eines Tages, wenn dies, das oder jenes geschieht, dann wird es mir gut gehen und ich werde glücklich sein, in Frieden.“

(S. 33)


Wer in der Zukunft lebt, den quälen Ängste vor dem, was möglicherweise geschehen wird, und man fürchtet sich vor Szenarien, die höchstwahrscheinlich gar nicht eintreten werden. Auch wenn man Stress hat, so liegt das Problem, laut Tolle, in einem Mangel an Gegenwärtigkeit, denn Stress besteht darin, dass „du „hier“ bist, aber „dort“ sein willst, […] du in der Gegenwart bist, aber in der Zukunft sein willst“ (S. 95). Wer in der Vergangenheit lebt, den suchen Schuld- oder Minderwertigkeitsgefühle heim oder was sonst man in vergangenen Zeiten Belastendes erlebt hat.
Ich würde es so beurteilen: Dieses Problem gibt es. Und womöglich besteht Tolles Verdienst darin, als Erster den Finger darauf gelegt zu haben. (Zumindest kenne ich keinen Anderen, der das thematisiert hat.)

2. Warum sucht Tolle die Lösung dieses Problems ausschließlich auf der Zeitachse?

Die Lösung, die Tolle vorschlägt, besteht darin, dass man sich ganz auf die Gegenwart konzentriert und dadurch sein Probleme aus der Vergangenheit und seine Sorgen bezüglich der Zukunft vergisst.
Das wirkt einleuchtend, solange man Tolles Darstellung gedankenlos folgt. Denn wenn er nur von Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft redet, bleiben andere mögliche Alternativen unbeachtet im Hintergrund und man kommt gar nicht auf den Gedanken, dass einen etwas anderes als Hoffnungen und Erinnerungen davon abhalten könnten, man selbst zu sein.
Ich kenne aber beispielsweise einen Menschen, der in anderen Menschen lebt. Dieser Mensch lebt im Tratsch. Jedes Mal, wenn man ihn trifft, erzählt er in aufgeregtem Ton, was dieser oder jene andere Mensch getan hat (was er nicht hätte tun sollen) oder nicht getan hat (was er tun hätte sollen). Und selbst wenn mein Bekannter im Einzelfall Recht haben sollte, denke ich mir immer: „Du verschwendest deine Zeit! Warum beschäftigst du dich nicht mit deinen eigenen Angelegenheiten?“ Das sage ich ihm aber nicht, denn es hätte keinen Zweck: Dieser Mensch kann sich gar nicht mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigen, denn er hat aus sich selbst so etwas wie das Echo der Existenz anderer Leute gemacht.
Außerdem gibt es noch zahlreiche andere Weisen, wie man sich selbst versäumen kann. Ich selbst habe schon des Öfteren in meinen Texten beklagt, wie es die Philosophen bewerkstelligen, dass sie sich selbst verfehlen: Sie versuchen, die großen Fragen der Welt zu entscheiden ohne danach zu fragen, was ein bestimmter Gedanke für den einzelnen Menschen oder für sie selbst bedeutet. Am Ende beschäftigen sie sich nur noch mit den Problemen der Welt, aber nicht mehr mit denen von einzelnen Menschen. Sie würden es aber auch als „subjektiv“ empfinden, sich mit den Problemen von Menschen zu befassen, weil ein Mensch ein Subjekt ist – und ein Subjekt ist in ihren Augen etwas Schmutziges, das die schöne Objektivität verunreinigt.

Man hält solche Leute für verrückt, die sich selbst für Napoleon halten; aber es gibt verschiedene Arten von Verrückten, also von Leuten, deren Wahrnehmungsfokus von der eigenen Person abgeglitten und auf einen anderen Menschen oder auf eine abstrakte Idee hin „verrückt“ ist. Warum thematisiert Eckhart Tolle nur eine Sorte von Verrücken, jene, die in der Vergangenheit und/oder Zukunft leben und den Stand in der Gegenwart verloren haben?

3. Warum will Tolle Vergangenheit und Zukunft ganz ausschließen?

Wenn man rein von der Problembestimmung ausgeht – die Menschen konzentrieren sich zu viel auf die Vergangenheit und auf die Zukunft und zu wenig auf die Gegenwart – dann müsste man eigentlich die Lösung darin suchen, dass die Gegenwart neben der Vergangenheit und der Zukunft ausreichend Berücksichtigung findet. Anstatt dessen rät uns Tolle, die Vergangenheit und die Zukunft aufzugeben und anstatt dessen in einen fortwährenden Gegenwart zu leben. Das ist jedenfalls nicht naheliegend. Argumente dafür, wie er zu diesem Lösungsvorschlag kommt, enthält er uns vor. Ohne sie ist sein Lösungsvorschlag aber nicht verständlich, denn wenn jemand bemerkt: „Ich schenke dem gegenwärtigen Augenblick zu wenig Beachtung.“ – dann müsste die logische Reaktion darauf sein: „Nun, dann werde ich ihm ab jetzt mehr Beachtung schenken!“ – aber nicht: „Ich werde von nun an der Vergangenheit und der Zukunft jegliche Beachtung vorenthalten!“

