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Dissertation: Bezugspunkt Gesellschaft

Lust als Voraussetzung für Philosophie

Wie Epikur und der hellenistische Individualismus das Selberdenken ermöglichten

2.2.2019

In Malte Hossenfelders Buch Epikur (C.H. Beck, München 1991, 3. Aufl. 2006 (1991)) habe ich ein Motiv wiedergefunden, das auch mich schon umtreibt, solange ich philosophiere. Es geht dabei um die Bedingungen der Möglichkeit dafür, dass man als einzelner Mensch überhaupt selbstständig über etwas nachdenken kann und darum, wie diese Bedingungen von anderen Menschen– und auch von berühmten Philosophen – immer wieder diskreditiert und schlecht gemacht werden.

Ich möchte das Problem vorab kurz in eigenen Worten formulieren, damit man gleich weiß, worum es geht, bevor ich auf einige Details eingehe.

Epikur hat die Lust zum Zentrum seiner Philosophie gemacht hat, damit hat er dem einzelnen Menschen einen Orientierungspunkt gegeben, den er selbst in der Hand hat. Denn wie etwas in Wirklichkeit genau ist, das wissen wir nicht; aber ob es uns Spaß oder Verdruss macht, empfinden wir unmittelbar.

Lust und Schmerz als Orientierungshilfe für das eigene Handeln haben den Vorteil, dass sie Bullshit-resistent sind. Denn wenn uns etwas Spaß macht oder Genuss bereitet, brauchen wir keinen weiteren Grund, um es zu tun. Anders verhält es sich bei Dingen wie Gesundheit oder Nützlichkeit: Hier kann man uns leicht etwas einreden, und die guten Ratschläge haben gewöhnlich die Form „Das ist zwar nicht angenehm, aber es ist gesund!“; „Das macht zwar keinen Spaß, aber es ist nützlich!“ Die Tatsache, dass wir keinen unmittelbaren emotionalen Zugang zu dem haben, was gesund oder nützlich für uns ist, macht es möglich, dass uns allerhand Bullshit eingeredet wird.

Die Orientierung an Lust und Schmerz ermöglicht es dem einzelnen Menschen also, sich an ihm selbst, an seinem individuell eigenen Bezugssystem zu orientieren. Zu einem Menschen, der sein eigenes Orientierungssystem zur Orientierung im Leben verwenden, sagen wir auch, dass er „selbst denkt“. Es wäre ein Wunder, wenn nicht andere Menschen, die etwas dagegen haben, dass der einzelne Mensch sich selbst orientiert und die gern Macht über andere Menschen gewinnen wollen, ihm nicht einreden wollten, dass die Lust zur Orientierung nichts taugt.

Es gibt da mehrere Punkte, an denen man ansetzen kann, um zu argumentieren, dass sie Lust nichts Gutes oder zumindest nichts Wertvolles ist. Hier jene Angriffspunkte, die schon am Anfang der Philosophie, von Sokrates, Platon und Aristoteles, bearbeitet wurden:

  1. Alles Gute und Wahre ist dauerhaft; Lust aber kennzeichnet einen Übergang. Zum Beispiel begleitet sie das Essen vom Zustand des Hungers bis zum Moment, wo Sättigung eintritt. Weil Lust also nicht ist, sondern im Werden ist, ist sie minderwertig.
  2. Nach dem Motto „Teile und herrsche!“ sagt man, es gebe verschiedene Lüste, gute und schlechte. An die guten solle man sich halten, an die schlechten nicht. Die Konsequenz: Sobald man daran glaubt, kann man sich nicht mehr am eigenen Lustempfinden orientieren, sondern muss sich an einem Kriterium orientieren, das einem sagt, welche Lüste gut sind und welche schlecht.
  3. Motto „Teile und herrsche!“, Version 2. Man sagt: Nicht das Lustempfinden aller Menschen ist gut, sondern nur dasjenige guter bzw. vorbildlicher Menschen. Wenn du also kein vorbildlicher Mensch bist, ist deine Lust Schrott, und du solltest dich nicht an ihr orientieren. Als Ergebnis kommt heraus, dass du dich am großen Philosophen orientieren sollst, weil er der Meinung ist, er selber sei ein vorbildlicher Mensch. Diese Argumentation ist also nichts weiter als eine Strategie, sich selbst als jemanden hinzustellen, der dafür qualifiziert ist, anderen Menschen Anweisungen zu erteilen.

Nun noch der wichtige Abschlussstein meiner Argumentation: Es geht mir darum, dass man sich nicht ein bisschen an sich selber orientieren kann und im Übrigen im herkömmlichen Orientierungssystem verbleibt. Wenn man es tut, muss man es ganz tun, sonst funktioniert es nicht. Selberdenken ist allerdings damit verbunden, dass man bestimmte Überzeugungen aufgibt, an die wir gewöhnt sind und ohne die viele Menschen nicht leben können.

Allen voran die Vorstellung, dass wir in einer gemeinsamen Welt leben: Wenn wir die Wirklichkeit als eine Realität betrachten, die wir mit allen anderen Menschen teilen, dann verhalten wir uns so, als würden wir aus unserem Körper heraussteigen und die Welt aus einer zeitlosen Vogelperspektive betrachten. Wir berücksichtigen dann nicht mehr, dass wir als einzelne Menschen sterblich sind. Diese Tatsache hat Epikur in seinem berühmten Aphorismus zum Ausdruck gebracht, dass wir keine Angst vor dem Tod haben müssen, weil wir ihn noch nicht spüren, solange wir noch leben, und ihn nicht mehr spüren, sobald wir tot sind. Solang wir noch da sind, ist er noch nicht da, und sobald er da ist, sind wir nicht mehr da.

Dieses Argument, schreibt Hossenfelder, wäre in der Philosophie vor Epikur unmöglich gewesen. Denn damals stellte man sich vor, dass die Welt dauerhaft ist und der einzelne Mensch nur seinen Beitrag zu ihr leistet. Deshalb hätte man damals auch gesagt, dass der einzelne Mensch nur dann glücklich sein kann, wenn er seinen Beitrag zur Welt leistet, so wie es der Weltordnung entspricht. Diese Weltsicht setzt aber eine Orientierung an der Weltordnung voraus und ist nicht kompatibel mit einer solchen, wo der einzelne Mensch sich an sich selber, an seinem eigenen Orientierungssystem, orientiert.

