Lust
als Voraussetzung für Philosophie
Wie
Epikur und der hellenistische Individualismus das Selberdenken
ermöglichten
2.2.2019
In
Malte Hossenfelders Buch Epikur
(C.H. Beck, München 1991, 3. Aufl. 2006 (1991)) habe
ich ein Motiv wiedergefunden, das auch mich schon umtreibt,
solange ich philosophiere. Es geht dabei um die Bedingungen
der Möglichkeit dafür, dass man als einzelner
Mensch überhaupt selbstständig über etwas
nachdenken kann und darum, wie diese Bedingungen von anderen
Menschen– und auch von berühmten Philosophen
– immer wieder diskreditiert und schlecht gemacht
werden.
Ich
möchte das Problem vorab kurz in eigenen Worten formulieren,
damit man gleich weiß, worum es geht, bevor ich auf
einige Details eingehe.
Epikur
hat die Lust zum Zentrum seiner Philosophie gemacht hat,
damit hat er dem einzelnen Menschen einen Orientierungspunkt
gegeben, den er selbst in der Hand hat. Denn wie etwas in
Wirklichkeit genau ist, das wissen wir nicht; aber ob es
uns Spaß oder Verdruss macht, empfinden wir unmittelbar.
Lust
und Schmerz als Orientierungshilfe für das eigene Handeln
haben den Vorteil, dass sie Bullshit-resistent sind. Denn
wenn uns etwas Spaß macht oder Genuss bereitet, brauchen
wir keinen weiteren Grund, um es zu tun. Anders verhält
es sich bei Dingen wie Gesundheit oder Nützlichkeit:
Hier kann man uns leicht etwas einreden, und die guten Ratschläge
haben gewöhnlich die Form „Das ist zwar nicht
angenehm, aber es ist gesund!“; „Das macht zwar
keinen Spaß, aber es ist nützlich!“ Die
Tatsache, dass wir keinen unmittelbaren emotionalen Zugang
zu dem haben, was gesund oder nützlich für uns
ist, macht es möglich, dass uns allerhand Bullshit
eingeredet wird.
Die
Orientierung an Lust und Schmerz ermöglicht es dem
einzelnen Menschen also, sich an ihm selbst, an seinem individuell
eigenen Bezugssystem zu orientieren. Zu einem Menschen,
der sein eigenes Orientierungssystem zur Orientierung im
Leben verwenden, sagen wir auch, dass er „selbst denkt“.
Es wäre ein Wunder, wenn nicht andere Menschen, die
etwas dagegen haben, dass der einzelne Mensch sich selbst
orientiert und die gern Macht über andere Menschen
gewinnen wollen, ihm nicht einreden wollten, dass die Lust
zur Orientierung nichts taugt.
Es
gibt da mehrere Punkte, an denen man ansetzen kann, um zu
argumentieren, dass sie Lust nichts Gutes oder zumindest
nichts Wertvolles ist. Hier jene Angriffspunkte, die schon
am Anfang der Philosophie, von Sokrates, Platon und Aristoteles,
bearbeitet wurden:
- Alles
Gute und Wahre ist dauerhaft; Lust aber kennzeichnet einen
Übergang. Zum Beispiel begleitet sie das Essen vom
Zustand des Hungers bis zum Moment, wo Sättigung
eintritt. Weil Lust also nicht ist, sondern im
Werden ist, ist sie minderwertig.
- Nach
dem Motto „Teile und herrsche!“ sagt man,
es gebe verschiedene Lüste, gute und schlechte. An
die guten solle man sich halten, an die schlechten nicht.
Die Konsequenz: Sobald man daran glaubt, kann man sich
nicht mehr am eigenen Lustempfinden orientieren, sondern
muss sich an einem Kriterium orientieren, das einem sagt,
welche Lüste gut sind und welche schlecht.
- Motto
„Teile und herrsche!“, Version 2. Man sagt:
Nicht das Lustempfinden aller Menschen ist gut, sondern
nur dasjenige guter bzw. vorbildlicher Menschen.
Wenn du also kein vorbildlicher Mensch bist, ist deine
Lust Schrott, und du solltest dich nicht an ihr orientieren.
Als Ergebnis kommt heraus, dass du dich am großen
Philosophen orientieren sollst, weil er der Meinung ist,
er selber sei ein vorbildlicher Mensch. Diese Argumentation
ist also nichts weiter als eine Strategie, sich selbst
als jemanden hinzustellen, der dafür qualifiziert
ist, anderen Menschen Anweisungen zu erteilen.
Nun
noch der wichtige Abschlussstein meiner Argumentation: Es
geht mir darum, dass man sich nicht ein bisschen an sich
selber orientieren kann und im Übrigen im herkömmlichen
Orientierungssystem verbleibt. Wenn man es tut, muss man
es ganz tun, sonst funktioniert es nicht. Selberdenken ist
allerdings damit verbunden, dass man bestimmte Überzeugungen
aufgibt, an die wir gewöhnt sind und ohne die viele
Menschen nicht leben können.
Allen
voran die Vorstellung, dass wir in einer gemeinsamen Welt
leben: Wenn wir die Wirklichkeit als eine Realität
betrachten, die wir mit allen anderen Menschen teilen, dann
verhalten wir uns so, als würden wir aus unserem Körper
heraussteigen und die Welt aus einer zeitlosen Vogelperspektive
betrachten. Wir berücksichtigen dann nicht mehr, dass
wir als einzelne Menschen sterblich sind. Diese Tatsache
hat Epikur in seinem berühmten Aphorismus zum Ausdruck
gebracht, dass wir keine Angst vor dem Tod haben müssen,
weil wir ihn noch nicht spüren, solange wir noch leben,
und ihn nicht mehr spüren, sobald wir tot sind. Solang
wir noch da sind, ist er noch nicht da, und sobald er da
ist, sind wir nicht mehr da.
Dieses
Argument, schreibt Hossenfelder, wäre in der Philosophie
vor Epikur unmöglich gewesen. Denn damals stellte man
sich vor, dass die Welt dauerhaft ist und der einzelne Mensch
nur seinen Beitrag zu ihr leistet. Deshalb hätte man
damals auch gesagt, dass der einzelne Mensch nur dann glücklich
sein kann, wenn er seinen Beitrag zur Welt leistet, so wie
es der Weltordnung entspricht. Diese Weltsicht setzt aber
eine Orientierung an der Weltordnung voraus und ist nicht
kompatibel mit einer solchen, wo der einzelne Mensch sich
an sich selber, an seinem eigenen Orientierungssystem, orientiert.
Ich
möchte das in diesem Text einmal festhalten, weil ich
glaube, dass es etwas ist, das viele Menschen noch nicht
wissen: Man kann als einzelner Mensch nur dann selbst denken,
wenn man die Welt als etwas sieht, das verschwindet, sobald
man stirbt. Wenn man die Welt als etwas sieht, das nach
dem eigenen Tod fortbestehen wird, dann geht es einem um
die gemeinsame Welt – und in dem Fall wird man erfahren
müssen, dass man sich über sie keine eigene Meinung
bilden darf, weil es im öffentlichen Raum andere Meinungsmacher
gibt, die mächtiger sind als man selber und größeren
Einfluss auf die öffentliche Meinung haben. Über
die gemeinsame Welt sagen uns diejenigen, die von der Gesellschaft
als Opinion Leaders anerkannt werden, was wir über
sie zu denken haben. Unser selbstständiges Denken hört
auf, wo die Öffentlichkeit und die gemeinsame Welt
anfangen.
Über
die gemeinsame Welt kann der einzelne Mensch nicht nachdenken.
Das heißt, er kann es schon, aber es ist sinnlose
Kraftverschwendung, weil er nicht gehört werden wird.
Selber nachdenken kann man folglich nur über diejenige
Welt, in der man selber – und zwar: ganz allein –
lebt. Jene Welt, die wieder ins Nichts verschwinden wird,
sobald ich tot bin. Jene Welt, die ich wahrnehme und empfinde.
Diese Einsicht erinnert mich an die Definition von
Philosophie, die ich bei José Ortega
y Gasset gefunden habe. Philosophie sei,
so Ortega, wenn man Bilanz mit sich selber mache.
Was habe ich erwartet, was erreicht? Habe ich das erreicht,
was ich erwartet habe? Wenn nicht, warum bin ich enttäuscht
worden.
Das
Wesentliche dieser Definition von Philosophie besteht darin,
dass in ihr der einzelne Mensch seine Wahrheit mit sich
selber ausmacht. Er macht Bilanz mit sich. Er vergleicht
seine frühere Wahrnehmung der Welt (Erwartungen) mit
der jetzigen (Ergebnisse), und niemand hat ihm etwas dabei
dreinzureden, weil niemand außer ihm selber dafür
kompetent ist. Das bedeutet auch, dass es so etwas wie eine
Diskussion in der Philosophie nicht gibt. Philosophische
Fragen werden nicht in Diskussionen entschieden, sondern
der einzelne Mensch entscheidet sie für seine eigene
Person in der Abgeschiedenheit seines eigenen Gewissens.
Philosophie ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.
Das
wissen viele Menschen nicht; deshalb halten sie Philosophie
für die öffentliche (gemeinsame) Diskussion von
gesellschaftlich relevanten (=alle Menschen betreffenden)
Fragen durch anerkannte Philosophen (=Stellvertreter, die
für uns denken). Dass man als einzelner Mensch in dieser
gemeinsamen Welt von Gründen und Folgerungen seine
eigene, persönliche Wahrheit nicht finden wird können,
davon handelt dieser Text. Es bedarf eines radikalen Wechsels
der Perspektive, um als Einzelner selber denken zu können,
eines Wechsels, der so radikal ist wie jener, in dem man
sagt: „Wenn ich einmal nicht mehr lebe, dann wird
es auch die Welt, in der ich gelebt habe, nicht mehr geben!“
Hossenfelder
bezeichnet diese Perspektive als den „hellenistischen
Individualismus“, der im Gegensatz zur klassischen
griechischen Philosophie steht. Es ist ja nicht verwunderlich,
dass das Selberdenken ein bestimmtes Maß an Individualismus
erfordert. Das ist ja durchaus anzunehmen. Was allerdings
die meisten Menschen nicht schlucken werden können,
ist, dass das Selberdenken so viel Individualismus und Eigensinn
erfordert, dass man sich aus der gemeinsamen Welt ausklinkt
und seine eigene Beschreibung der Wirklichkeit anfertigt.