4. Zurückrudern (in Bezug auf die Zeit)

Tolles Ratschlag, vollkommen in der Gegenwart zu leben, ist natürlich Unsinn. Wenn wir das täten, könnten wir nicht einmal einen Satz verstehen oder eine Melodie wahrnehmen, weil ein Satz Zeit braucht, um formuliert zu werden, und eine Melodie Zeit braucht, um gehört und in ihrer Ganzheit wahrgenommen zu werden. Würden wir vollkommen im Jetzt leben, würden wir die Wirklichkeit durch einen Briefschlitz sehen, der unendlich schmal ist, denn wie breit ist die Gegenwart überhaupt – eine Sekunde oder eine tausendstel Sekunde?
Weil das, was Tolle vorschlägt, eigentlich nicht geht, ist er gezwungen, zwischen zw

i Arten von Zeit – „Uhr-Zeit“ und „psychologischer Zeit“ zu unterscheiden, um uns dann zu raten, in der Uhr-Zeit Vergangenheit und Zukunft zu berücksichtigen, sie in der psychologischen Zeit aber aufs Entschiedenste zu bekämpfen.

„Lerne es, Zeit für alle praktischen Aspekte deines Lebens zu nutzen – lass uns das „Uhr-Zeit“ nennen -, kehre aber sofort zum Bewusstsein des gegenwärtigen Moments zurück, wenn du diese praktischen Dinge abgeschlossen hast. So wird sich keine „psychologische Zeit“ aufbauen, die aus Identifikationen mit der Vergangenheit und ununterbrochener zwanghafter Projektion in die Zukunft besteht.
Uhr-Zeit hat nicht nur damit zu tun, Termine zu machen oder eine Reise zu planen. Sie beinhaltet auch, aus der Vergangenheit zu lernen, damit wir nicht immer dieselben Fehler wiederholen. Ziele setzen und darauf hinarbeiten. Die Zukunft vorbestimmen mit Hilfe von physischen, mathematischen und anderen Strukturen und Gesetzmäßigkeiten, die wir anhand der Vergangenheit gelernt haben. Und aufgrund dieser Vergangenheit angemessen handeln.“

(S. 67-68)


Die Frage ist nur wiederum: Wozu der Aufwand? Wozu der Umweg über die Unterscheidung zwischen „Uhr-Zeit“ und „psychologischer Zeit“? Wäre es nicht realitätsgerechter zu sagen, dass wir eben in der Zeit – in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – leben und einen jeden dieser drei Aspekte zu seinem Recht kommen lassen sollten?

 

5. Beobachten, wovon Tolle redet, und was er nicht thematisiert - um zu verstehen, wovon er insgesamt redet

Mir scheint, es gibt nur einen Weg, um Tolle zu verstehen. Nicht den über Worte und Argumente, denn auf genaue, nachvollziehbare Argumentationen lässt er sich nicht ein. Der einzige Weg ist zu beachten, worüber er redet und worüber er nicht redet, worüber er schweigt. Wenn Tolle also sagt: Die Fokussierung auf die Gegenwart halte einen nicht davon ab, sich Ziele zu setzen und diese zu erreichen – gut, dann nehmen wir das fürs Erste mal hin. Aber dann schauen wir auch: Redet er von Zielen; zeigt er, wie man diese erreicht? Nein, das tut er eigentlich nicht. Im Gegenteil, er scheint alle denkbaren Ziele für uninteressant zu halten.

„Sorge dich nicht um die Früchte deiner Handlungen – gib einfach der Handlung selber Beachtung. Die Früchte werden von alleine kommen. Das ist eine kraftvolle spirituelle Übung.“

S. 79)

„Viele Menschen warten zum Beispiel auf Wohlstand. Er kann nicht in der Zukunft kommen. Wenn du deine gegenwärtige Realität würdigst, anerkennst und völlig akzeptierst – wo du bist, wer du bist, was du gerade tust -, wenn du vollkommen annimmst, was du hast, dann bist du dankbar für das, was du hast, dankbar für das, was ist, dankbar für das Sein. Dankbarkeit für den gegenwärtigen Moment und die Fülle des Leben in diesem Moment ist wahrer Wohlstand, und der trifft nicht in der Zukunft ein.“

(S. 98)

„Macht es einen Unterschied, o wir unser äußeres Ziel erreichen, ob wir in der Welt erfolgreich sind oder ob wir versagen?
Es wird dir so lange etwas ausmachen, wie du dein inneres Ziel nicht erkannt hast. Danach ist das äußere Ziel nur noch ein Spiel, das du einfach weiterspielst, weil es dir Spaß macht. Es ist auch möglich, dass du ein äußeres Ziel nie erreichst, aber zur gleichen Zeit mit deinem inneren Ziel total erfolgreich bist.“

(S. 100)

„Viele Menschen erkennen nie, dass sie mit all ihrem Tun, Haben oder Streben niemals die „Erlösung“ finden werden. Diejenigen, die das erkennen, werden oft lebensmüde und depressiv. Wenn dir nichts die wahre Erfüllung geben kann, wonach lohnt es sich dann noch zu streben?“

(S. 194-5)