Ich möchte das in diesem Text einmal festhalten, weil ich glaube, dass es etwas ist, das viele Menschen noch nicht wissen: Man kann als einzelner Mensch nur dann selbst denken, wenn man die Welt als etwas sieht, das verschwindet, sobald man stirbt. Wenn man die Welt als etwas sieht, das nach dem eigenen Tod fortbestehen wird, dann geht es einem um die gemeinsame Welt – und in dem Fall wird man erfahren müssen, dass man sich über sie keine eigene Meinung bilden darf, weil es im öffentlichen Raum andere Meinungsmacher gibt, die mächtiger sind als man selber und größeren Einfluss auf die öffentliche Meinung haben. Über die gemeinsame Welt sagen uns diejenigen, die von der Gesellschaft als Opinion Leaders anerkannt werden, was wir über sie zu denken haben. Unser selbstständiges Denken hört auf, wo die Öffentlichkeit und die gemeinsame Welt anfangen.

Über die gemeinsame Welt kann der einzelne Mensch nicht nachdenken. Das heißt, er kann es schon, aber es ist sinnlose Kraftverschwendung, weil er nicht gehört werden wird. Selber nachdenken kann man folglich nur über diejenige Welt, in der man selber – und zwar: ganz allein – lebt. Jene Welt, die wieder ins Nichts verschwinden wird, sobald ich tot bin. Jene Welt, die ich wahrnehme und empfinde.
Diese Einsicht erinnert mich an die Definition von Philosophie, die ich bei José Ortega y Gasset gefunden habe. Philosophie sei, so Ortega, wenn man Bilanz mit sich selber mache. Was habe ich erwartet, was erreicht? Habe ich das erreicht, was ich erwartet habe? Wenn nicht, warum bin ich enttäuscht worden.

Das Wesentliche dieser Definition von Philosophie besteht darin, dass in ihr der einzelne Mensch seine Wahrheit mit sich selber ausmacht. Er macht Bilanz mit sich. Er vergleicht seine frühere Wahrnehmung der Welt (Erwartungen) mit der jetzigen (Ergebnisse), und niemand hat ihm etwas dabei dreinzureden, weil niemand außer ihm selber dafür kompetent ist. Das bedeutet auch, dass es so etwas wie eine Diskussion in der Philosophie nicht gibt. Philosophische Fragen werden nicht in Diskussionen entschieden, sondern der einzelne Mensch entscheidet sie für seine eigene Person in der Abgeschiedenheit seines eigenen Gewissens. Philosophie ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.

Das wissen viele Menschen nicht; deshalb halten sie Philosophie für die öffentliche (gemeinsame) Diskussion von gesellschaftlich relevanten (=alle Menschen betreffenden) Fragen durch anerkannte Philosophen (=Stellvertreter, die für uns denken). Dass man als einzelner Mensch in dieser gemeinsamen Welt von Gründen und Folgerungen seine eigene, persönliche Wahrheit nicht finden wird können, davon handelt dieser Text. Es bedarf eines radikalen Wechsels der Perspektive, um als Einzelner selber denken zu können, eines Wechsels, der so radikal ist wie jener, in dem man sagt: „Wenn ich einmal nicht mehr lebe, dann wird es auch die Welt, in der ich gelebt habe, nicht mehr geben!“

Hossenfelder bezeichnet diese Perspektive als den „hellenistischen Individualismus“, der im Gegensatz zur klassischen griechischen Philosophie steht. Es ist ja nicht verwunderlich, dass das Selberdenken ein bestimmtes Maß an Individualismus erfordert. Das ist ja durchaus anzunehmen. Was allerdings die meisten Menschen nicht schlucken werden können, ist, dass das Selberdenken so viel Individualismus und Eigensinn erfordert, dass man sich aus der gemeinsamen Welt ausklinkt und seine eigene Beschreibung der Wirklichkeit anfertigt.

Die meisten Menschen glauben, es wäre möglich, selbstständig zu denken, indem man über die gemeinsame Welt nachdenkt. Das Resultat davon sind zahlreiche Kommentatoren von Wissenschaft und Politik, die nicht gehört werden. Aber das ist eben nicht möglich, weil man keine eigene Meinung zur gemeinsamen Welt haben kann. Eine eigene Meinung kann man nur zur eigenen Welt haben, zu der Welt, in der man als mit Bewusstsein ausgestattetes Individuum allein und exklusiv lebt.

Der Grund, warum das so ist, liegt darin, dass sich sofort Menschen finden werden, die einem die Urteilsfähigkeit absprechen wollen, sobald man über die gemeinsame Welt urteilt. Man wollte ja nur seine eigene Meinung sagen, aber sie ist eine über die gemeinsame Welt – und deshalb wird sie von den anderen Menschen nicht als die Meinung eines einzelnen Menschen sondern als ein Urteil über die gemeinsame Welt aufgefasst. Mit einem Wort: als etwas, das bekämpft werden muss. Als etwas, das im Namen des Kampfes um die gemeinsame Wahrheit vor dem einzelnen Menschen beschützt und ihm deshalb entrissen werden muss.

Die hier beschriebene Dynamik steht im krassen Gegensatz zum uns gesetzlich zugesicherten Recht der freien Meinungsäußerung. Aber freie Meinungsäußerung wäre nur dann möglich, wenn die Menschen dazu fähig wären, zu sagen: „Es ist nur seine Meinung!“, wenn jemand seine Meinung zu einem Thema äußert. Wenn sie sich nicht sofort angegriffen fühlten, wenn jemand eine Meinung äußert, die von der Mehrheitsmeinung abweicht.

In der politisierten Realität unserer heutigen Welt scheint aber eine solche Toleranz nicht möglich zu sein. Was ich wahrnehme ist, dass eine jede Meinungsäußerung als eine Aufforderung an alle übrigen Menschen aufgefasst wird, ebenso zu denken wie derjenige, der die Meinung geäußert hat. Woraus sich als Konsequenz ergibt, dass man diese Meinung mit aller Macht bekämpfen muss, wenn man nicht so denken will, wie sie es vorschlägt, weil sie sonst die gemeinsame Welt verpestet und sie zu einer macht, in der man nicht leben möchte. Zu einer, die von fremden und unliebsamen Überzeugungen geprägt ist.

Ein möglicher Lösungsweg aus diesem Dilemma wäre: Wir treffen die Unterscheidung zwischen Wissenschaft als Diskussion über die gemeinsame Welt und Philosophie als die Erörterung der individuellen Lebenserfahrung des einzelnen Menschen – und verbreiten diese Unterscheidung, sodass möglichst viele Menschen von ihr wissen. Nur dann kann es möglich werden, dass Menschen, die philosophieren und ihre eigene Lebenserfahrung aufarbeiten, nicht mehr mit Hass und Aggression begegnet wird, weil man meint, sie möchten sich in ungerechtfertigter Weise an der gemeinsamen Welt vergreifen.