Die
meisten Menschen glauben, es wäre möglich, selbstständig
zu denken, indem man über die gemeinsame Welt nachdenkt.
Das Resultat davon sind zahlreiche Kommentatoren von Wissenschaft
und Politik, die nicht gehört werden. Aber das ist
eben nicht möglich, weil man keine eigene Meinung zur
gemeinsamen Welt haben kann. Eine eigene Meinung kann man
nur zur eigenen Welt haben, zu der Welt, in der man als
mit Bewusstsein ausgestattetes Individuum allein und exklusiv
lebt.
Der
Grund, warum das so ist, liegt darin, dass sich sofort Menschen
finden werden, die einem die Urteilsfähigkeit absprechen
wollen, sobald man über die gemeinsame Welt urteilt.
Man wollte ja nur seine eigene Meinung sagen, aber sie ist
eine über die gemeinsame Welt – und deshalb wird
sie von den anderen Menschen nicht als die Meinung eines
einzelnen Menschen sondern als ein Urteil über die
gemeinsame Welt aufgefasst. Mit einem Wort: als etwas, das
bekämpft werden muss. Als etwas, das im Namen des Kampfes
um die gemeinsame Wahrheit vor dem einzelnen Menschen beschützt
und ihm deshalb entrissen werden muss.
Die
hier beschriebene Dynamik steht im krassen Gegensatz zum
uns gesetzlich zugesicherten Recht der freien Meinungsäußerung.
Aber freie Meinungsäußerung wäre nur dann
möglich, wenn die Menschen dazu fähig wären,
zu sagen: „Es ist nur seine Meinung!“, wenn
jemand seine Meinung zu einem Thema äußert. Wenn
sie sich nicht sofort angegriffen fühlten, wenn jemand
eine Meinung äußert, die von der Mehrheitsmeinung
abweicht.
In
der politisierten Realität unserer heutigen Welt scheint
aber eine solche Toleranz nicht möglich zu sein. Was
ich wahrnehme ist, dass eine jede Meinungsäußerung
als eine Aufforderung an alle übrigen Menschen aufgefasst
wird, ebenso zu denken wie derjenige, der die Meinung geäußert
hat. Woraus sich als Konsequenz ergibt, dass man diese Meinung
mit aller Macht bekämpfen muss, wenn man nicht so denken
will, wie sie es vorschlägt, weil sie sonst die gemeinsame
Welt verpestet und sie zu einer macht, in der man nicht
leben möchte. Zu einer, die von fremden und unliebsamen
Überzeugungen geprägt ist.
Ein
möglicher Lösungsweg aus diesem Dilemma wäre:
Wir treffen die Unterscheidung zwischen Wissenschaft als
Diskussion über die gemeinsame Welt und Philosophie
als die Erörterung der individuellen Lebenserfahrung
des einzelnen Menschen – und verbreiten diese Unterscheidung,
sodass möglichst viele Menschen von ihr wissen. Nur
dann kann es möglich werden, dass Menschen, die philosophieren
und ihre eigene Lebenserfahrung aufarbeiten, nicht mehr
mit Hass und Aggression begegnet wird, weil man meint, sie
möchten sich in ungerechtfertigter Weise an der gemeinsamen
Welt vergreifen.
STRATEGIEN
DER ENTWERTUNG EINZELMENSCHLICHER ORIENTIERUNGSRESSOURCEN
STRATEGIE
1 (SOKRATES): ENTWERTUNG DES VERGÄNGLICHEN (DES
WERDENS) DURCH UNTERSCHEIDUNG VOM DAUERHAFTEN (SEIN)
„Fragt
man nach dem Grund der Ablehnung der Lust, so wird
er wohl letztlich im sokratischen Erkenntnisideal
zu finden sein. Aus der Vorstellung, daß die
Wahrheit zu jeder Zeit und für jedermann gilt,
entstand die Auffassung, daß das Wahre und Gute
unwandelbar und in allen Instanzen dasselbe sein müsse.
Folglich kann etwas, das vergänglich ist, kein
wahres Gut sein. Vor diesem Hintergrund wird die Ablehnung
der Lust verständlich, […] [d]enn wenn
die Lust ein bloßer Übergang ist, dann
ist klar, daß sie kein Gut sein kann. So lautet
das wichtigste Argument der radikalen Lustgegner (in
Aristoteles‘ Referat): Die Lust „ist überhaupt
kein Gut, weil alle Lust ein wahrnehmbares Werden
zum Naturgemäßen ist, kein Werden aber
den Endzuständen artverwandt ist, wie kein Hausbau
dem Haus“ ([Nikomachische Ethik] 1152b 12ff.)
[…] [D]as Argument […] zerlegt alles Werden,
d.h. jeden dynamischen Prozeß, in zwei Teile,
[…] in die eigentliche dynamische Entwicklung
und einen daraus resultierenden statischen Zustand.
Von diesem letzteren nimmt es an, daß er zugleich
der Zweck des ganzen Prozesses sei, während das
Werden nur das Mittel dazu darstelle. Daraus ergibt
sich dann, daß der Endzustand, als Zweck, der
Ordnung des Guten angehören muß und also
das Werden, da keiner anderen Ordnung zugehörig,
kein Gut sein kann. Da nun die Lust ein Werden ist,
so ist sie kein Gut (Platon Phil[ebos]. 53 c ff.).“
MalteHossenfelder:
Epikur. C.H. Beck, München 2006, 3.
Aufl. (1991). S. 45-46.
|
Nach
dieser Auffassung muss also das Gute ein Zustand sein, die
Lust aber begleitet einen Übergang und kann deshalb
nichts Gutes sein. Mit anderen Worten: So wie man eigentlich
ein Haus haben will, wenn man ein Haus baut, und einem der
Hausbau bloß lästig ist, so ist einem auch die
Lust beim Essen bloß lästig, weil man sich ja
im Grunde nur ernähren möchte. Man sieht, was
beim Beispiel des Hausbaus richtig sein mag, weil er mühsam
ist, trifft beim Essen schon nicht mehr zu. Und im Ganzen
fragt sich, ob dieses sokratische Argument dem menschlichen
Leben überhaupt entspricht? Damit es ihm entsprechen
würde, müsste das Wesen des menschlichen Lebens
mehr Zustand sein als Werden, mehr Zielerreichung als Auf-dem-Weg-Sein.
Das ist aber nicht der Fall, weshalb eine Beurteilung des
Lebens, die davon ausgeht, dass Übergänge und
Phasen der Veränderung minderwertig sind, das Menschenleben
in seiner Hauptsache entwertet.
Umgekehrt
muss man natürlich auch danach fragen, woher denn die
sokratischen Beurteilungskriterien kommen. Und wenn man
sie sich ansieht – dass die Wahrheit jederzeit und
für alle Menschen gilt – dann erkennt man, dass
es dieselben sind, die in der Wissenschaft bis heute gelten.
Das sind also keine Flausen, die Sokrates dazu bewogen haben,
vergängliche individuelle Erlebnisse zu entwerten.
Sondern: Wenn man den Fokus auf diejenigen Phänomene
scharfstellt, die (a) für alle Menschen gleich sind,
(b) an verschiedenen Orten gleich sind, (c) jeweils so dauerhaft
sind, dass sie sich klar sehen und beschreiben lassen, dann
fallen tendenziell alle Wahrnehmungen unter den Tisch, die
individuell und flüchtig sind. Es fallen damit aber
auch genau diejenigen Erfahrungen unter den Tisch, über
die Individuen sich oft gerne mit ihren Mitmenschen verständigen
würden, denn: Wenn man einen Vorgang ebenso erlebt
wie die Anderen, dann hat man in der Regel auch kein Problem
damit; nur wenn man etwas anders erlebt als die Anderen,
möchte man es den Anderen mitteilen.
Aber
wenn es im kollektiven Verständnis natürlich gar
nicht vorgesehen ist, dass ein einzelner Mensch einen bestimmten
Vorgang anders erleben kann als die anderen (weil das Wahre
und Gute für alle Menschen dasselbe sein müssen),
dann geht das natürlich nicht. Dann kann man nur schweigen,
wenn einem bei der Temperatur, die den anderen Menschen
angenehm erscheint, kalt ist. Man hat dann eine Empfindung,
die nicht vorgesehen ist und in gewisser Weise auch nicht
sein darf.
Die
Grundeinstellung, dass dasjenige, was mehr Menschen betrifft
und länger dauert, wahrer und relevanter ist als dasjenige,
das weniger Menschen betrifft und flüchtiger ist, führt
zu einer Art Demokratisierung der Wahrheit. Zwar nicht in
der Art, dass man über die Wahrheit einer Aussage abstimmen
könnte, aber doch in der Weise, dass von vornherein
bevorzugt dasjenige thematisiert wird, was „von allgemeinem
Interesse“ ist. Akademikern ist diese Haltung bekannt:
Was nur dich selber interessiert, ist gar nicht wahrheitsfähig.
Zuvor muss man argumentieren, dass die Beantwortung einer
bestimmten Frage für möglichst viele Menschen
von Bedeutung ist, dann erst kann man damit beginnen, sie
zu beforschen.