Was ich damit sagen will: Wenn man Tolle liest, erscheint es an manchen Stellen so, als würde er sagen: „Konzentriere dich auf die Gegenwart, dann geht alles besser!“ Nur, was dieses „alles“ ist, das erfährt man dann nicht, weil er nämlich nicht davon redet. Es scheint ihn nicht zu interessieren. Anstatt dessen findet man zahlreiche Stellen, die zum Ausdruck bringen, dass ohnehin alles egal ist, was man im Leben erreicht oder wo man versagt, weil das alles ja nur sekundäre Glücksquellen seien, die einen nicht dauerhaft glücklich machen können. Wenn man dauerhaftes Glück und Freude aber nur in einem selber finden kann, dann folgt daraus ganz klar, dass man sich nicht mehr dafür interessieren wird, wie etwas funktioniert oder wie man etwas macht, damit es gelingt. Im Extremfall wird man sich nicht einmal mehr dafür interessieren, ob wie man die Schnürsenkel seiner Schuhe zumacht oder ob man mit offenem Hosenstall herumläuft, denn es zählt ja nur, dass man innerlich die richtige Haltung einnimmt. Tolle mag auch hier „zurückrudern“, wie er will – ich glaube, man kann aus dem, worüber er spricht, und vor allem aus dem, worüber er nicht spricht, herauslesen, wofür er sich interessiert und wofür er sich nicht interessiert.

Dafür, wie man irgendetwas macht oder was man tut, damit man irgendwelche Ziele erreichen kann, interessiert er sich nicht; dafür, wie man seine Einstellung ändert, damit es einem besser geht, auch wenn man seine Ziele nicht erreicht oder vielleicht um einen Vorwand zu haben, sich gar nicht erst überlegen zu müssen, wie man sie erreichen könnte, dafür interessiert er sich.

6. Eine geeignete Lebenshaltung für Hilfsbuchhalter?

Mit seiner Abneigung gegen das Handeln und seiner Vorliebe dafür, alle Probleme durch eine Änderung der inneren Einstellung zu sich selbst zu lösen, erinnert mich Tolle an Fernando Pessoa, der in seinem Buch der Unruhe schon lange vor Tolle vorgeführt hat, wie sich eine übertriebene Konzentration auf die Gegenwart auf die Lebenspraxis ausübt. Denn schließlich scheint Tolles Philosophie eine für Hilfsbuchhalter, die niemals Hauptbuchhalter werden noch sonst irgendetwas in ihrem Leben erreichen wollen, zu sein.

Schmerzhaftes Intervall

Die Straße ermüdet mich allmählich, aber nein, sie ermüdet mich nicht – alles im Leben ist Straße. Eine Taverne mir gegenüber, ich sehe sie, wenn ich über die rechte Schulter schaue; und auch ein Stapel Kisten, ich sehe ihn, wenn ich über die linke Schulter schaue; […] Die Straße mich ermüden? Nur denken ermüdet mich. Wenn ich auf die Straße schaue oder sie fühle, denke ich nicht: ich arbeite mit einer großen inneren Ruhe, der letzte in dieser Gegend, ein buchführender Niemand. Ich habe keine Seele, niemand hat eine Seele – alles ist Arbeit in diesem großen Haus. […] Ich glaube, ich werde immer Hilfsbuchhalter in einem Stoffgeschäft bleiben. Ich habe den aufrichtigen, brennenden Wunsch, niemals Hauptbuchhalter zu werden.

Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Fischer, Zürich 2003. S. 360-361.


Um das vorwegzunehmen: Wenn man Das Buch der Unruhe liest, bekommt man den Eindruck, dass eine übertriebene Konzentration auf die Gegenwart sich so auf das Leben auswirkt, dass eine jede augenblickliche Laune thematisiert wird. Sie wird in den Mittelpunkt gestellt und angestaunt, während sie gleichzeitig bedeutungslos wird, weil sie zu nichts in Vergangenheit oder Zukunft in einem Zusammenhang steht. Ein jedes Gefühl wird zu etwas, das einen narrt oder missbraucht, weil es kommt, einen überfällt, und einen dann wieder verlässt, einen alleine zurücklässt. Das Leben spaltet sich auf in einzelne Momente, in einzelne Wahrnehmungen, es zerfleddert. Mit vergangen Wahrnehmungen kann man nichts mehr anfangen, weil man ja, da man sich immer nur auf die Gegenwart konzentriert, in der Zwischenzeit ein anderer geworden ist.

Wer mit Tolles Ideen kokettiert, sollte Pessoas Buch der Unruhe unbedingt lesen; aber wie mir scheint hat auch Marcel Proust in seinem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ein ähnliches Thema literarisch erforscht: Während es sich bei Pessoas Hilfsbuchhalter um einen Mann handelt, der aus materieller Armut wenig Handlungsmöglichkeiten hat, findet sich in Prousts Hauptwerk ein Mensch, der auf Grund von Reichtum nichts zu tun hat und der sein Leben damit verbringt, minutiöse Beobachtungen durchzuführen.

 

7. Tiere als Vorbilder für ein gutes Leben?

„Schau dir irgendeine Pflanze an, irgendein Tier und lass dir von ihnen beibringen, wie du das, was ist, annehmen kannst, wie du dich dem Jetzt hingeben kannst. Lass dir das Sein beibringen. Lass dir Integrität beibringen – das heißt eins zu sein, du selbst zu sein, echt zu sein. Lass dir das Leben und das Sterben beibringen und wie du leben und sterben kannst, ohne ein Problem daraus zu machen.