STRATEGIEN DER ENTWERTUNG EINZELMENSCHLICHER ORIENTIERUNGSRESSOURCEN

STRATEGIE 1 (SOKRATES): ENTWERTUNG DES VERGÄNGLICHEN (DES WERDENS) DURCH UNTERSCHEIDUNG VOM DAUERHAFTEN (SEIN)

„Fragt man nach dem Grund der Ablehnung der Lust, so wird er wohl letztlich im sokratischen Erkenntnisideal zu finden sein. Aus der Vorstellung, daß die Wahrheit zu jeder Zeit und für jedermann gilt, entstand die Auffassung, daß das Wahre und Gute unwandelbar und in allen Instanzen dasselbe sein müsse. Folglich kann etwas, das vergänglich ist, kein wahres Gut sein. Vor diesem Hintergrund wird die Ablehnung der Lust verständlich, […] [d]enn wenn die Lust ein bloßer Übergang ist, dann ist klar, daß sie kein Gut sein kann. So lautet das wichtigste Argument der radikalen Lustgegner (in Aristoteles‘ Referat): Die Lust „ist überhaupt kein Gut, weil alle Lust ein wahrnehmbares Werden zum Naturgemäßen ist, kein Werden aber den Endzuständen artverwandt ist, wie kein Hausbau dem Haus“ ([Nikomachische Ethik] 1152b 12ff.) […] [D]as Argument […] zerlegt alles Werden, d.h. jeden dynamischen Prozeß, in zwei Teile, […] in die eigentliche dynamische Entwicklung und einen daraus resultierenden statischen Zustand. Von diesem letzteren nimmt es an, daß er zugleich der Zweck des ganzen Prozesses sei, während das Werden nur das Mittel dazu darstelle. Daraus ergibt sich dann, daß der Endzustand, als Zweck, der Ordnung des Guten angehören muß und also das Werden, da keiner anderen Ordnung zugehörig, kein Gut sein kann. Da nun die Lust ein Werden ist, so ist sie kein Gut (Platon Phil[ebos]. 53 c ff.).“

MalteHossenfelder: Epikur. C.H. Beck, München 2006, 3. Aufl. (1991). S. 45-46.

Nach dieser Auffassung muss also das Gute ein Zustand sein, die Lust aber begleitet einen Übergang und kann deshalb nichts Gutes sein. Mit anderen Worten: So wie man eigentlich ein Haus haben will, wenn man ein Haus baut, und einem der Hausbau bloß lästig ist, so ist einem auch die Lust beim Essen bloß lästig, weil man sich ja im Grunde nur ernähren möchte. Man sieht, was beim Beispiel des Hausbaus richtig sein mag, weil er mühsam ist, trifft beim Essen schon nicht mehr zu. Und im Ganzen fragt sich, ob dieses sokratische Argument dem menschlichen Leben überhaupt entspricht? Damit es ihm entsprechen würde, müsste das Wesen des menschlichen Lebens mehr Zustand sein als Werden, mehr Zielerreichung als Auf-dem-Weg-Sein. Das ist aber nicht der Fall, weshalb eine Beurteilung des Lebens, die davon ausgeht, dass Übergänge und Phasen der Veränderung minderwertig sind, das Menschenleben in seiner Hauptsache entwertet.

Umgekehrt muss man natürlich auch danach fragen, woher denn die sokratischen Beurteilungskriterien kommen. Und wenn man sie sich ansieht – dass die Wahrheit jederzeit und für alle Menschen gilt – dann erkennt man, dass es dieselben sind, die in der Wissenschaft bis heute gelten. Das sind also keine Flausen, die Sokrates dazu bewogen haben, vergängliche individuelle Erlebnisse zu entwerten. Sondern: Wenn man den Fokus auf diejenigen Phänomene scharfstellt, die (a) für alle Menschen gleich sind, (b) an verschiedenen Orten gleich sind, (c) jeweils so dauerhaft sind, dass sie sich klar sehen und beschreiben lassen, dann fallen tendenziell alle Wahrnehmungen unter den Tisch, die individuell und flüchtig sind. Es fallen damit aber auch genau diejenigen Erfahrungen unter den Tisch, über die Individuen sich oft gerne mit ihren Mitmenschen verständigen würden, denn: Wenn man einen Vorgang ebenso erlebt wie die Anderen, dann hat man in der Regel auch kein Problem damit; nur wenn man etwas anders erlebt als die Anderen, möchte man es den Anderen mitteilen.

Aber wenn es im kollektiven Verständnis natürlich gar nicht vorgesehen ist, dass ein einzelner Mensch einen bestimmten Vorgang anders erleben kann als die anderen (weil das Wahre und Gute für alle Menschen dasselbe sein müssen), dann geht das natürlich nicht. Dann kann man nur schweigen, wenn einem bei der Temperatur, die den anderen Menschen angenehm erscheint, kalt ist. Man hat dann eine Empfindung, die nicht vorgesehen ist und in gewisser Weise auch nicht sein darf.

Die Grundeinstellung, dass dasjenige, was mehr Menschen betrifft und länger dauert, wahrer und relevanter ist als dasjenige, das weniger Menschen betrifft und flüchtiger ist, führt zu einer Art Demokratisierung der Wahrheit. Zwar nicht in der Art, dass man über die Wahrheit einer Aussage abstimmen könnte, aber doch in der Weise, dass von vornherein bevorzugt dasjenige thematisiert wird, was „von allgemeinem Interesse“ ist. Akademikern ist diese Haltung bekannt: Was nur dich selber interessiert, ist gar nicht wahrheitsfähig. Zuvor muss man argumentieren, dass die Beantwortung einer bestimmten Frage für möglichst viele Menschen von Bedeutung ist, dann erst kann man damit beginnen, sie zu beforschen.

Aufgrund der Überbewertung des Kollektiven in der wissenschaftlich-akademischen Haltung ist sie umgekehrt ein effektives Hindernis dagegen, dass ein einzelner Mensch einmal eine Frage deshalb bearbeiten könnte, weil sie ihn persönlich tatsächlich interessiert.