Aufgrund
der Überbewertung des Kollektiven in der wissenschaftlich-akademischen
Haltung ist sie umgekehrt ein effektives Hindernis dagegen,
dass ein einzelner Mensch einmal eine Frage deshalb bearbeiten
könnte, weil sie ihn persönlich tatsächlich
interessiert.
STRATEGIE
2 (PLATON): TRENNUNG DER LUST IN ZWEI ARTEN, EINE
LOBENSWERTE UND EINE TADELNSWERTE
„Platon
setzt sich in seinem Spätdialog Philebos
mit dem Hedonismus auseinander und entwickelt dort
eine eigene Lusttheorie – mit beträchtlichem
metaphysischem Aufwand. Er stellt die Frage, ob Lust
oder Erkenntnis das höchste Gut sei, und kommt
zu dem Ergebnis, daß weder das eine noch das
andere für sich allein ausreiche, sondern das
höchste Gut in einer Verbindung beider bestehe.
[…] Warum […] Platon, der im übrigen
in seiner Philosophie allem sinnlichen Erleben nicht
eben zugetan ist, […] den Hedonismus nicht vollständig
ablehnt, bleibt Spekulation. Jedoch ist er bemüht,
die Bedeutung der Lust erheblich einzuschränken.
Zu diesem Zweck unterteilt er die Lust in zwei Arten,
von denen nur die eine Teil des höchsten Gutes
sei. Zur Bestimmung der ersten greift er auf das gängige
Lustmodell zurück, nach dem Unlust die Zerstörung
des natürlichen Zustands und Lust die Rückkehr
in den naturgemäßen Zustand sei. Demnach
sei diese Lust nie rein, sondern stets mit Unlust
gemischt, weil sie ja der Übergang vom
einen Zustand in den anderen sei, also nur so lange
statthabe, wie noch nicht alle Unlust beseitigt sei,
mit Erreichen dieses Zieles aber endige. Daneben gebe
es jedoch eine Art von Lust, die rein und unvermischt
mit Unlust sei. Als Beispiel nennt Platon die ästhetischen
Genüsse schöner Formen, Klänge u. ä.,
ferner die Lust an der theoretischen Erkenntnis und
– mit leichtem Unbehagen – die Freude
an Wohlgerüchen. In allen diesen Fällen
könnte man nicht sagen, daß die Lust an
eine Unlust geknüpft sei. Und nur diese reinen
Lüste dürfe man dem höchsten Gute zurechnen,
und auch sie nur an fünfter und letzter Stelle;
die mit Unlust vermischten dagegen zählten nicht
zu den Gütern.“
MalteHossenfelder:
Epikur. S. 47-48. |
Wir
haben es also wieder mit demselben Leitmotiv zu tun: Lust
ist ein Übergang, ein Werden, kein Zustand. Neu ist
hier der Aspekt der Reinheit. Elemente, die sich verändern,
lassen sich nicht in ihrer Reinheit herauspräparieren.
Eben deshalb kann man ja nicht sagen, dass sie „sind“:
Sie halten nicht still und lassen sich in Ruhe anschauen.
Was Platon nun macht, ist, dass er zwei Arten von Lust unterscheidet
und zwar entlang der Achse Werden/Sein bzw. Übergang/Zustand.
Alle Lüste, die Übergänge sind, sind böse,
weil sie mit Unlust vermischt sind; aber Platon kann sich
auch Lüste vorstellen, die Zustände sind und als
solche rein und unvermischt. Es sind das ästhetische
Genüsse (z.B. der Genuss der schönen Künste),
die Lust an der theoretischen Erkenntnis und Wohlgerüche.
(Die Wohlgerüche dürften Paton reingerutscht sein,
ergeben sich aber rein logisch, weil man immer noch was
riecht, auch wenn man satt und vollgefressen ist.)
Was
aber für unseren Zusammenhang wesentlich ist –
und Hossenfelder stellt das auch ausführlich dar –
ist, dass die Unterscheidung von mehreren Lustarten mit
dem Prinzip, dass man sich im praktischen Leben am Lustgefühl
orientiert, im Gegensatz steht. Wenn man sich an der Lust
orientiert, dann muss man jedes Lustgefühl annehmen
und es kann nur mehr und weniger Lust geben. Wenn man hingegen
zwischen guten und nicht so guten Lustgefühlen unterscheidet,
dann orientiert man sich nicht am Lustgefühl selbst,
sondern an dem Kriterium, mit dem man zwischen guten und
nicht so guten Lustgefühlen unterscheidet. Und dieses
Kriterium ist selbst kein Lustgefühl. (Diesen Fehler
hat auch John Stuart Mill in seiner Schrift Utilitarianism
aus dem Jahr 1861 gemacht; der Utilitarismus orientiert
sich nämlich auch an der Lust (happiness), weswegen
seinen Vertretern auch vorgeworfen wurde, dass sie Schweine
seien.)
Bei
Platon sieht es so aus, als hätte er das Reine und
Beständige als Qualitätskriterium für die
guten Gelüste ausgewählt. Aber vielleicht ist
diese Interpretation auch irreführend. Anzunehmen ist,
dass einfachere Menschen weniger Sinn für ästhetische
Genüsse haben als sozial höherstehende und reichere.
Es könnte sich also genauso gut um eine verklausulierte
soziale Unterscheidung zwischen den Primitiven und den Kultivierten
handeln. Eine neutral klingende Unterscheidung wie die zwischen
dem Reinen und dem Vermischten half Platon dabei, bestimmte
Menschen auszuschließen, ohne zugeben zu müssen,
dass er sie ausschließen und andere Menschen bevorzugen
wollte. Denn er scheint ja gar nicht über Menschen
zu reden, sondern über das Reine im Allgemeinen.
Wenn
man die Strategie fährt, die Orientierung an der Lust
durch ein weiteres Prinzip, das zwischen guten und schlechten
Lüsten unterscheidet, auszuhebeln, dann läuft
das am Ende darauf hinaus, dass man es den Menschen scheinbar
gestattet, ihr eigenes Orientierungssystem (ihr Lustempfinden)
zu gebrauchen, ihnen im selben Atemzug diese Erlaubnis aber
wieder entzieht, indem man sagt: „Aber das Kriterium,
welche Lüste gut sind, das habe ich.“
ARISTIPP:
WARUM MAN NICHT ZWISCHEN QUALITATIV VERSCHIEDENEN
LUSTARTEN UNTERSCHEIDEN KANN
„Was
Aristipp bekämpft, ist die qualitative
Unterscheidung verschiedener Lustarten, sofern sie
zugleich einen Wertunterschied begründen soll,
der nicht rein quantitativ ist. […] Nimmt man
zwei verschiedene Lustarten, z.B. körperliche
und seelische Lust, von denen die eine wertvoller
sein soll als die andere, so bleiben zwei Möglichkeiten.
Entweder der Wertunterschied liegt in dem, was beiden
gemeinsam ist und was sie zur Lust macht, dann kann
er nur quantitativ sein, d.h. in der einen Art ist
mehr von derselben Gegebenheit als in der
anderen. Oder der Wertunterschied beruht auf dem,
was in beiden verschieden ist, in den artbildenden
Eigenheiten, dann ist die Lust nicht das höchste
Gut, von dem alle anderen Werte abgeleitet sind, denn
der Wertunterschied der beiden Lustarten ist auf etwas
anderes als Lust zurückzuführen. Deswegen
gibt Platon in seiner Hedonismuskritik sich große
Mühe, mehrere Lustarten qualitativ wertend zu
unterscheiden (Phil. 12 c ff.).“
MalteHossenfelder:
Epikur. S. 39-40. |
Aristoteles‘
Argumentation ist wie die von Platon in grün. Es ist
nicht die Lust, die darüber entscheidet, ob etwas gut
ist, sondern ob etwas seinem Begriff entspricht, entscheidet,
ob es gut ist. Beispielsweise ist es so, dass die Pferde
dem Begriff des „Pferds“ entsprechen und dass
sie mögen, was man von einem Pferd erwartet, dass es
mag. Aber bei den Menschen ist das nicht so. Deshalb muss
Aristoteles den Begriff des „vorzüglichen Menschen“
(spoudaios) bilden, das ist derjenige, der dem Begriff des
„Menschen“ voll und ganz entspricht –
und alle anderen Menschen sind verdorben. Im Gegensatz zu
Platon unterscheidet er nicht zwischen guten und nicht so
guten Lüsten; gleich bleibt, dass er ein Kriterium
über die Lust entscheiden lässt.
So
entscheidet bei ihm die Lust nicht darüber, was vorzüglich
ist, sondern die Vorzüglichkeit entscheidet darüber,
was als „Lust“ bezeichnet werden darf. Wenn
also ein primitiver Mensch etwas tut, das ihm Spaß
macht, darf man es nicht als „Lust“ bezeichnen,
weil er nicht die Lust empfindet, die „sich gehört“
und sie auch nicht bei einer Tätigkeit empfindet, die
„sich gehört“.
Am
Ende kommt heraus, dass Aristoteles sich selbst als diesen
spoudaios ansieht, er hat sich seine Philosophie auf seine
eigene Person zugeschnitten. Ein ordentlicher, ernstzunehmender
Mensch ist nach Aristoteles derjenige, dem dieselben Sachen
Spaß machen wie ihm selber.
STRATEGIE
3 (ARISTOTELES): NICHT DAS LUSTEMPFINDEN ALLER MENSCHEN
IST GUT, SONDERN NUR DAS VON VORBILDLICHEN MENSCHEN
„Ebenso
wie Platon bewertet auch Aristoteles die Lüste
unterschiedlich, aber er teilt sie dazu nicht in zwei
verschieden zu bewertende Klassen ein, sondern ordnet
jeder [Tätigkeit], eine spezifische Lust zu und
macht den Wert der letzteren abhängig vom Wert
der ersteren: Ist die Tätigkeit selbst von hohem
Rang, so ist es auch die sie vollendende Lust, und
umgekehrt ist die Lust einer minderwertigen Tätigkeit
selbst minderwertig. Die Einstufung der Tätigkeiten
nun geschieht bei Aristoteles, wie die Bewertung der
Lüste bei Platon, mit Hilfe metaphysischer Begriffe.