Ich habe mit mehreren Zenmeistern gelebt – alles Katzen. Selbst Enten haben mich wichtige spirituelle Lehren gelehrt. Ihnen nur zuzusehen ist eine Meditation. Wie friedlich sie entlangtreiben, mit sich eins, völlig im Jetzt gegenwärtig, würdevoll und vollkommen, wie es nur ein Wesen ohne Verstand sein kann.“

(S. 197)

Als ich das gelesen hatte, fiel mir folgende Stelle von Fernando Savater wieder ein:

„Du willst dir ein schönes Leben machen – wunderbar. Aber Du willst auch, daß dieses schöne Leben nicht das eines Blumenkohls oder eines Käfers ist, bei allem Respekt für beide Arten, sondern ein schönes menschliches Leben. Das ist, was Dir entspricht, glaube ich. Und ich bin sicher, daß Du darauf für nichts auf der Welt verzichten würdest.“

Fernando Savater: Tu was du willst. Ethik für die Erwachsenen von morgen. Campus, Frankfurt/Main 1993. S. 63

Sich Enten in manchen Situationen zum Vorbild nehmen – na gut, warum nicht? Aber will Tolle, dass wir das Leben von Enten und nicht das von Menschen leben? Will er, dass wir so leben, als hätten wir keinen Verstand?

8. Schlägt uns Tolle das Leben oder den Tod als Lösung vor?

Er behauptet, er schlage uns das Leben vor, nämlich das wirkliche Leben, das sich unterhalb all der oberflächlichen Erscheinungen verberge, das Leben im Sein, das eines sei für alle lebendigen Wesen wie für alle leblosen Körper. Aber ich habe da meine Zweifel, denn eine solche Erlösungsgeschichte wie die von Tolle ist in der Philosophiegeschichte von Arthur Schopenhauer bekannt, der die indischen Upanischaden und Veden schätzte. Aber bei Schopenhauer, im zweiten Teil der Welt als Wille und Vorstellung, ist es so, dass die gesamte Realität (auch die leblose) vom Willen beherrscht wird, vom Willen zum Leben – und dieser Wille erzeugt unendliche Qualen. Aber die Lebewesen durchschauen das nicht, weil sie im Schleier der Maja, im Prinzip der Individuation gefangen sind. Also sie halten sich für einzelne Wesen, von denen jedes sein eigenes Leben hat, und begreifen nicht, dass das Leben in dem einen, gemeinsamen, alles durchdringenden Willen besteht. Bei Schopenhauer ist nun aber schon klar, dass der einzige Ausweg aus diesem Leiden darin besteht, den Willen zu verneinen – und also das Leben zu verneinen. Ich erinnere mich an ein spanisches Sprichwort, das Schopenhauer zustimmend zitiert: Es ist besser zu sitzen als zu stehen, es ist besser zu liegen als zu sitzen, es ist besser tot zu sein als zu liegen.

Tolle nennt diesen Zustand vor dem Principium individuationis, also vor der „Zerstückelung“ der einen Lebensenergie in viele lebendige Wesen das „Unmanifeste. Das Unmanifeste ist formlos und unbeweglich/unveränderlich, denn es befindet sich in der Sphäre des Seins. Man erlebt es im Tiefschlaf, im traumlosen Schlaf, wenn das Ich aussetzt und im Moment des Todes als „leuchtende Pracht des farblosen Lichtes der Leere“ (S. 151).

„Zugang zum Bereich des Formlosen ist die wahre Befreiung von der Knechtschaft an die Form und von der Identifikation mit der Form. Es ist Leben in seinem undifferenzierten Zustand, vor seiner Zerstückelung in Vielfältigkeit. Wir können es das Unmanifeste nennen, die unsichtbare Quelle aller Dinge, das Sein in allen Wesen. Es ist ein Bereich von tiefer Stille und Frieden, aber auch von Freude und äußerster Lebendigkeit“

(S. 140)

Das Unmanifeste als „Bereich der Lebendigkeit“ zu bezeichnen, erscheint mir verkehrt herum; es scheint eher der Bereich, wo alles tot ist, zu sein. Vor der Zerstückelung in Vielfältigkeit kann es kein Leben geben, weil das Leben ja in der Zerstückelung in einzelne lebendige Wesen besteht. Wenn man zum Zustand vor der Zerstückelung zurück will, muss man das Leben verneinen, da ist Schopenhauer konsequenter als Tolle

 

9. Tolle verdreht Begriffe der Alltagssprache: Probleme

Weil Tolle eine Sicht der Realität vertritt, die ziemlich verkehrt ist, muss er auch einige Begriffe zurechtbiegen, damit sie in dasselbe passen. So z.B. den Begriff des Problems:

„Warum aus irgendetwas ein Problem machen? […] Auf unbewusster Ebene liebt der Verstand Probleme, weil sie dir eine Art von Identität geben. Das ist normal und doch ist es verrückt. „Problem“ bedeutet, dass du im Kopf mit einer Situation beschäftigt bist, ohne die ehrliche Absicht oder Möglichkeit, jetzt zu handeln. Unbewusst machst du daraus ein Stück deiner Selbstwahrnehmung. […] Wenn du ein Problem erschaffst, erschaffst du Schmerz.“