STRATEGIE 2 (PLATON): TRENNUNG DER LUST IN ZWEI ARTEN, EINE LOBENSWERTE UND EINE TADELNSWERTE

„Platon setzt sich in seinem Spätdialog Philebos mit dem Hedonismus auseinander und entwickelt dort eine eigene Lusttheorie – mit beträchtlichem metaphysischem Aufwand. Er stellt die Frage, ob Lust oder Erkenntnis das höchste Gut sei, und kommt zu dem Ergebnis, daß weder das eine noch das andere für sich allein ausreiche, sondern das höchste Gut in einer Verbindung beider bestehe. […] Warum […] Platon, der im übrigen in seiner Philosophie allem sinnlichen Erleben nicht eben zugetan ist, […] den Hedonismus nicht vollständig ablehnt, bleibt Spekulation. Jedoch ist er bemüht, die Bedeutung der Lust erheblich einzuschränken. Zu diesem Zweck unterteilt er die Lust in zwei Arten, von denen nur die eine Teil des höchsten Gutes sei. Zur Bestimmung der ersten greift er auf das gängige Lustmodell zurück, nach dem Unlust die Zerstörung des natürlichen Zustands und Lust die Rückkehr in den naturgemäßen Zustand sei. Demnach sei diese Lust nie rein, sondern stets mit Unlust gemischt, weil sie ja der Übergang vom einen Zustand in den anderen sei, also nur so lange statthabe, wie noch nicht alle Unlust beseitigt sei, mit Erreichen dieses Zieles aber endige. Daneben gebe es jedoch eine Art von Lust, die rein und unvermischt mit Unlust sei. Als Beispiel nennt Platon die ästhetischen Genüsse schöner Formen, Klänge u. ä., ferner die Lust an der theoretischen Erkenntnis und – mit leichtem Unbehagen – die Freude an Wohlgerüchen. In allen diesen Fällen könnte man nicht sagen, daß die Lust an eine Unlust geknüpft sei. Und nur diese reinen Lüste dürfe man dem höchsten Gute zurechnen, und auch sie nur an fünfter und letzter Stelle; die mit Unlust vermischten dagegen zählten nicht zu den Gütern.“

MalteHossenfelder: Epikur. S. 47-48.

Wir haben es also wieder mit demselben Leitmotiv zu tun: Lust ist ein Übergang, ein Werden, kein Zustand. Neu ist hier der Aspekt der Reinheit. Elemente, die sich verändern, lassen sich nicht in ihrer Reinheit herauspräparieren. Eben deshalb kann man ja nicht sagen, dass sie „sind“: Sie halten nicht still und lassen sich in Ruhe anschauen. Was Platon nun macht, ist, dass er zwei Arten von Lust unterscheidet und zwar entlang der Achse Werden/Sein bzw. Übergang/Zustand. Alle Lüste, die Übergänge sind, sind böse, weil sie mit Unlust vermischt sind; aber Platon kann sich auch Lüste vorstellen, die Zustände sind und als solche rein und unvermischt. Es sind das ästhetische Genüsse (z.B. der Genuss der schönen Künste), die Lust an der theoretischen Erkenntnis und Wohlgerüche. (Die Wohlgerüche dürften Paton reingerutscht sein, ergeben sich aber rein logisch, weil man immer noch was riecht, auch wenn man satt und vollgefressen ist.)

Was aber für unseren Zusammenhang wesentlich ist – und Hossenfelder stellt das auch ausführlich dar – ist, dass die Unterscheidung von mehreren Lustarten mit dem Prinzip, dass man sich im praktischen Leben am Lustgefühl orientiert, im Gegensatz steht. Wenn man sich an der Lust orientiert, dann muss man jedes Lustgefühl annehmen und es kann nur mehr und weniger Lust geben. Wenn man hingegen zwischen guten und nicht so guten Lustgefühlen unterscheidet, dann orientiert man sich nicht am Lustgefühl selbst, sondern an dem Kriterium, mit dem man zwischen guten und nicht so guten Lustgefühlen unterscheidet. Und dieses Kriterium ist selbst kein Lustgefühl. (Diesen Fehler hat auch John Stuart Mill in seiner Schrift Utilitarianism aus dem Jahr 1861 gemacht; der Utilitarismus orientiert sich nämlich auch an der Lust (happiness), weswegen seinen Vertretern auch vorgeworfen wurde, dass sie Schweine seien.)

Bei Platon sieht es so aus, als hätte er das Reine und Beständige als Qualitätskriterium für die guten Gelüste ausgewählt. Aber vielleicht ist diese Interpretation auch irreführend. Anzunehmen ist, dass einfachere Menschen weniger Sinn für ästhetische Genüsse haben als sozial höherstehende und reichere. Es könnte sich also genauso gut um eine verklausulierte soziale Unterscheidung zwischen den Primitiven und den Kultivierten handeln. Eine neutral klingende Unterscheidung wie die zwischen dem Reinen und dem Vermischten half Platon dabei, bestimmte Menschen auszuschließen, ohne zugeben zu müssen, dass er sie ausschließen und andere Menschen bevorzugen wollte. Denn er scheint ja gar nicht über Menschen zu reden, sondern über das Reine im Allgemeinen.

Wenn man die Strategie fährt, die Orientierung an der Lust durch ein weiteres Prinzip, das zwischen guten und schlechten Lüsten unterscheidet, auszuhebeln, dann läuft das am Ende darauf hinaus, dass man es den Menschen scheinbar gestattet, ihr eigenes Orientierungssystem (ihr Lustempfinden) zu gebrauchen, ihnen im selben Atemzug diese Erlaubnis aber wieder entzieht, indem man sagt: „Aber das Kriterium, welche Lüste gut sind, das habe ich.“

ARISTIPP: WARUM MAN NICHT ZWISCHEN QUALITATIV VERSCHIEDENEN LUSTARTEN UNTERSCHEIDEN KANN

„Was Aristipp bekämpft, ist die qualitative Unterscheidung verschiedener Lustarten, sofern sie zugleich einen Wertunterschied begründen soll, der nicht rein quantitativ ist. […] Nimmt man zwei verschiedene Lustarten, z.B. körperliche und seelische Lust, von denen die eine wertvoller sein soll als die andere, so bleiben zwei Möglichkeiten. Entweder der Wertunterschied liegt in dem, was beiden gemeinsam ist und was sie zur Lust macht, dann kann er nur quantitativ sein, d.h. in der einen Art ist mehr von derselben Gegebenheit als in der anderen. Oder der Wertunterschied beruht auf dem, was in beiden verschieden ist, in den artbildenden Eigenheiten, dann ist die Lust nicht das höchste Gut, von dem alle anderen Werte abgeleitet sind, denn der Wertunterschied der beiden Lustarten ist auf etwas anderes als Lust zurückzuführen. Deswegen gibt Platon in seiner Hedonismuskritik sich große Mühe, mehrere Lustarten qualitativ wertend zu unterscheiden (Phil. 12 c ff.).“

MalteHossenfelder: Epikur. S. 39-40.

 

Aristoteles‘ Argumentation ist wie die von Platon in grün. Es ist nicht die Lust, die darüber entscheidet, ob etwas gut ist, sondern ob etwas seinem Begriff entspricht, entscheidet, ob es gut ist. Beispielsweise ist es so, dass die Pferde dem Begriff des „Pferds“ entsprechen und dass sie mögen, was man von einem Pferd erwartet, dass es mag. Aber bei den Menschen ist das nicht so. Deshalb muss Aristoteles den Begriff des „vorzüglichen Menschen“ (spoudaios) bilden, das ist derjenige, der dem Begriff des „Menschen“ voll und ganz entspricht – und alle anderen Menschen sind verdorben. Im Gegensatz zu Platon unterscheidet er nicht zwischen guten und nicht so guten Lüsten; gleich bleibt, dass er ein Kriterium über die Lust entscheiden lässt.