Zum einen verwendet auch er das Kriterium der Reinheit
[…], [z]um anderen ordnet Aristoteles jedem
Lebewesen eine bestimmte Tätigkeit wesensmäßig
zu […]. Für das Pferd, den Hund, den Menschen
ist jeweils etwas anderes lustvoll, für alle
Pferde aber dasselbe. Auf die Menschen freilich trifft
dies letztere nicht zu, da die Lustempfindungen bei
ihnen stark variieren und den einen angenehm, was
den anderen zuwider ist. Um dieser Schwierigkeit zu
begegnen, greift Aristoteles, wie so oft, auf den
Begriff des „vorzüglichen Menschen“
(spoudaios) zurück. Da dieser den Wesensbegriff
des Menschen am vollkommensten verkörpert, bildet
er den objektiven Maßstab; was er als Lust empfindet,
das ist auch wirklich Lust für den Menschen,
wogegen davon abweichende Lustgefühle nicht Lust
genannt werden dürfen; daß sie dennoch
vielen so erscheinen, liegt an der Verderbtheit ihrer
Natur. Von den dem Menschen „geziemenden“
Lüsten nun sind diejenigen, die seine wesensmäßigen
Tätigkeiten vollenden, seine „eigentlichen“
Lüste, die übrigen sind es nur „in
einem sekundären und noch entfernteren Sinne“
(NE 1176a 24ff.)
[…] Am wertvollsten ist das, was dem begrifflichen
Wesen, durch das jedem sein Platz im Kosmos zugewiesen
ist, am vollkommensten entspricht. Folglich ist diejenige
Lust des Menschen die wertvollste, die seine Vernunfttätigkeit
vollendet, weil sie die ihm, als dem vernunftbegabten
Lebewesen, eigentümliche ist […]. So kommt
erwartungsgemäß heraus, daß Aristoteles‘
eigene Lust, die Lust am philosophischen Denken, die
beste ist.“
MalteHossenfelder:
Epikur. S. 50-51. |
Bei
Aristoteles sieht man am deutlichsten, wie arschlochmäßig
diese Art von Philosophie ist. Er verhält sich anderen
Menschen gegenüber wie ein Arschloch: Er ist intolerant
und gesteht ihnen nicht zu, dass sie etwas anderes toll
finden und anders empfinden könnten als er selber.
Er gesteht ihnen nicht zu, anders zu sein als er. Aber vergessen
wir nicht: Das ist nicht einfach eine Konsequenz des intoleranten
Charakters von Aristoteles, sondern es ist eine Konsequenz
des Ausgangspunkts, den er mit Sokrates und Platon teilt.
Dieser Ausgangspunkt besteht in der Vorstellung einer gemeinsamen
Welt, über die man nachdenkt, und in der alle anderen
Menschen, Tiere und Dinge ihren Platz haben. Wenn nun Aristoteles
über diese gemeinsame Welt und ihre Weltordnung nachdenkt,
dann ist es unvermeidlich, dass sie zu Aristoteles‘
Welt wird und dass sie ihm zu einem Versuch gerät,
allen anderen Menschen vorzuschreiben, nach der Fasson von
Aristoteles zu leben. Zur Notiz auch für alle Denker
der interkulturellen Philosophie: Wenn man Vielfalt haben
will, darf man nicht von Einheit ausgehen.
Sokrates
und Platon machen es nicht anders. Auch sie gehen von einer
Weltordnung aus, die für alle Menschen gilt. Wenn sie
es den anderen Menschen zugestehen würden, selbst zu
denken und ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, dann
müssten Sokrates, Platon und Aristoteles in ihren eigenen
Weltentwürfen den anderen Menschen einen Freiraum reservieren,
in dem die anderen ihre eigenen Vorstellungen entwickeln
und zu anderen Schlüssen kommen dürfen als die
drei großen Philosophen der klassischen Philosophie.
Dazu müssten sie allerding bereit sein zuzugestehen,
dass ein anderer Mensch die Welt vielleicht anders sieht,
als sie es tun, andere Dinge wertschätzt und an anderen
Dingen Gefallen findet als sie. Mit einem Wort, die eine
Welt, die sie erdacht haben, würde dann zerfallen in
so viele verschiedene Welten wie es verschiedene Menschen
gibt.
Im
Grunde sind die Philosophien von Sokrates, Platon und Aristoteles
Übungen im Disempowerment. Im Englischen gibt es den
schönen Begriff des Empowerments. Man meint damit,
dass man andere Menschen dazu ermutigt und sie dabei unterstützt,
sich auf ihre eigenen Fähigkeiten zu besinnen und selbst
aktiv zu werden, um ihre Probleme zu lösen. Sokrates,
Platon und Aristoteles machen das Gegenteil davon: Sie entmutigen
die Menschen. Sie sagen: „Wenn du es auf deine Art
machst, machst du es falsch!“ Sie machen das, indem
sie dasjenige schlecht machen, was den anderen Menschen
als Orientierungshilfe zur Verfügung steht: ihr eigenes
Lustempfinden. Stattdessen versuchen sie, die anderen Menschen
von sich selbst abhängig zu machen, indem sie sagen:
„Nur wenn du dich an mir orientierst, machst du es
richtig!“ Am schamlosesten macht das Aristoteles,
indem er sagt: „Ich bin ein vorzüglicher Mensch;
und nur wenn du das Leben ebenso erlebst wie ich, bist du
auch in Ordnung!“
Was
dabei natürlich mit herauskommt, ist: „So wie
ich sollst du leben, auch wenn dir das gar keinen Spaß
macht!“ Exemplifiziert wird diese intolerante Haltung
durch den Begriff der Eudämonie, des griechischen Glücks.
Glücklich kann man nämlich nach Vorstellung der
klassischen griechischen Philosophie sogar sein, ohne dass
man es spürt. Also: Du bist glücklich, wenn man
dir sagt, dass du glücklich bist.
GLÜCK
BEI ARISTOTELES: MAN KANN GLÜCKLICH SEIN, OHNE
ES ZU MERKEN!
„Ich
habe im vorigen Abschnitt schon erwähnt, daß
eudaimonia in der vorhellenistischen Zeit
einen objektiven, „äußerlichen“
Zustand meint. So faßt Aristoteles das Glück
auf als „Tätigsein der Seele im Sinne der
ihr wesenhaften Tüchtigkeit“, und er versteht
darunter die vollendete Verwirklichung der Rolle,
die dem Menschen innerhalb einer teleologisch geordneten
Welt aufgrund seines Wesens zukommt (NE 1098 a 16,
Übers. Dirlmeier). Eudämonie hängt
bei ihm demnach nicht vom persönlichen Bewußtsein
ab, sondern ist ein objektiver Tatbestand, von dem
sogar denkbar ist, daß jemand ihn erfüllt,
ohne es selbst zu wissen, daß also jemand glücklich
ist, ohne es zu merken, eine für uns, die wir
durch den Hellenismus geprägt sind, absurde Vorstellung.
Zwar besteht auch für die griechischen Klassiker
die Eudämonie nicht mehr wesentlich in äußerem
Wohlergehen, sondern ist hauptsächlich ein Zustand
der Seele, aber wann dieser Zustand erreicht ist,
darüber entscheidet nicht das Befinden des Betroffenen,
vielmehr ergibt es sich aus der metaphysischen Weltordnung:
Wir sind dann glücklich, wenn wir in jeder Hinsicht,
äußerlich wie innerlich, in dem Zustand
weilen, der uns von der kosmischen Ordnung angewiesen
ist.“
MalteHossenfelder:
Epikur. S. 54.
|
ERMÖGLICHUNG
DES SELBSTÄNDIGEN DENKENS DURCH DEN „HELLENISTISCHEN
INDIVIDUALISMUS“
Die
Möglichkeit, selbst zu denken, hat für den einzelnen
Menschen zur Voraussetzung, dass er die Möglichkeit
hat, anderer Meinung zu sein. Ebendeshalb gibt es in der
Wissenschaft nicht die Möglichkeit zum selbstständigen
Denken, weil es in ihr um die Beschreibung einer gemeinsamen
Wirklichkeit geht, in der es für den einzelnen Menschen
kein Raum bleibt, anderer Meinung zu sein. Selbstständiges
Denken ist im Grunde nur dort möglich, wo der eine
Mensch sagt: „Ich trinke lieber Tee!“ –
und der andere: „Und ich habe lieber Kaffee!“
– und beide recht haben. Kurz: Selbstständiges
Denken ist nur bei Geschmacksurteilen möglich. Weil
man nur bei Geschmacksurteilen ein eigenes Urteil trifft.
Bei Faktenurteilen trifft man Urteile über die gemeinsame
Realität; und das steht einem nicht zu, weil einem
die gemeinsame Realität nicht gehört, weil die
gemeinsame Realität der menschlichen Gemeinschaft gehört.
Der
„hellenistische Individualismus“, wie Hossenfelder
es nennt, hat es ermöglicht, eine Perspektive auf die
Welt zu entwickeln, aus der der einzelne Mensch die Welt
und das Leben als einzelner Mensch beurteilt, so wie er
es erlebt und empfindet. Die einzelmenschliche Perspektive
ist der kollektiven Perspektive entgegengesetzt, die von
den Philosophen der klassischen Epoche – z.B. Sokrates,
Platon und Aristoteles – entwickelt wurde. In der
kollektiven Perspektive sieht der einzelne Mensch sich in
einer Welt, in der auch andere Menschen leben und die vor
seiner Geburt schon bestanden hat und nach seinem Tod weiterbestehen
wird. Die einzelmenschliche Perspektive ist eine solche,
in der die Welt mit der Geburt des einzelnen Menschen entsteht,
mit seinem Tod erlischt und nur für ihn existiert.