(S. 75-76)


Nein, ein „Problem“ besteht nicht darin, dass man im Kopf mit einer Situation beschäftigt ist, ohne die Absicht oder Möglichkeit zu haben, jetzt zu handeln. So verwenden wir das Wort „Problem“ nicht. Erstens handelt man bereits, wenn man sich mit einem Problem beschäftigt. Dann beschäftigt man sich mit einem Problem, um es zu lösen – und es gibt zwei Arten, wie sich Problem lösen lassen können: Entweder man kann das Problem selbst lösen oder man kann, wenn sich das Problem nicht lösen lässt eine andere Einstellung zu ihm finden. Freilich gibt es auch Probleme, die sich weder lösen lassen noch durch eine andere Einstellung zu ihnen zum Verschwinden bringen lassen. Diese unlösbaren Probleme scheinen Tolles Definition von einem Problem am besten zu entsprechen. Aber ich glaube nicht, dass wir solche Probleme als „Problem“ auffassen. Denn ein Problem ist grundsätzlich etwas, das sich lösen lässt. Andernfalls ist es ein Unglück oder ein Missstand, aber es ist kein Problem. Schließlich ist ein Problem auch nichts Schmerzhaftes, sondern es ist prinzipiell zuerst einmal etwas Interessantes. Ein Problem ist etwas, das sich verstehen lässt, wo man lustvoll dahinterkommen kann, wie es sich lösen lässt.

 

10. Tolle verdreht Begriffe der Alltagssprache: Denken

Wir haben gesehen, dass für Tolle Probleme unlösbare Probleme sind. Dieses Verständnis entspricht nicht unserem alltagssprachlichen Verständnis von „Problem“. Wenn ich sage: „Ich habe ein Problem.“ – wird man nicht so reagieren, dass man sagt: „Gib’s auf! Denn Probleme sind etwas, das sich nicht lösen lässt!“ Sondern man wird sagen: „Schauen wir es an! Mal sehen, ob wir dahinterkommen, wie es sich lösen lässt!“

Aber Probleme müssen für Tolle offenbar unlösbar sein, damit er ihnen die Rolle des Bösen zuschieben kann. Ähnlich verhält es sich mit dem Denken: Damit er dem Denken ein schlechtes Image geben kann, macht er aus ihm das zwanghafte Denken:

„Identifikation mit deinem Verstand. Dadurch werden Gedanken zwanghaft. Die Unfähigkeit, das Denken anzuhalten, ist eine schlimme Krankheit, aber wir sehen das nicht so, wir halten es für normal, weil fast jeder darunter leidet. Der unaufhörliche geistige Lärm hindert dich daran, den Raum innerer Stille zu finden, der vom Sein untrennbar ist. […]

Der Philosoph Descartes glaubte, er habe die fundamentale Wahrheit gefunden, als er seine berühmte Aussage machte: „Ich denke, also bin ich.“ In Wirklichkeit hat er damit den grundlegendsten Irrtum ausgedrückt, nämlich den, Denken mit Sein und Identität mit Denken gleichzusetzen. Der zwanghaft Denkende, also fast jeder, lebt in einem Zustand von scheinbarer Getrenntheit, in einer krankhaft komplexen Welt ständiger Probleme und Konflikte, die ein Spiegel für die wachsende Zerstückelung des Verstandes ist. Erleuchtung ist ein Zustand von Einheit und somit von Frieden.“

(S. 26-27)

 

Aber Denken ist nicht zwanghaftes Denken, sondern selbstbestimmtes Denken; und die Selbstbestimmtheit des Denkens schließt mit ein, dass ich es unterbrechen kann und trotzdem nicht aufhöre zu denken: Wenn ich also ganz aufmerksam bin und dabei keinen Gedanken zulasse, wenn ich nur beobachte oder in die Stille lausche, dann denke ich. Es ist nicht so, dass ich nicht denken würde, nur weil ich gerade keinen Gedanken denke. Wenn ich bewusst bin, dann denke ich. Nicht denken tue ich nur dann, wenn ich gedankenlos bin im Sinne von bewusstlos.

Tolle schreibt die Adjektive „bewusst“ und „bewusstlos“ falsch zu: Das Denken nennt er bewusstslos und die gedankenlose Aufmerksamkeit nennt er bewusst. Aber damit verfehlt er das, was Descartes gemeint hat. Descartes hat keine Identifikation mit dem Denken gemeint, sondern er hat gemeint: „Wenn ich aufmerksam bin, dann bin ich.“ Das ist ja etwas, das mir auffällt: dass ich aufmerksam bin. Es ist ein Urteil und also ein Gedanke.

Dass man sich hingegen mit dem Denken nicht identifizieren soll, erscheint mir klar: Das Denken ist nur ein Werkzeug, um zu bekommen, was wir wollen. Es kann uns nicht sagen, was wir wollen sollen. Es kann oft nicht einmal erraten, was wir wollen. Wie müssen immer in uns hineinlauschen, was wir jetzt wollen – denn daraus offenbart sich uns, was wir sind.