So entscheidet bei ihm die Lust nicht darüber, was vorzüglich ist, sondern die Vorzüglichkeit entscheidet darüber, was als „Lust“ bezeichnet werden darf. Wenn also ein primitiver Mensch etwas tut, das ihm Spaß macht, darf man es nicht als „Lust“ bezeichnen, weil er nicht die Lust empfindet, die „sich gehört“ und sie auch nicht bei einer Tätigkeit empfindet, die „sich gehört“.

Am Ende kommt heraus, dass Aristoteles sich selbst als diesen spoudaios ansieht, er hat sich seine Philosophie auf seine eigene Person zugeschnitten. Ein ordentlicher, ernstzunehmender Mensch ist nach Aristoteles derjenige, dem dieselben Sachen Spaß machen wie ihm selber.

STRATEGIE 3 (ARISTOTELES): NICHT DAS LUSTEMPFINDEN ALLER MENSCHEN IST GUT, SONDERN NUR DAS VON VORBILDLICHEN MENSCHEN

„Ebenso wie Platon bewertet auch Aristoteles die Lüste unterschiedlich, aber er teilt sie dazu nicht in zwei verschieden zu bewertende Klassen ein, sondern ordnet jeder [Tätigkeit], eine spezifische Lust zu und macht den Wert der letzteren abhängig vom Wert der ersteren: Ist die Tätigkeit selbst von hohem Rang, so ist es auch die sie vollendende Lust, und umgekehrt ist die Lust einer minderwertigen Tätigkeit selbst minderwertig. Die Einstufung der Tätigkeiten nun geschieht bei Aristoteles, wie die Bewertung der Lüste bei Platon, mit Hilfe metaphysischer Begriffe. Zum einen verwendet auch er das Kriterium der Reinheit […], [z]um anderen ordnet Aristoteles jedem Lebewesen eine bestimmte Tätigkeit wesensmäßig zu […]. Für das Pferd, den Hund, den Menschen ist jeweils etwas anderes lustvoll, für alle Pferde aber dasselbe. Auf die Menschen freilich trifft dies letztere nicht zu, da die Lustempfindungen bei ihnen stark variieren und den einen angenehm, was den anderen zuwider ist. Um dieser Schwierigkeit zu begegnen, greift Aristoteles, wie so oft, auf den Begriff des „vorzüglichen Menschen“ (spoudaios) zurück. Da dieser den Wesensbegriff des Menschen am vollkommensten verkörpert, bildet er den objektiven Maßstab; was er als Lust empfindet, das ist auch wirklich Lust für den Menschen, wogegen davon abweichende Lustgefühle nicht Lust genannt werden dürfen; daß sie dennoch vielen so erscheinen, liegt an der Verderbtheit ihrer Natur. Von den dem Menschen „geziemenden“ Lüsten nun sind diejenigen, die seine wesensmäßigen Tätigkeiten vollenden, seine „eigentlichen“ Lüste, die übrigen sind es nur „in einem sekundären und noch entfernteren Sinne“ (NE 1176a 24ff.)
[…] Am wertvollsten ist das, was dem begrifflichen Wesen, durch das jedem sein Platz im Kosmos zugewiesen ist, am vollkommensten entspricht. Folglich ist diejenige Lust des Menschen die wertvollste, die seine Vernunfttätigkeit vollendet, weil sie die ihm, als dem vernunftbegabten Lebewesen, eigentümliche ist […]. So kommt erwartungsgemäß heraus, daß Aristoteles‘ eigene Lust, die Lust am philosophischen Denken, die beste ist.“

MalteHossenfelder: Epikur. S. 50-51.

 

Bei Aristoteles sieht man am deutlichsten, wie arschlochmäßig diese Art von Philosophie ist. Er verhält sich anderen Menschen gegenüber wie ein Arschloch: Er ist intolerant und gesteht ihnen nicht zu, dass sie etwas anderes toll finden und anders empfinden könnten als er selber. Er gesteht ihnen nicht zu, anders zu sein als er. Aber vergessen wir nicht: Das ist nicht einfach eine Konsequenz des intoleranten Charakters von Aristoteles, sondern es ist eine Konsequenz des Ausgangspunkts, den er mit Sokrates und Platon teilt. Dieser Ausgangspunkt besteht in der Vorstellung einer gemeinsamen Welt, über die man nachdenkt, und in der alle anderen Menschen, Tiere und Dinge ihren Platz haben. Wenn nun Aristoteles über diese gemeinsame Welt und ihre Weltordnung nachdenkt, dann ist es unvermeidlich, dass sie zu Aristoteles‘ Welt wird und dass sie ihm zu einem Versuch gerät, allen anderen Menschen vorzuschreiben, nach der Fasson von Aristoteles zu leben. Zur Notiz auch für alle Denker der interkulturellen Philosophie: Wenn man Vielfalt haben will, darf man nicht von Einheit ausgehen.

Sokrates und Platon machen es nicht anders. Auch sie gehen von einer Weltordnung aus, die für alle Menschen gilt. Wenn sie es den anderen Menschen zugestehen würden, selbst zu denken und ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, dann müssten Sokrates, Platon und Aristoteles in ihren eigenen Weltentwürfen den anderen Menschen einen Freiraum reservieren, in dem die anderen ihre eigenen Vorstellungen entwickeln und zu anderen Schlüssen kommen dürfen als die drei großen Philosophen der klassischen Philosophie. Dazu müssten sie allerding bereit sein zuzugestehen, dass ein anderer Mensch die Welt vielleicht anders sieht, als sie es tun, andere Dinge wertschätzt und an anderen Dingen Gefallen findet als sie. Mit einem Wort, die eine Welt, die sie erdacht haben, würde dann zerfallen in so viele verschiedene Welten wie es verschiedene Menschen gibt.

Im Grunde sind die Philosophien von Sokrates, Platon und Aristoteles Übungen im Disempowerment. Im Englischen gibt es den schönen Begriff des Empowerments. Man meint damit, dass man andere Menschen dazu ermutigt und sie dabei unterstützt, sich auf ihre eigenen Fähigkeiten zu besinnen und selbst aktiv zu werden, um ihre Probleme zu lösen. Sokrates, Platon und Aristoteles machen das Gegenteil davon: Sie entmutigen die Menschen. Sie sagen: „Wenn du es auf deine Art machst, machst du es falsch!“ Sie machen das, indem sie dasjenige schlecht machen, was den anderen Menschen als Orientierungshilfe zur Verfügung steht: ihr eigenes Lustempfinden. Stattdessen versuchen sie, die anderen Menschen von sich selbst abhängig zu machen, indem sie sagen: „Nur wenn du dich an mir orientierst, machst du es richtig!“ Am schamlosesten macht das Aristoteles, indem er sagt: „Ich bin ein vorzüglicher Mensch; und nur wenn du das Leben ebenso erlebst wie ich, bist du auch in Ordnung!“

Was dabei natürlich mit herauskommt, ist: „So wie ich sollst du leben, auch wenn dir das gar keinen Spaß macht!“ Exemplifiziert wird diese intolerante Haltung durch den Begriff der Eudämonie, des griechischen Glücks. Glücklich kann man nämlich nach Vorstellung der klassischen griechischen Philosophie sogar sein, ohne dass man es spürt. Also: Du bist glücklich, wenn man dir sagt, dass du glücklich bist.