Ein
solches Argument wie das folgende von Epikur über den
Tod, sagt Hossenfelder, wäre in der klassischen griechischen
Philosophie nicht möglich gewesen. Ich bringe es vor,
um damit zu unterstreichen, dass man nicht ein bisschen
anders denken muss, wenn man selbst denken will, als in
der naiv-realistischen Weise, in der wir alle als Kinder
anfangen zu denken, sondern ganz anders. Denn wie Sokrates,
Platon und Aristoteles tendieren ja alle Menschen zuerst
einmal dahin, die Welt als beständig anzusehen und
sich danach zu fragen, wo unser Platz in ihr ist. Man muss
schon diese gesamte Weltsicht nehmen und sie konsequent
umkehren, um dort anzukommen, wo Epikur stand. Im individualistischen
Denken ist nicht der einzelne Mensch Teil der Welt und muss
sich einfügen, sondern, ganz umgekehrt, das Individuum
ist Sinn und Zweck der Welt. Und die Welt ist nicht so,
wie sie objektiv ist, sondern so, wie das Individuum sie
erlebt und empfindet.
Nur
im individualistischen Denken kommt man zu dem Schluss,
wie Epikur: Sobald ich tot bin, spüre ich nichts mehr
und daher existiert auch die Welt für mich nicht mehr!
Menschen, die im Weltbild der gemeinsamen Welt leben, würden
sagen, dass die Welt nach ihrem Tod weiterbesteht. Und indem
sie so denken, tun sie so, als würden sie selbst nach
ihrem Tod von einem Platz im Himmel her ihren Liebsten auf
der Erde noch beim Weiterleben zuschauen können. Und
indem Sie Anteil nehmen am Fortgang der Dinge in der Welt
nach ihrem Tod, erfüllen sie sie auch mit emotionalen
Wert und machen ihr Glück von Dingen abhängig,
die sie, weil sie nach ihrem Tod stattfinden, gar nicht
mehr erleben können.
Ich
würde mal schätzen, dass ein Gutteil der Argumente
von Sokrates, also solche von der Art, dass es immer besser
sei, Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun, ihre Voraussetzung
in einer beständigen Welt haben, in der der einzelne
Mensch auch noch nach seinem Tod in gewisser Weise weiterlebt
(z.B. in Gestalt seines guten oder schlechten Rufs im Gedächtnis
anderer Menschen) und sich deshalb um Dinge kümmern
sollte, die nach seinem Tod passieren. Auch die Idee, dass
man einen Menschen nur dann glücklich nennen könne,
wenn sein ganzes Leben erfolgreich verlaufen ist und auch
sein Tod geglückt ist, kommt aus dieser Ecke. Man hatte
Vorbehalte, einen Menschen glücklich zu nennen, der
ein tolles Leben geführt, aber wie ein Feigling gestorben
ist, weil sein Tod einen Makel auf sein Leben gebracht hat.
Damit verleugnet man aber, dass jemand, der tot ist, nichts
mehr empfinden kann und deshalb auch nicht glücklich
sein kann. In diese Art von Widersprüchen gelangt man,
wenn man sich nicht aus der Schizophrenie löst, die
darin besteht, dass man sich als einzelner Mensch als Teil
einer gemeinsamen Welt sieht. Denn in dieser schizophrenen
Sicht sieht man Welt einmal mit seinen eigenen Augen; zugleich
aber erhebt man sich auch über den eigenen Körper
und sieht sich selbst so, wie einen die anderen Menschen
sehen, man sieht sich mit den Augen der Gemeinschaft, die
einen betrachtet, nachdem man schon gestorben ist und entwickelt
auf diese Weise Vorstellungen und Emotionen, die fiktiv
sind, weil man das ja gar nicht wissen kann, wie einen die
Anderen nach dem Tod beurteilen werden.
EPIKURS
ARGUMENT ÜBER DEN TOD - "WÄRE IN DER
KLASSIK NICHT MÖGLICH GEWESEN"
„[Zitat
von Epikur:]„Das schaurigste der Übel also,
der Tod, geht uns nichts an, denn solange wir sind,
ist der Tod nicht da, wenn aber der Tod da ist, dann
sind wir nicht mehr. Er geht also weder die Lebenden
an noch die Toten, denn bei den einen ist er nicht
und die anderen sind nicht mehr.“ (Men. 124
f.).
Ein
solches Argument wäre in der Klassik nicht möglich
gewesen. Es verfängt nur unter der Voraussetzung,
daß das Individuum Sinn und Zweck der Welt ist,
so daß jedes Gut oder Übel allein von seinem
eigenen Empfinden abhängt und alles, was es nicht
empfinden, wessen es sich selbst nicht bewußt
werden kann, ohne jegliche Bedeutung für es ist.
Nur dann kann Epikur sagen: „Der Tod geht uns
nichts an. Denn was sich aufgelöst hat, hat keine
Empfindung. Was aber keine Empfindung hat, das geht
uns nichts an“ (HL 2).“
MalteHossenfelder:
Epikur. S. 81-82. |
Im
Grund ist der Perspektivenwechsel von der klassischen Philosophie
zum hellenistischen Indvidualismus derselbe, der auch in
dem bekannten philosophischen Rätsel zum Ausdruck kommt,
ob ein Baum ein Geräusch macht, wenn er in einem Wald
umfällt, in dem niemand ihn hört. Die Menschen,
die sich selbst für realistisch halten, sagen dann:
„Das ist klar, dass der Baum auch dann ein Geräusch
verursacht, wenn niemand ihn hört.“ Und ich würde
sagen, dass man ihnen auch aus der Perspektive des individualistischen
Menschen zustimmen kann: Es ist anzunehmen, dass der Baum
auch dann ein Geräusch macht, wenn ihn niemand hört.
Jedenfalls ist das so, wenn die Definition von Geräusch
nicht darin besteht, dass es gehört wird, sondern darin,
dass Schallwellen verursacht werden. Was die Realisten aber
nicht verstehen, ist, dass niemand über diesen Baum
reden würde, der umgefallen ist, ohne dass ein Mensch
in seiner Nähe war und sein Umgefallen wahrgenommen
hat.
Diese
Überlegung zeigt, wie merkwürdig das Beispiel
selbst schon ist: Man erzählt uns von einem Baum, der
im Wald umgefallen sein soll und dabei ein Geräusch
gemacht haben soll. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit.
Möglich sind folgende zwei Varianten: Erstens, man
erzählt uns nicht von diesem Baum, weil man nicht dort
war und deshalb auch gar nicht weiß, dass er umgefallen
ist. Zweitens, man erzählt uns von einem Baum, der
im Wald umgefallen ist, und man weiß davon, weil man
ihn dabei gehört hat. Unmöglich aber ist, dass
man uns von einem Baum erzählt, der im Wald ein Geräusch
gemacht hat, weil er umgefallen ist, ohne dass man sein
Umfallen gehört hat und ohne dass man überhaupt
weiß, dass er umgefallen ist. Sieht man, was hier
verkehrt herum ist: Die Tatsache, dass umfallende Bäume
Geräusche machen, hat noch nicht zur Folge, dass man
von einem konkreten Baum weiß, der im Wald umgefallen
ist.
Was
den Realisten wichtig ist, ist, dass die objektive Realität
unabhängig von unserer Wahrnehmung besteht. Was mir
in meiner Interpretation des philosophischen Rätsels
wichtig ist, ist, dass die objektive Realität unabhängig
von unserer Wahrnehmung keine Relevanz für uns hat.
Wenn man uns zugibt, dass sie keine Relevanz für uns
hat, können wir leicht zugeben, dass sie in ihrer Objektivität
unabhängig von unserer Wahrnehmung besteht.
Epikur
argumentiert ebenso: Relevant ist für den einzelnen
Menschen nur dasjenige, was er wahrnimmt (empfindet). Umgefallene
Bäume mögen irgendwo in Wäldern liegen, aber
wenn sie von niemandem wahrgenommen worden sind, sind sie
egal. Und wenn der Mensch durch den Tod sein Bewusstsein
verliert, kann er gar nichts mehr wahrnehmen, und die ganze
Welt wird ihm gleichgültig. Daraus folgt, dass die
Welt für den Menschen nur so ist, wie er sie erlebt.
Wenn ein anderer Mensch sie anders empfindet, lebt er in
einer anderen Welt.
Für
die Philosophie als selbstständiges Nachdenken hat
das die Konsequenz, dass ich mich als einzelner Mensch nur
dann mit meiner Weltsicht auseinandersetzen kann, wenn ich
mich auf meine eigenen Wahrnehmungen konzentriere. Die Wahrnehmungen
anderer Menschen sind mir nur dann hilfreich, wenn sie mich
nicht von meinen eigenen Wahrnehmungen ablenken. Zum Beispiel
könnten sie mich auf etwas hinweisen, das mir noch
nicht aufgefallen ist; dann sind sie eine Bereicherung.
Wenn sie aber zu dem Zwecke kommuniziert werden, damit ich
aufhöre, die Dinge so zu empfinden, wie ich sie empfinde
und sie anstatt dessen so empfinden soll wie mein Gesprächspartner
(der sich für einen spoudaios hält wie Aristoteles),
dann ist das kein philosophischer Austausch, sondern nur
Ausübung von weltanschaulichem Druck.
Am
dümmsten ist es aber, wenn man sich als einzelner Mensch
darauf einlässt, über die gemeinsame Welt zu diskutieren.