11. Problemlösung in der Gegenwart durch Wirklichkeitsverweigerung

Folgender Lösungsansatz ist offensichtlicher Blödsinn:

„Wenn du dein Hier und Jetzt unerträglich findest und es dich unglücklich macht, dann gibt es drei Möglichkeiten: Verlasse die Situation, verändere sie oder akzeptiere sie ganz. Wenn du Verantwortung für dein Leben übernehmen willst, dann musst du eine dieser drei Möglichkeiten wählen, und du musst die Wahl jetzt treffen. Dann akzeptiere die Konsequenzen. Keine Ausreden. Keine Negativität. Keine psychische Verschmutzung. Halte deinen inneren Raum sauber.“

(S. 94)


Stellen Sie sich vor, ein Elefant steht auf Ihrem Fuß: Dann können Sie weder weggehen (denn der Elefant steht auf ihrem Fuß), noch die Situation ändern (denn so ein Elefant ist ein Dickhäuter), noch sie akzeptieren (denn Ihr Fuß schmerzt und der Elefant verletzt Ihren Fuß).

Leider sind die meisten Situationen im Leben vergleichbar mit so einem Elefanten, der einem auf dem Fuß steht: Die Gegenwart ist unangenehm, und man kann nicht aus ihr weg.

Freilich kann es sein, dass man sich über seine Fähigkeit, die Situation zu verlassen, täuscht. Vielleicht täuscht man sich über die Kosten einer Veränderung, fürchtet eine Strafe für seine Flucht oder schätzt die Lage so ein, dass man anderswo keine Zuflucht finden wird, während in Wirklichkeit das Schicksal den Entschlossenen belohnen würde.

Aber zu sagen: „Wähle einer dieser drei Möglichkeiten und übernimm Verantwortung!“ – ist ein Sich-lustig-Machen über die Leute, denen es nicht gut geht. Mir ist schon klar, dass die Strategie des Buches darin besteht zu sagen: „Probleme gibt es gar nicht, die sind alle nur eingebildet!“ Aber dadurch, dass man sich das Leben leicht macht, wird es nicht unbedingt leicht, wenn ein Elefant einem auf dem Fuß steht. Wenn einem etwas wehtut oder man unglücklich ist, dann vergeht der Schmerz nicht einfach dadurch, dass man die Situation akzeptiert. Dieser Vorschlag der Wirklichkeitsverweigerung hat etwas Heroisches an sich, wo man geneigt ist zu denken: Der Tolle muss schon tolle sein, wenn er so etwas kann!

Arthur Schopenhauer habe ich schon erwähnt. Er hat lange vor Eckhart Tolle über das Thema Leben im Jetzt geschrieben und, wie ich meine, Ausgewogeneres dazu gesagt: Seiner Meinung nach geht es nicht darum, Vergangenheit und Zukunft zugunsten der Gegenwart aufzugeben, sondern seine Zielvorstellung ist, dass man eine gute Balance zwischen den dreien hält. Auch meint er nicht, dass man alle Schmerzen wegmeditieren kann, sondern dass man diejenigen Momente bewusst genießen sollte, die ohne Schmerzen sind. Darin aber, dass sich unser reales Daseyn nur in der Gegenwart abspielt, ist er mit Tolle einig:

„Ein wichtiger Punkt der Lebensweisheit besteht in dem richtigen Verhältniß, in welchem wir unsere Aufmerksamkeit theils der Gegenwart, theils der Zukunft widmen, damit nicht die eine uns die andere verderbe. Viele leben zu sehr in der Gegenwart: die Leichtsinnigen; - Andere zu sehr in der Zukunft: die Ängstlichen und Besorglichen. Selten wird Einer genau das rechte Maaß halten. Die, welche, mittelst Streben und Hoffen, nur in der Zukunft leben, immer vorwärts sehn und mit Ungeduld den kommenden Dingen entgegeneilen, als welche allererst das wahre Glück bringen sollen, inzwischen aber die Gegenwart unbeachtet und ungenossen vorbeiziehen lassen, sind, trotz ihrer altklugen Mienen, jenen Eseln in Italien zu vergleichen, deren Schritt dadurch beschleunigt wird, daß an einem, ihrem Kopf angehefteten Stock ein Bündel Heu hängt, welches sie daher stets dicht vor sich sehn und zu erreichen hoffen. Denn sie betrügen sich selbst um ihr ganzes Daseyn, indem sie stets nur ad interim [vorläufig] leben, - bis sie todt sind. – Statt also mit den Plänen und Sorgen für die Zukunft ausschließlich und immerdar beschäftigt zu seyn, oder aber uns der Sehnsucht nach der Vergangenheit hinzugeben, sollten wir nie vergessen, daß die Gegenwart allein real und allein gewiß ist; hingegen die Zukunft fast immer anders ausfällt, als wir sie denken; ja, auch die Vergangenheit anders war; und zwar so, daß es mit Beiden, im Ganzen, weniger auf sich hat, als es uns scheint. Denn die Ferne, welche dem Auge die Gegenstände verkleinert, vergrößert sie dem Gedanken. Die Gegenwart allein ist wahr und wirklich: sie ist die real erfüllte Zeit, und ausschließlich in ihr liegt unser Daseyn. Daher sollten wir sie stets einer heitern Aufnahme würdigen, folglich jede erträgliche und von unmittelbaren Widerwärtigkeiten, oder Schmerzen, freie Stunde mit Bewußtseyn als solche genießen, d.h. sie nicht trüben durch verdrießliche Gesichter über verfehlte Hoffnungen in der Vergangenheit, oder Besorgnisse über die Zukunft.“

Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena I. Zweiter Teilband Aphorismen zur Lebensweisheit. Diogenes, Zürich 1977. S. 452-453

 

12. Warum hat Tolle Erfolg bei den Leuten?

Es ist ja nun nicht so, dass ich von Tolle irgendetwas lernen könnte, also etwas erfahren könnte, das mich persönlich weiterbringt. Der einzige Grund, warum ich es interessant finde, mich mit seinen Ideen zu beschäftigen, ist die Frage: Warum fahren so viele Leute darauf ab? Er ist ein Bestsellerautor, er füllt Hallen, wenn er spricht? Was finden die Leute an ihm?

Die erste Teilfrage ist schon einmal: Was verspricht er denn überhaupt? Wenn er Reichtum verspräche, Gesundheit oder eine glückliche Partnerschaft mit seinem Sexualpartner, dann wäre mir klar, warum das viele Leute interessiert? Alle wollen schließlich solche Ziele erreichen. Aber von der Sorte verspricht er ja nichts. Im Gegenteil – ich habe es mit dem Hilfsbuchhaltervergleich schon angedeutet: Im Grunde verspricht er nur, einem zu zeigen, wie man es sich bequem macht, wenn man im Dreck sitzt. Nicht aber, wie man aus dem Dreck herauskommt, denn das ist ein äußerliches Ziel – und Tolle glaubt, dass alle Lösung im Inneren des Menschen zu finden ist.

„Die alten Muster aus Gedanken, Emotionen, Verhalten, Reaktionen und Wünschen werden immer wieder aufgeführt, aufgewärmt, einem Drehbuch in deinem Kopf entsprechend, das dir eine Art Identität gibt, das aber die Realität des Jetzt verdreht und verdeckt […]

Du kannst zehn Millionen Dollar gewinnen, aber diese Art von Veränderung ist nur oberflächlich. Du würdest einfach weiter die gleichen Muster in einer luxuriöseren Umgebung ausleben.“

(S. 70-71)

Das bedeutet sozusagen: Der Dreck ist allein in deinem Kopf, in deinem Kopf sitzt du im Dreck, und wenn sich deine Situation äußerlich zum Besseren verändert, dann sitzt du in luxuriöseren Umständen im Dreck, aber du sitzt immer noch im Dreck! Lass also das Bestreben, irgendetwas in deinem Leben zu verbessern, fahren, bleib sitzen im Dreck und meditiere dich anstatt dessen frei!

Was ist daran attraktiv? Den einzigen Umstand, den ich daran finden kann, von dem ich denke, dass er den Leuten vielleicht gefällt, ist, dass Tolle eine Lösung ein für alle Mal verspricht. Folge mir nach, und du wirst immer entspannt sein! Du wirst nicht immer weitere Ziele haben, sondern ein für alle Mal angekommen sein im Leben!
Ja, schon, aber glauben die Leute wirklich, dass das Leben so ist. Tolle spricht öfters davon, dass man die Blümlein am Wegesrand nicht mehr sieht, wenn man immer schon angekommen sein will. Aber genau dasselbe schlägt er selber vor, wenn er rät, im eigenen Leben in der Gegenwart das endgültige Ziel zu finden.

Damit wir uns nicht missverstehen: Jeder Mensch schätzt den Flow, von dem Mihály Csíkszentmihályi gesprochen hat, also das „als beglückend erlebte Gefühl eines mentalen Zustandes völliger Vertiefung (Konzentration) und restlosen Aufgehens in einer Tätigkeit („Absorption“), die wie von selbst vor sich geht“ (wikipedia.de) – aber das ist nicht dasselbe wie die Reduktion auf die Gegenwart, die Tolle vorschlägt. Wenn man etwas tut, das einen in einen Flow-Zustand kommen lässt, dann arbeitet man in Wirklichkeit an seiner Zukunft, man arbeitet an der Erweiterung seiner gegenwärtigen Möglichkeiten; man tut etwas, das man deshalb als so interessant empfindet, weil man spürt, dass es einen weiterbringt, das es einen ein wenig vollkommener macht.

Bei Tolle begreife ich nicht, was die Leute daran finden. Was sind das für Menschen, die ihn schätzen? Sind das vielleicht Menschen, die in der Vergangenheit etwas sehr Negatives erlebt haben und sich bemühen, es zu vergessen? Oder sind es Menschen, die dem Handeln so abgeneigt sind wie Pessoas Hilfsbuchhalter und die in Tolles Büchern eine Rechtfertigung dafür finden, warum sie in der Untätigkeit verharren? Wer es weiß oder zu wissen glaubt – ich bitte um sachdienliche Hinweise!