GLÜCK BEI ARISTOTELES: MAN KANN GLÜCKLICH SEIN, OHNE ES ZU MERKEN!

„Ich habe im vorigen Abschnitt schon erwähnt, daß eudaimonia in der vorhellenistischen Zeit einen objektiven, „äußerlichen“ Zustand meint. So faßt Aristoteles das Glück auf als „Tätigsein der Seele im Sinne der ihr wesenhaften Tüchtigkeit“, und er versteht darunter die vollendete Verwirklichung der Rolle, die dem Menschen innerhalb einer teleologisch geordneten Welt aufgrund seines Wesens zukommt (NE 1098 a 16, Übers. Dirlmeier). Eudämonie hängt bei ihm demnach nicht vom persönlichen Bewußtsein ab, sondern ist ein objektiver Tatbestand, von dem sogar denkbar ist, daß jemand ihn erfüllt, ohne es selbst zu wissen, daß also jemand glücklich ist, ohne es zu merken, eine für uns, die wir durch den Hellenismus geprägt sind, absurde Vorstellung. Zwar besteht auch für die griechischen Klassiker die Eudämonie nicht mehr wesentlich in äußerem Wohlergehen, sondern ist hauptsächlich ein Zustand der Seele, aber wann dieser Zustand erreicht ist, darüber entscheidet nicht das Befinden des Betroffenen, vielmehr ergibt es sich aus der metaphysischen Weltordnung: Wir sind dann glücklich, wenn wir in jeder Hinsicht, äußerlich wie innerlich, in dem Zustand weilen, der uns von der kosmischen Ordnung angewiesen ist.“

MalteHossenfelder: Epikur. S. 54.

 

ERMÖGLICHUNG DES SELBSTÄNDIGEN DENKENS DURCH DEN „HELLENISTISCHEN INDIVIDUALISMUS“

Die Möglichkeit, selbst zu denken, hat für den einzelnen Menschen zur Voraussetzung, dass er die Möglichkeit hat, anderer Meinung zu sein. Ebendeshalb gibt es in der Wissenschaft nicht die Möglichkeit zum selbstständigen Denken, weil es in ihr um die Beschreibung einer gemeinsamen Wirklichkeit geht, in der es für den einzelnen Menschen kein Raum bleibt, anderer Meinung zu sein. Selbstständiges Denken ist im Grunde nur dort möglich, wo der eine Mensch sagt: „Ich trinke lieber Tee!“ – und der andere: „Und ich habe lieber Kaffee!“ – und beide recht haben. Kurz: Selbstständiges Denken ist nur bei Geschmacksurteilen möglich. Weil man nur bei Geschmacksurteilen ein eigenes Urteil trifft. Bei Faktenurteilen trifft man Urteile über die gemeinsame Realität; und das steht einem nicht zu, weil einem die gemeinsame Realität nicht gehört, weil die gemeinsame Realität der menschlichen Gemeinschaft gehört.

Der „hellenistische Individualismus“, wie Hossenfelder es nennt, hat es ermöglicht, eine Perspektive auf die Welt zu entwickeln, aus der der einzelne Mensch die Welt und das Leben als einzelner Mensch beurteilt, so wie er es erlebt und empfindet. Die einzelmenschliche Perspektive ist der kollektiven Perspektive entgegengesetzt, die von den Philosophen der klassischen Epoche – z.B. Sokrates, Platon und Aristoteles – entwickelt wurde. In der kollektiven Perspektive sieht der einzelne Mensch sich in einer Welt, in der auch andere Menschen leben und die vor seiner Geburt schon bestanden hat und nach seinem Tod weiterbestehen wird. Die einzelmenschliche Perspektive ist eine solche, in der die Welt mit der Geburt des einzelnen Menschen entsteht, mit seinem Tod erlischt und nur für ihn existiert.

Ein solches Argument wie das folgende von Epikur über den Tod, sagt Hossenfelder, wäre in der klassischen griechischen Philosophie nicht möglich gewesen. Ich bringe es vor, um damit zu unterstreichen, dass man nicht ein bisschen anders denken muss, wenn man selbst denken will, als in der naiv-realistischen Weise, in der wir alle als Kinder anfangen zu denken, sondern ganz anders. Denn wie Sokrates, Platon und Aristoteles tendieren ja alle Menschen zuerst einmal dahin, die Welt als beständig anzusehen und sich danach zu fragen, wo unser Platz in ihr ist. Man muss schon diese gesamte Weltsicht nehmen und sie konsequent umkehren, um dort anzukommen, wo Epikur stand. Im individualistischen Denken ist nicht der einzelne Mensch Teil der Welt und muss sich einfügen, sondern, ganz umgekehrt, das Individuum ist Sinn und Zweck der Welt. Und die Welt ist nicht so, wie sie objektiv ist, sondern so, wie das Individuum sie erlebt und empfindet.

Nur im individualistischen Denken kommt man zu dem Schluss, wie Epikur: Sobald ich tot bin, spüre ich nichts mehr und daher existiert auch die Welt für mich nicht mehr! Menschen, die im Weltbild der gemeinsamen Welt leben, würden sagen, dass die Welt nach ihrem Tod weiterbesteht. Und indem sie so denken, tun sie so, als würden sie selbst nach ihrem Tod von einem Platz im Himmel her ihren Liebsten auf der Erde noch beim Weiterleben zuschauen können. Und indem Sie Anteil nehmen am Fortgang der Dinge in der Welt nach ihrem Tod, erfüllen sie sie auch mit emotionalen Wert und machen ihr Glück von Dingen abhängig, die sie, weil sie nach ihrem Tod stattfinden, gar nicht mehr erleben können.