Denn dann wird man schnell feststellen, dass es mächtigere
Menschen gibt, als man selber und dass deren Wort mehr Gewicht
hat als das eigene. Über die gemeinsame Welt zu diskutieren
ist vergleichbar mit dem Spiel, wo mehrere Menschen auf
verschiedenen Seiten ein Handtuch festhalten und jeder versucht,
es ein Stück in seine Richtung zu ziehen. Was dabei
herauskommt, sind Kompromisse in einzelnen Fragen, mit denen
niemand glücklich ist, aber kein Weltbild aus einem
Guss, mit dem ein Mensch leben könnte. Es ist aus dem
Grund verwunderlich, wenn Menschen, die philosophieren und
sich eine eigene Meinung bilden möchten, sich in die
öffentliche Diskussion stürzen. Eine öffentliche
Diskussion ist ein umkämpftes Feld, in dem man gar
nicht die Ruhe hat, sich eine eigene Meinung zu bilden,
und wenn man schon eine hat, wird sie einem weggenommen
oder es werden einem die Fähigkeiten und Qualifikationen
dazu abgesprochen.
In der Öffentlichkeit zu philosophieren ist so ähnlich
wie der Versuch, stehend in einer vollbesetzten U-Bahn ein
Bild zu malen. Es wird jedem klar sein, dass man sich zurückzieht,
wenn man malen will.
EPIKURS
ARGUMENT ÜBER DEN TOD - SETZT DEN EINZELMENSCHEN
ANS STEUER SEINES EIGENEN LEBENS
„Epikur
argumentiert: Der Tod besteht in der Auflösung
der Seele. Folglich endet mit ihm all unser Empfinden,
unser Bewußtsein. Gut und Übel aber sind
reine Bewußtseinsgegebenheiten. Also kann der
Tod weder gut noch übel sein, er betrifft uns
überhaupt nicht. Diese Argumentation zeigt deutlich
die veränderte Grundauffassung Epikurs gegenüber
der Klassik. Werte sind keine objektiven Gegebenheiten
mehr, die in der Weltordnung verankert wären
und unabhängig davon, ob sie jemand wahrnimmt
oder nicht, bestünden. Vielmehr sind sie an das
subjektive Empfinden gebunden, und zwar des jeweiligen
Individuums. Denn der Tod ist individuell, er trifft
nur den einzelnen, und wenn er dadurch, daß
er das Bewußtsein des einzelnen auslöscht,
sämtliche Werte, die für den Betroffenen
gelten, aufhebt, so beweist das, daß für
Epikur der einzelne sich alle seine Werte selbst setzt,
daß er allein darüber entscheidet, was
für ihn gut oder übel ist und niemand anders
dies a priori aus der Weltordnung ablesen kann.“
MalteHossenfelder:
Epikur. S. 51-52. |
DIE
KONSEQUENZEN DES HELLENISTISCHEN INDIVIDUALISMUS FÜR
DIE PHILOSOPHIE FÜR DIE ETHIK
Die
für mich eigentlich interessante Erkenntnis folgt jetzt:
Durch den hellenistischen Individualismus bekommt der einzelne
Mensch vielleicht zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte
sein Urteil über seine eigenen Angelegenheiten in die
eigene Hand. Weil: Nur er selbst spürt, was gut oder
übel für ihn ist; da kann ihm niemand was dreinreden.
Doch was passiert jetzt? Was ist die Konsequenz davon? Die
Konsequenz davon ist, dass diese Erkenntnis, die nur dem
einzelnen Menschen gehört, für die menschliche
Gemeinschaft oder Gesellschaft uninteressant wird.
Denn die Gemeinschaft ist nur an solchen Erkenntnissen interessiert,
die für alle Menschen gelten. Oder sogar umgekehrt,
und noch stärker: Die Gemeinschaft definiert als Erkenntnis
überhaupt nur das, was für alle Menschen (oder:
alle vernünftigen Wesen) gilt. Damit fällt natürlich
die Erkenntnis für den einzelnen Menschen nach der
Auffassung der Gemeinschaft aus der Erkenntnis hinaus. Wenn
das Glück für jeden Menschen in etwas anderem
besteht, dann kann es, nach Meinung der kollektiven Vernunft,
vom Glück keine Erkenntnis geben. Man könne über
das Glück, so lautet die Folgerung, nur sagen, dass
es verschieden ist und dass jeder nach seiner Fasson glücklich
werden muss.
Soweit,
so nachvollziehbar. Aber man sollte sich eben doch auch
überlegen, was das heißt. Das heißt nämlich
letztlich, dass die wichtigsten und wertvollsten Erkenntnisse
für das Individuum, nämlich diejenigen, die es
darüber aufklären, wie es im Unterschied zu den
anderen Menschen leben soll, aus Sicht der Gruppe gar keine
Erkenntnisse sind – und damit auch keinerlei Wert
besitzen.
Vielleicht
lässt sich das mit einem Vergleich verdeutlichen: Wir
glauben ja bis heute, dass die Wissenschaft die beste und
vertrauenswürdigste Erkenntnis ist. Und dass aus diesem
Grund die klügsten Menschen am meisten nach wissenschaftlichen
Erkenntnissen leben sollten, also gleichsam ein wissenschaftliches
Leben führen sollten. Aber was würde passieren,
wenn wir alle ein wissenschaftliches Leben führen würden?
Die Wissenschaft ist eine kollektive Erkenntnisform, d.h.
sie formuliert nur solche Erkenntnisse, die für alle
Menschen gelten. Würde die Wissenschaft also danach
fragen, was die beste Lebensform für alle Menschen
ist, so würde zum Beispiel herauskommen, dass alle
Menschen Krankenschwestern und Krankenpfleger werden sollten.
Sie kann ja nur eine Antwort zulassen, sonst würde
sie nicht für alle Menschen gelten. Und was nicht für
alle Menschen gilt, kann nach wissenschaftlichem Verständnis
nicht wahr und nicht Erkenntnis sein. Also würde niemand
mehr Schuster werden, es würde keine Bäcker und
Bauern und Werbefachleute mehr geben. Und noch viele weitere
Berufe würde es nicht mehr geben, weil man die individuelle
Vielfalt nicht zulassen würde. Eine Vielfalt möglicher
Antworten ist ja nichts anderes als die Abkehr von der einen,
richtigen Erkenntnis. Die Folge wäre, dass es uns an
Schuhen, Kleidung, Nahrung, Werbeprospekten zum Wegwerfen
und vielem mehr mangeln würde, weil alle dem gleichen
Ratschlag folgen müssten.
Die
Wissenschaft mit ihrer Eine-Größe-passt-für-alle-Wahrheit“
würde also behaupten, wenn jemand für sich herausfindet,
welche Neigungen und Talente er hat und welchen Beruf er
ergreifen will, dann sei das keine Erkenntnis und sei deshalb
auch nicht der Rede wert, weil das keine Erkenntnis ist,
die für alle Menschen gilt. Oft sagen wissenschaftliche
Menschen es auch so: Herauszufinden, was ein bestimmter
Mensch will, ist nicht von allgemeinem Interesse. Und was
nicht von allgemeinem Interesse ist, das existiert für
die wissenschaftlichen Menschen nicht. Woraus umgekehrt
folgt: Wer mit wissenschaftlicher Haltung durchs Leben geht,
verliert den Blick für den Wert individueller Einsichten.
Was auch der Grund ist, warum ich meine, es muss neben der
Wissenschaft noch etwas anderes geben, das „Philosophie“
heißen sollte, weil sich sonst niemand um die individuellen
Erkenntnisse kümmert und weil es beim Philosophieren
doch traditionell ums Selberdenken geht.
Denn wenn es um den Umgang mit Dingen geht, dann behält
die Wissenschaft ja immer recht: So unterschiedlich die
Menschen auch sind, es wird trotzdem immer nur einen besten
Weg geben, einen Kuchen zu backen oder einen Kühlschrank
zu bauen. Aber wenn es um das Menschenleben geht, dann kann
die Wissenschaft nicht sagen, wie es objektiv gelebt werden
soll, ohne den konkreten Menschen, um den es geht, zu fragen,
wie der denn leben will. Der Irrtum der wissenschaftlichen
Menschen, die an die Allgemeingültigkeit der Wahrheit
glauben, besteht in der Folge darin, dass sie meinen, individuelle
Einsichten lassen sich nicht argumentieren und es mache
keinen Sinn, sie anderen Menschen mitzuteilen. Auf diese
Weise raubt die Wissenschaft dem einzelnen Menschen weitgehend
die Möglichkeit, sich mit seinen Mitmenschen zu vergleichen
und aus ihrem Beispiel für sein eigenes Leben zu lernen.
KONSEQUENZ:
DER GLÜCKSBEGRIFF, WEIL INDIVIDUELL, VERLOR FÜR
DIE MORALLEHRE AN WERT
„Diese
radikale Privatisierung hatte im weiteren Verlauf
der Geschichte zur Folge, daß der Glücksbegriff
für die Morallehre immer mehr an Wert verlor.
Denn dadurch, daß jeder nur allein über
sein Glück entscheiden kann, deckt der Begriff
alles Beliebige und wird weitgehend leer, so daß
sich mit ihm keine allgemeingeltenden Verhaltensregeln
mehr begründen lassen. Jeder darf und muß
„nach seiner Fasson selig werden“. Das
führte schließlich zu der heute in der
westlichen Welt vorherrschenden liberalistischen und
pluralistischen Auffassung, daß jeder die Ziele,
die er in seinem Leben verfolge, sich selber setze
und daß die allgemeingültigen Vorschriften
sich darauf zu beschränken hätten, die Verträglichkeit
der verschiedenen Ziele zu gewährleisten.“
MalteHossenfelder:
Epikur. S. 55. |
Wenn
also das Glück – respektive die Lust –
für einen jeden Menschen in etwas anderem besteht,
dann ist es (aus Sicht der Gruppe) „beliebig“.