Einen Verdacht habe ich immerhin: Könnte es sein, dass Tolles Erfolg auf dem Buchmarkt meinen Misserfolg spiegelt? Denn ich habe ja auch einige Bücher geschrieben, über Ethik, Wissenschaftstheorie, Erkenntnistheorie und Interkulturelle Kommunikation, und diese haben alle im Wesentlichen ein gemeinsames Anliegen: Man möge uns doch nicht so viele Vorschriften machen! Und ihnen allen liegt eine gemeinsame Grunderfahrung zugrunde: Nämlich die, dass ich mich mit einem eigenen Denken eigentlich ganz wohl fühle, wenn nicht fortwährend Andere mich bedrängen, mich bedrohen und mir die Vernunft absprechen, indem sie sagen: „Das darf man so nicht sehen!“ und „Wer das nicht gelesen hat, darf darüber nicht reden!“ etc. Kurz, ich hielt meine philosophische Befreiungsarbeit auch für andere Menschen für wertvoll, weil sie für mich selbst einen Wert darstellt. Aber vielleicht teilen die meisten Menschen mein Bedürfnis, denken zu dürfen, was sie wollen, gar nicht, weil sie sich mit ihrem Denken nicht wohlfühlen? Vielleicht erleben Sie ihre Gedanken als so unangenehm und belastend, dass sie nichts lieber täten, als es sofort gänzlich aufzugeben? Mir ist einsichtig, dass in dem Fall meine Botschaften für sie keinerlei Attraktivität oder Nutzen besitzen. Wenn ich etwa sage: „Warum will man die Ethik immer in moralischen Vorschriften sehen, es gibt doch viel fruchtbarere Möglichkeiten über das eigene Handeln nachzudenken!“ – dann wird sie das nicht begeistern, denn sie wollen ja nicht nachdenken. Solchen Menschen könnte man ohne Ende moralische, wissenschaftstheoretische und andere Vorschriften machen, die die eigene Denk- und Handlungsfreiheit einschränken, sie würden es nicht bemerken, weil sie ohnehin mit ihrem Gehirn auf Kriegsfuß stehen und alles, was dessen Tätigkeit einschränkt, willkommen heißen. Weil ich das aus eigener Erfahrung nicht kenne, kann ich es mir eigentlich nicht vorstellen, dass es Menschen gibt, die sich mit ihrem Kopf derart unwohl fühlen; aber wahrscheinlich können sie sich auch nicht vorstellen, dass ich mich entspanne und gut unterhalte, wenn mir die Anderen mit ihren Drohungen und Vorschriften gerade mal nicht „auf den Kopf schlagen“ und ich in Ruhe und Frieden denken kann, was ich will?

Ist es das, gibt es wirklich so viele Menschen, die an ihren Gedanken leiden? Das würde gleichermaßen erklären, warum Eckhart Tolles Bücher so erfolgreich sind und meine so erfolglos. Denn Tolle verspricht den Menschen das Denken auszuschalten, was ihrem Grundbedürfnis entspricht, weil sie am Denken leiden. Dagegen teilen sie mein Anliegen nicht, das eigene Denken von allerlei Vorschriften zu befreien, weil sie auch das dahinter stehende Grundbedürfnis nicht kennen: dass ich mein Denken genieße und grantig werde, wenn mir jemand meinen Genuss verdirbt. Ich kann mir jetzt besser vorstellen, dass (fast) niemand mit mir den Wunsch teilt, das eigene Geistesleben zu entfalten, wenn es wahr ist, dass es sehr viele Menschen gibt, die ihr Geistesleben ersticken wollen.

Mit dem Begriff der „Kopflastigkeit“ scheinen viele Menschen ihren Unglauben daran auszudrücken, dass das Nachdenken unterhaltsam sein kann. Als Gegenpol stellen sie den Körper hin und das reine Fühlen. Letzten Endes habe ich den Eindruck, dass es in Tolles Buch Jetzt! Die Kraft der Gegenwart. nicht in erster Linie um das Leben im Jetzt geht, sondern um Körperkult und Kopffeindlichkeit. Wir leben ja in einer Epoche, in der dem Körper eindeutig der Vorzug vor dem Kopf gegeben wird. Insofern wäre Tolles spirituelle Lehre nichts anderes als ein Teil unserer Kultur der gesunden Ernährung, der Fitness, der Mode und der Schönheitsoperationen. Intelligente Menschen werden von unserer Gesellschaft zwar auch gewürdigt, aber das scheint eher einen instrumentellen Aspekt zu haben: Weil sie Dinge erfinden, die uns das Leben erleichtern; nicht deswegen, weil sie interessante Gedanken finden, die unseren Horizont erweitern, indem wir sie geistig nacherleben.

Ich selbst erlebe Tolles Buch wie die Einladung in ein dunkles, enges Besenkammerl, was völlig unattraktiv ist. Alles, was Licht, Luft und Abenteuer in dieses Besenkammerl bringt – das Denken – gegen das hegt er Feindschaft. Umso frappierender ist es, dass viele Menschen sein Angebot attraktiv finden – und dass sie ihn als „spirituellen Lehrer“ verehren. Wie kann man denn ein spiritueller Lehrer sein, wenn man den „spiritus“, also den Verstand als eine „schlimme Krankheit“ (S. 26) ansieht?

© helmut hofbauer 2018