Ich würde mal schätzen, dass ein Gutteil der Argumente von Sokrates, also solche von der Art, dass es immer besser sei, Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun, ihre Voraussetzung in einer beständigen Welt haben, in der der einzelne Mensch auch noch nach seinem Tod in gewisser Weise weiterlebt (z.B. in Gestalt seines guten oder schlechten Rufs im Gedächtnis anderer Menschen) und sich deshalb um Dinge kümmern sollte, die nach seinem Tod passieren. Auch die Idee, dass man einen Menschen nur dann glücklich nennen könne, wenn sein ganzes Leben erfolgreich verlaufen ist und auch sein Tod geglückt ist, kommt aus dieser Ecke. Man hatte Vorbehalte, einen Menschen glücklich zu nennen, der ein tolles Leben geführt, aber wie ein Feigling gestorben ist, weil sein Tod einen Makel auf sein Leben gebracht hat. Damit verleugnet man aber, dass jemand, der tot ist, nichts mehr empfinden kann und deshalb auch nicht glücklich sein kann. In diese Art von Widersprüchen gelangt man, wenn man sich nicht aus der Schizophrenie löst, die darin besteht, dass man sich als einzelner Mensch als Teil einer gemeinsamen Welt sieht. Denn in dieser schizophrenen Sicht sieht man Welt einmal mit seinen eigenen Augen; zugleich aber erhebt man sich auch über den eigenen Körper und sieht sich selbst so, wie einen die anderen Menschen sehen, man sieht sich mit den Augen der Gemeinschaft, die einen betrachtet, nachdem man schon gestorben ist und entwickelt auf diese Weise Vorstellungen und Emotionen, die fiktiv sind, weil man das ja gar nicht wissen kann, wie einen die Anderen nach dem Tod beurteilen werden.

EPIKURS ARGUMENT ÜBER DEN TOD - "WÄRE IN DER KLASSIK NICHT MÖGLICH GEWESEN"

„[Zitat von Epikur:]„Das schaurigste der Übel also, der Tod, geht uns nichts an, denn solange wir sind, ist der Tod nicht da, wenn aber der Tod da ist, dann sind wir nicht mehr. Er geht also weder die Lebenden an noch die Toten, denn bei den einen ist er nicht und die anderen sind nicht mehr.“ (Men. 124 f.).

Ein solches Argument wäre in der Klassik nicht möglich gewesen. Es verfängt nur unter der Voraussetzung, daß das Individuum Sinn und Zweck der Welt ist, so daß jedes Gut oder Übel allein von seinem eigenen Empfinden abhängt und alles, was es nicht empfinden, wessen es sich selbst nicht bewußt werden kann, ohne jegliche Bedeutung für es ist. Nur dann kann Epikur sagen: „Der Tod geht uns nichts an. Denn was sich aufgelöst hat, hat keine Empfindung. Was aber keine Empfindung hat, das geht uns nichts an“ (HL 2).“

MalteHossenfelder: Epikur. S. 81-82.

 

Im Grund ist der Perspektivenwechsel von der klassischen Philosophie zum hellenistischen Indvidualismus derselbe, der auch in dem bekannten philosophischen Rätsel zum Ausdruck kommt, ob ein Baum ein Geräusch macht, wenn er in einem Wald umfällt, in dem niemand ihn hört. Die Menschen, die sich selbst für realistisch halten, sagen dann: „Das ist klar, dass der Baum auch dann ein Geräusch verursacht, wenn niemand ihn hört.“ Und ich würde sagen, dass man ihnen auch aus der Perspektive des individualistischen Menschen zustimmen kann: Es ist anzunehmen, dass der Baum auch dann ein Geräusch macht, wenn ihn niemand hört. Jedenfalls ist das so, wenn die Definition von Geräusch nicht darin besteht, dass es gehört wird, sondern darin, dass Schallwellen verursacht werden. Was die Realisten aber nicht verstehen, ist, dass niemand über diesen Baum reden würde, der umgefallen ist, ohne dass ein Mensch in seiner Nähe war und sein Umgefallen wahrgenommen hat.

Diese Überlegung zeigt, wie merkwürdig das Beispiel selbst schon ist: Man erzählt uns von einem Baum, der im Wald umgefallen sein soll und dabei ein Geräusch gemacht haben soll. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Möglich sind folgende zwei Varianten: Erstens, man erzählt uns nicht von diesem Baum, weil man nicht dort war und deshalb auch gar nicht weiß, dass er umgefallen ist. Zweitens, man erzählt uns von einem Baum, der im Wald umgefallen ist, und man weiß davon, weil man ihn dabei gehört hat. Unmöglich aber ist, dass man uns von einem Baum erzählt, der im Wald ein Geräusch gemacht hat, weil er umgefallen ist, ohne dass man sein Umfallen gehört hat und ohne dass man überhaupt weiß, dass er umgefallen ist. Sieht man, was hier verkehrt herum ist: Die Tatsache, dass umfallende Bäume Geräusche machen, hat noch nicht zur Folge, dass man von einem konkreten Baum weiß, der im Wald umgefallen ist.

Was den Realisten wichtig ist, ist, dass die objektive Realität unabhängig von unserer Wahrnehmung besteht. Was mir in meiner Interpretation des philosophischen Rätsels wichtig ist, ist, dass die objektive Realität unabhängig von unserer Wahrnehmung keine Relevanz für uns hat. Wenn man uns zugibt, dass sie keine Relevanz für uns hat, können wir leicht zugeben, dass sie in ihrer Objektivität unabhängig von unserer Wahrnehmung besteht.

Epikur argumentiert ebenso: Relevant ist für den einzelnen Menschen nur dasjenige, was er wahrnimmt (empfindet). Umgefallene Bäume mögen irgendwo in Wäldern liegen, aber wenn sie von niemandem wahrgenommen worden sind, sind sie egal. Und wenn der Mensch durch den Tod sein Bewusstsein verliert, kann er gar nichts mehr wahrnehmen, und die ganze Welt wird ihm gleichgültig. Daraus folgt, dass die Welt für den Menschen nur so ist, wie er sie erlebt. Wenn ein anderer Mensch sie anders empfindet, lebt er in einer anderen Welt.

Für die Philosophie als selbstständiges Nachdenken hat das die Konsequenz, dass ich mich als einzelner Mensch nur dann mit meiner Weltsicht auseinandersetzen kann, wenn ich mich auf meine eigenen Wahrnehmungen konzentriere. Die Wahrnehmungen anderer Menschen sind mir nur dann hilfreich, wenn sie mich nicht von meinen eigenen Wahrnehmungen ablenken. Zum Beispiel könnten sie mich auf etwas hinweisen, das mir noch nicht aufgefallen ist; dann sind sie eine Bereicherung. Wenn sie aber zu dem Zwecke kommuniziert werden, damit ich aufhöre, die Dinge so zu empfinden, wie ich sie empfinde und sie anstatt dessen so empfinden soll wie mein Gesprächspartner (der sich für einen spoudaios hält wie Aristoteles), dann ist das kein philosophischer Austausch, sondern nur Ausübung von weltanschaulichem Druck.