Das bedeutet, dass man keine Aussage darüber treffen
kann. Denn eine Aussage kann man (nach Meinung der Gemeinschaft)
nur über dasjenige treffen, was allgemeingültig
ist. Wenn das Glück für jeden Menschen in etwas
anderem besteht, müsste man viele Aussagen darüber
machen, verschiedene Aussagen über verschiedene Menschen.
Da man sich aber weigert anzuerkennen, dass es mehr als
eine Wahrheit gibt, entzieht sich ein jeder Gegenstand der
Erkenntnis, über den sich nicht eine für alle
Menschen gültige Aussage machen lässt. Jeder Mensch
darf zwar auch weiterhin nach seinem persönlichen Weg
zum Glück suchen, aber laut sprechen darf er darüber
nicht, weil die Gemeinschaft nur Dinge hören will,
die gemeinsam oder gemeinschaftlich sind.
Folgendes
Beispiel zeigt aber deutlich, dass die gemeinschaftliche
Perspektive nicht die des Einzelmenschen ist: Vor Epikur
sind die Leute auch schon gestorben; aber der Tod war kein
großes Thema für die Philosophie. Der Grund dafür
ist der, dass die Gemeinschaft nicht stirbt. Individuen
sterben, doch die Gemeinschaft lebt weiter. Erst wenn man
die Perspektive des Individuums einnimmt, wird aus dem Tod
jene Veränderung, mit der „alles aus ist“.
Erst wenn man die individuelle Perspektive einnimmt, kann
man sein Leben so leben, dass man seine zeitliche Beschränktheit
miteinbezieht. Freilich kann man auch als einzelner Mensch
sich selbst gleichsam von oben betrachten und sich als ein
Mitglied der Gemeinschaft sehen. In dem Fall tut man aber
so, als würde man ewig leben, weil die Gemeinschaft
ja nach dem Tod der eigenen Person weiterleben wird. Eigentlich
beschwindelt man sich auf diese Weise, denn das eigene Leben
ist auf die Funktionsdauer des eigenen Körpers beschränkt.
Wenn
also die Philosophen vor Epikur den einzelnen Menschen aus
der Perspektive der Gemeinschaft betrachtet haben, dann
haben sie sich damit gleichsam in die Position eines Gottes
begeben, der den Einzelmenschen überlebt, weil er sich
mit der ewiglebenden Gemeinschaft identifiziert –
und auf diese Weise konnten sie den einzelnen Menschen in
seiner zeitlichen Beschränkung, in seiner Zerbrechlichkeit
und existenziellen Tragik gar nicht sehen. Wenn man den
Einzelmenschen aus der Perspektive der Gemeinschaft sieht,
also aus der Perspektive der einen und objektiven Wahrheit,
dann sieht man den Tod nicht. Und weil der Tod für
den einzelnen Menschen wesentlich ist, ist die kollektive,
die gemeinschaftliche Perspektive die falsche, um das Leben
des einzelnen Menschen zu begreifen. Die menschliche Gemeinschaft
ist – notwendigerweise – blind für die
Todesfurcht des einzelnen Menschen, weil sie den einzelnen
Menschen überlebt, und das obwohl sie aus lauter einzelnen
Menschen besteht.
DIE
TODESFURCHT, WEIL EIN PROBLEM DES EINZELNEN MENSCHEN,
SPIELTE VOR EPIKUR IN DER PHILOSOPHIE KEINE BESONDERE
ROLLE
„Und
daß der Tod unvermeidbar ist, ist ohnehin ein
Gemeinplatz. Trotzdem spielt die Todesfurcht vor Epikur
in der Philosophie, soweit ich sehe, keine besondere
Rolle. Daß sie bei ihm so zentral wird, darf
man vielleicht ferner so deuten, daß er für
die neu aufkommenden [S. 79] Ängste der Epoche,
die aus dem Individualismus erwachsen, besonders sensibel
ist. Denn der Tod ist eine individuelle Angelegenheit,
und je deutlicher der einzelne zum Sinnträger
des Ganzen wird, um so mehr muß auch der Tod
an Bedeutung gewinnen. Wo dagegen die Gemeinschaft
Sinn und Zweck des Ganzen bildet, fällt das Ausscheiden
des einzelnen weniger ins Gewicht.“
MalteHossenfelder:
Epikur. S. 78-79 |
Erst
die individualistische Perspektive ermöglicht es dem
Menschen, darüber nachzudenken: Was ist es für
mich? Was hat es für mich für einen Wert? Wie
will ich mich dazu stellen? Wenn der Mensch die individualistische
Perspektive einnimmt, dann bezieht er die ganze Welt auf
sich. Er hört damit auf, sich auf die Welt zu beziehen,
sich als einen Teil der Weltordnung zu sehen, sondern bezieht
umgekehrt die Welt auf sich. Er fragt sich, ob ihm die Welt
so gefällt, wie sie sich ihm zeigt. Erst dadurch kommt
er zu der Frage: „Was will ICH eigentlich davon halten?“,
in der sich der Bezug von allem auf ihn ausdrückt.
Und erst mit dieser Frage kommt er zum Selberdenken. Denn
solange er sich als Teil einer größeren Ordnung
sieht, denkt er ja nur mit. Da kann er nur sagen: „Ich
sehe das so, aber mal schauen, was die anderen davon halten
und dann muss man zu einer gemeinsamen Lösung kommen.“
Er arbeitet nicht an der eigenen, sondern an der gemeinsamen
Erkenntnis. Solange man zu einer gemeinsamen Lösung
kommen muss, kann der Einzelne nicht selber denken. Damit
ein Mensch selber denken kann, muss er die gesamte Wirklichkeit
auf sich beziehen und als ihr oberster Richter sein persönliches
Urteil über sie sprechen. Solange ihm andere Menschen
dreinreden können, weil sie davon ausgehen, dass die
Wahrheit eine für alle Menschen gemeinsame ist, kann
der einzelne Mensch nicht selber denken. Es besteht dann
die Grundvoraussetzung für seine geistige Autonomie
nicht: dass man ihn denken lässt, dass man ihn zu seinen
eigenen Schlüssen kommen lässt.
Solange
der Mensch geistig in der gemeinsamen Welt mit den anderen
Menschen lebt, ist die Erkenntnis ein Herumgezerre. Jeder
packt ein Thema oder eine Aussage und versucht, sie ein
Stück in die Richtung zu ziehen, die er für die
richtige hält. Das ist der richtige Weg, um zu politischen
Kompromissen und wissenschaftlichen Gesetzen zu kommen,
aber auf diesem Weg ist keine persönliche Erkenntnis
zu erlangen. Warum nicht? Deshalb, weil ich ja sofort in
eine andere Richtung gezogen werde, sobald in einen Denkschritt
in die Richtung setze, in der ich die Wahrheit vermute.
Sobald ich einen ersten Gedanken fasse, lässt man mich
schon keinen zweiten mehr denken, weil man meinen ersten
schon als absurd und unmöglich bezeichnet. In einer
Diskussion ist man wie mit Ketten an die anderen Diskussionsteilnehmer
angehängt und kann keinen eigenen Denkweg gehen. Deshalb
kann man nur dann nachdenken, wenn man sich zurückzieht.
Nur wenn man für sich ist, kann man für sich nachdenken
und herausfinden, was man selber für richtig hält.
Diesen
Rückzug nennt die Gruppe „Privatisierung“.
Denn für die Gruppe ist die Öffentlichkeit der
Ort, wo Wahrheit festgestellt wird. Alles, was also nicht
in der Öffentlichkeit verhandelt und ausgemacht wird,
kann aus der Sicht der Gemeinschaft keine Erkenntnis sein.
Das Private ist dasjenige, was dem Öffentlichen entzogen
ist, worauf die Öffentlichkeit keinen Zugriff hat.
Lust und Schmerz sind privat, weil der einzelne Mensch sie
allein empfindet und die anderen Menschen ihm nicht dabei
dreinreden können, weil die Emotionen ihnen verborgen
bleiben. Indem Epikur Lust und (das Vermeiden von) Schmerz
zum Zentrum seiner Philosophie gemacht hat, hat er es dem
einzelnen Menschen erst ermöglicht, selbst zu denken
und zu philosophieren, denn er hat ihm einen Ausgangspunkt
und ein Kriterium zur Hand gegeben, über das er allein
die Kontrolle behält und bei dem ihm niemand von außen
das Urteil absprechen kann. Erst die Existenz eines solchen
Maßstabes im Menschen, den die anderen Menschen nicht
wahrnehmen können, ermöglicht es dem einzelnen
Menschen, selbst zu denken und seine eigene Beschreibung
der Wirklichkeit anzufertigen, die für ihn wahr ist,
wenn auch andere Menschen nicht mit ihr einverstanden sein
mögen.
DIE
PRIVATISIERUNG DER WERTE ALS KONSEQUENZ DES HELLENISTISCHEN
INDIVIDUALISMUS
„Der
Individualismus nun führt zur Privatisierung
aller Werte, wie wir sie bei Epikur angetroffen haben.
Die Gedanken mögen etwa diesen Weg genommen haben:
Höchster Wert ist das Heil des individuellen
Menschen. […Anm.: Hossenberger erklärt
den Begriff „telos“.] Wenn nun der einzelne
Mensch dieser Endzweck sein soll, dann muß jeder
einzelne alle seine Zwecke schlechthin, einschließlich
seiner selbst als Endzweck, sich selbst gesetzt haben.
Denn angenommen, alle Zwecke seien zwar um des einzelnen
willen, aber nicht von ihm selbst gesetzt, dann ließe
sich dies nur so denken, daß eine übergreifende
Ordnung existierte, durch die eine Wert- und Zweckhierarchie
festgelegt wäre, durch die also bestimmt würde,
daß das Individuum Zweck alles Übrigen
sei. Aber in diesem Fall wäre eben diese Ordnung
der höchste Zweck; denn wenn gefragt würde,
warum alle Dinge um des einzelnen willen zu geschehen
hätten, so wäre zu antworten: „Damit
die vorgegebene Ordnung erfüllt werde“,
und erst die Frage nach dem Sinn dieser Ordnung wäre
nicht mehr beantwortbar (es sei denn man ginge noch
einen Schritt weiter und beriefe sich etwa auf einen
göttlichen Willen als [S. 54] höchstes Gut).
Wenn der einzelne dagegen alle seine Zwecke selbst
setzt, dann allein ist er der absolute Endzweck; denn
auf die Frage, warum gerade diese und nicht andere
Zwecke für ihn gölten, gibt es nur die Antwort:
„Weil er es so will.“ Die Privatisierung
aller Werte und Zwecke ist somit eine Konsequenz des
hellenistischen Individualismus.“
MalteHossenfelder:
Epikur. S. 53-54. |
Die
Gemeinschaft regiert auf „Privatisierung“ mit
Entwertung. Wenn das Glück, auf Griechisch: Eudämonie,
etwas ist, das vom Lustempfinden des einzelnen Menschen
abhängt und von Mensch zu Mensch verschieden sein kann,
dann ist es offenbar nichts Objektives, nichts Reales, sondern
nur ein „psychologisches Phänomen“. Wenn
etwas als „psychologisches Phänomen“ bezeichnet
wird, dann soll damit zum Ausdruck gebracht werden, dass
es nicht mehr als eine bloße Einbildung ist, ein Spleen,
ein Hirngespinst eines Menschen.
KONSEQUENZ:
GLÜCK WIRD ZU EINEM "PSYCHOLOGISCHEN PHÄNOMEN"
- ZU EINER BLOSSEN EINBILDUNG
„Die
strikte Subjektivierung der Eudämonie im Hellenismus
hatte die weitere Folge, daß die Eudämonie
zu einem rein psychologischen Phänomen wurde,
das seinen Wert nicht mehr aus der Übereinstimmung
mit der Weltordnung, sondern ganz aus sich selbst
schöpfen mußte. Epikur umschreibt den Zustand
der Glückseligkeit, wie vor ihm schon der Skeptiker
Pyrrhon, mit ataraxia, was wir gemeinhin
mit „Seelenruhe“ übersetzen. Die
Stoiker gebrauchen den Ausdruck apatheia.
Gemeint ist jedesmal dasselbe, nämlich das Freisein
von jeglicher Erregung, die Ruhe und Ausgeglichenheit
des Gemüts, der vollkommene innere Friede, vergleichbar
mit der „Meeresstille“.“
MalteHossenfelder:
Epikur. S. 56. |
Mich
hat die Lektüre von Hossenfelders Buch über Epikur
an die Definition von Philosophie von José Ortega
y Gasset erinnert: Bilanz ziehen mit sich selber. „Was
habe ich erwartet, und was ist dabei herausgekommen?“
Philosophieren besteht darin, dass man mit sich selbst übereinkommt
– und nicht darin, dass man mit den Anderen zu einer
gemeinsamen Einsicht gelangt. „Bilanz ziehen“
bringt das zum Ausdruck: Der einzelne Mensch macht mit sich
selber seine Wahrheit aus. Beim Philosophieren streben wir
nicht nach einer gemeinsamen Wahrheit. Wir wollen ja nur
wissen, was wir selber wirklich denken. Das können
wir aber nur allein finden, wenn man uns in Ruhe lässt.
Die
Tatsache, dass in der Philosophie der einzelne Mensch die
Wahrheit mit sich selber ausmacht, hat auch die Konsequenz,
dass es keine Philosophie gibt; jedenfalls gibt es sie nicht
als (gemeinsames) Fach, bei dem man nur mitreden kann, wenn
man darüber Bescheid weiß. Auch die Vorstellung,
dass es Philosophieprofessoren gibt, die das Fach Philosophie
vertreten und die deshalb dafür qualifiziert sind,
weil sie besonders viel über das gemeinsame philosophische
Wissen wissen, ist absurd. Im Grund sind die Existenz des
Fachs Philosophie und von Philosophieprofessoren nur Versuche
der Gesellschaft, die einzelnen Menschen einzuschüchtern
und sie vom selbstständigen Philosophieren abzuhalten.
Indem die Gesellschaft sagt: „Deine Gedanken sind
doch dumm und peinlich; hör lieber diesem oder jenem
anerkannten Philosophen zu – der kann viel besser
philosophieren als du!“ – hält sie uns
vom Philosophieren ab.
Professoren
der Philosophiegeschichte kann es natürlich schon geben,
denn es kann sehr inspirierend sein, von den Gedanken früherer
Menschen zu erfahren, so wie uns etwa Malte Hossenfelder
diejenigen von Epikur vermittelt.
Nach der Lektüre seines Buches hatte ich Lust, diesen
Text zu schreiben, weil man mir während meines Studiums
an der Universität öfter gesagt hatte, der Individualismus
sei eine späte Entwicklung in der Geschichte, die Menschen
des Mittelalters bis herauf ins 18. Jahrhundert hätten
sich noch nicht als Individuen begriffen und überhaupt
sei der Individualismus eine oberflächliche Erscheinung
und man könne nicht davon ausgehen, dass die Menschen
sich selbst wirklich als Individuen auffassen. Blödsinn
– mit dem hellenistischen Individualismus war schon
alles da. Und im Grunde noch früher: Mit dem platonischen
Höhlengleichnis war schon alles da. Die Idee, dass
die Gesellschaft mir vielleicht etwas vorschwindelt und
ich selbst mir ein eigenes Urteil bilden muss, weil ich
niemandem außer mir selbst trauen kann, ist der erkenntnistheoretische
Individualismus in der Philosophie von Platon und Sokrates.
Im Grund liegt der Individualismus sogar in der Idee der
Philosophie selber, wie sie die Vorsokratiker entwickelt
haben. In der Gestalt nämlich, dass man religiöse
Vorstellungen und gesellschaftliche Traditionen nicht einfach
so hinnehmen kann, sondern über sie nachdenken sollte,
was von ihnen gut und richtig ist und was nicht. Die Philosophie
kam als kritische Auseinandersetzung mit der gemeinsamen
Wahrheit auf die Welt, also als Abkehr von dieser Gemeinsamkeit.
Sie hat die Form: „Ihr alle sagt das und das, ich
aber halte etwas anderes für richtig.“
Und,
auch wenn ich mich wiederhole: Wenn wir miteinander philosophisch
diskutieren, dann erinnert euch daran, dass es dabei nicht
um die gemeinsame Erkenntnis geht, sondern um die Überzeugungen,
mit denen ich leben muss. Sagt also nicht etwas in der Art
von: „Das ist kompletter Blödsinn!“ und
„So kann man das nicht sehen!“ und was man sonst
so sagt, wenn man bestrebt ist, einem Gesprächspartner
die Kompetenz zur Mitbestimmung der gemeinsamen Erkenntnis
abzusprechen. Denn es geht beim Philosophieren nicht um
die gemeinsame Erkenntnis, sondern um den philosophierenden
Menschen und um die Vorstellungen in seinem Kopf, die ihn
glücklich oder unglücklich machen. Dass es in
der Philosophie um den einzelnen Menschen und um seine persönliche
Lebensqualität geht – und nicht um die Gruppe
und ihre gemeinsame Wahrheit – folgt daraus, dass
Epikur das Lustprinzip ins Zentrum seiner Philosophie gestellt
hat. Nicht die Lust folgt daraus oder die Gier nach Genuss,
sondern die Autonomie des einzelnen Menschen über seine
eigene Erkenntnis. Dass die anderen Menschen einem nichts
dreinreden können, weil sie nicht wahrnehmen können,
wie man selbst die Welt erlebt, ist aus meiner Sicht der
Kern der Philosophie Epikurs. In diesem Text wollte ich
nur festhalten, dass es dieser Umstand ist, der das Selberdenken
erst ermöglicht. Denn nur über die eigene Weltsicht
kann man selber, also ungestört und unbeeinträchtigt
durch die Anderen, nachdenken.
JOSÉ
ORTEGA Y GASSETS DEFINITION VON PHILOSOPHIE ALS BILANZMACHEN
MIT SICH SELBER
"Es
handelt sich also um die Notwendigkeit, dass der Mensch
periodisch die Rechnungen jenes Geschäfts klarstellen
muss, welches sein Leben ist und für das nur
er verantwortlich ist, indem wir von der Optik, in
der wir sehen und in der wir die Dinge erleben, insofern
wir Mitglieder der Gesellschaft sind, zu derjenigen
Optik zurückkehren, in der die Dinge erscheinen,
wenn wir uns in unsere Einsamkeit zurückziehen.
In der Einsamkeit ist der Mensch seine Wahrheit –
in der Gesellschaft tendiert er dazu, ihre bloße
Konventionalität oder Falsifikation zu sein.
In der authentischen Realität des Menschlichen
Erlebens ist die Verpflichtung zum häufigen Rückzug
zum einsamen Untergrund von einem selbst inkludiert.
Dieser Rückzug, in dem wir von den bloßen
Wahrscheinlichkeiten, wenn nicht gar einfachen Schwindeln
und Illusionen, in denen wir leben, ihre Beglaubigungen
authentischer Realität verlangen, ist das, was
man mit einem affektierten, lächerlichen und
verwirrenden Namen Philosophie nennt."
José
Ortega y Gasset: El hombre y la gente. Alianza
Editorial, Madrid 1980. S. 105-106. [Übersetzung:
Helmut Hofbauer]
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