Am dümmsten ist es aber, wenn man sich als einzelner Mensch darauf einlässt, über die gemeinsame Welt zu diskutieren. Denn dann wird man schnell feststellen, dass es mächtigere Menschen gibt, als man selber und dass deren Wort mehr Gewicht hat als das eigene. Über die gemeinsame Welt zu diskutieren ist vergleichbar mit dem Spiel, wo mehrere Menschen auf verschiedenen Seiten ein Handtuch festhalten und jeder versucht, es ein Stück in seine Richtung zu ziehen. Was dabei herauskommt, sind Kompromisse in einzelnen Fragen, mit denen niemand glücklich ist, aber kein Weltbild aus einem Guss, mit dem ein Mensch leben könnte. Es ist aus dem Grund verwunderlich, wenn Menschen, die philosophieren und sich eine eigene Meinung bilden möchten, sich in die öffentliche Diskussion stürzen. Eine öffentliche Diskussion ist ein umkämpftes Feld, in dem man gar nicht die Ruhe hat, sich eine eigene Meinung zu bilden, und wenn man schon eine hat, wird sie einem weggenommen oder es werden einem die Fähigkeiten und Qualifikationen dazu abgesprochen.
In der Öffentlichkeit zu philosophieren ist so ähnlich wie der Versuch, stehend in einer vollbesetzten U-Bahn ein Bild zu malen. Es wird jedem klar sein, dass man sich zurückzieht, wenn man malen will.

EPIKURS ARGUMENT ÜBER DEN TOD - SETZT DEN EINZELMENSCHEN ANS STEUER SEINES EIGENEN LEBENS

„Epikur argumentiert: Der Tod besteht in der Auflösung der Seele. Folglich endet mit ihm all unser Empfinden, unser Bewußtsein. Gut und Übel aber sind reine Bewußtseinsgegebenheiten. Also kann der Tod weder gut noch übel sein, er betrifft uns überhaupt nicht. Diese Argumentation zeigt deutlich die veränderte Grundauffassung Epikurs gegenüber der Klassik. Werte sind keine objektiven Gegebenheiten mehr, die in der Weltordnung verankert wären und unabhängig davon, ob sie jemand wahrnimmt oder nicht, bestünden. Vielmehr sind sie an das subjektive Empfinden gebunden, und zwar des jeweiligen Individuums. Denn der Tod ist individuell, er trifft nur den einzelnen, und wenn er dadurch, daß er das Bewußtsein des einzelnen auslöscht, sämtliche Werte, die für den Betroffenen gelten, aufhebt, so beweist das, daß für Epikur der einzelne sich alle seine Werte selbst setzt, daß er allein darüber entscheidet, was für ihn gut oder übel ist und niemand anders dies a priori aus der Weltordnung ablesen kann.“

MalteHossenfelder: Epikur. S. 51-52.

 

DIE KONSEQUENZEN DES HELLENISTISCHEN INDIVIDUALISMUS FÜR DIE PHILOSOPHIE FÜR DIE ETHIK

Die für mich eigentlich interessante Erkenntnis folgt jetzt: Durch den hellenistischen Individualismus bekommt der einzelne Mensch vielleicht zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte sein Urteil über seine eigenen Angelegenheiten in die eigene Hand. Weil: Nur er selbst spürt, was gut oder übel für ihn ist; da kann ihm niemand was dreinreden. Doch was passiert jetzt? Was ist die Konsequenz davon? Die Konsequenz davon ist, dass diese Erkenntnis, die nur dem einzelnen Menschen gehört, für die menschliche Gemeinschaft oder Gesellschaft uninteressant wird.
Denn die Gemeinschaft ist nur an solchen Erkenntnissen interessiert, die für alle Menschen gelten. Oder sogar umgekehrt, und noch stärker: Die Gemeinschaft definiert als Erkenntnis überhaupt nur das, was für alle Menschen (oder: alle vernünftigen Wesen) gilt. Damit fällt natürlich die Erkenntnis für den einzelnen Menschen nach der Auffassung der Gemeinschaft aus der Erkenntnis hinaus. Wenn das Glück für jeden Menschen in etwas anderem besteht, dann kann es, nach Meinung der kollektiven Vernunft, vom Glück keine Erkenntnis geben. Man könne über das Glück, so lautet die Folgerung, nur sagen, dass es verschieden ist und dass jeder nach seiner Fasson glücklich werden muss.

Soweit, so nachvollziehbar. Aber man sollte sich eben doch auch überlegen, was das heißt. Das heißt nämlich letztlich, dass die wichtigsten und wertvollsten Erkenntnisse für das Individuum, nämlich diejenigen, die es darüber aufklären, wie es im Unterschied zu den anderen Menschen leben soll, aus Sicht der Gruppe gar keine Erkenntnisse sind – und damit auch keinerlei Wert besitzen.

Vielleicht lässt sich das mit einem Vergleich verdeutlichen: Wir glauben ja bis heute, dass die Wissenschaft die beste und vertrauenswürdigste Erkenntnis ist. Und dass aus diesem Grund die klügsten Menschen am meisten nach wissenschaftlichen Erkenntnissen leben sollten, also gleichsam ein wissenschaftliches Leben führen sollten. Aber was würde passieren, wenn wir alle ein wissenschaftliches Leben führen würden? Die Wissenschaft ist eine kollektive Erkenntnisform, d.h. sie formuliert nur solche Erkenntnisse, die für alle Menschen gelten. Würde die Wissenschaft also danach fragen, was die beste Lebensform für alle Menschen ist, so würde zum Beispiel herauskommen, dass alle Menschen Krankenschwestern und Krankenpfleger werden sollten. Sie kann ja nur eine Antwort zulassen, sonst würde sie nicht für alle Menschen gelten. Und was nicht für alle Menschen gilt, kann nach wissenschaftlichem Verständnis nicht wahr und nicht Erkenntnis sein. Also würde niemand mehr Schuster werden, es würde keine Bäcker und Bauern und Werbefachleute mehr geben. Und noch viele weitere Berufe würde es nicht mehr geben, weil man die individuelle Vielfalt nicht zulassen würde. Eine Vielfalt möglicher Antworten ist ja nichts anderes als die Abkehr von der einen, richtigen Erkenntnis. Die Folge wäre, dass es uns an Schuhen, Kleidung, Nahrung, Werbeprospekten zum Wegwerfen und vielem mehr mangeln würde, weil alle dem gleichen Ratschlag folgen müssten.

Die Wissenschaft mit ihrer Eine-Größe-passt-für-alle-Wahrheit“ würde also behaupten, wenn jemand für sich herausfindet, welche Neigungen und Talente er hat und welchen Beruf er ergreifen will, dann sei das keine Erkenntnis und sei deshalb auch nicht der Rede wert, weil das keine Erkenntnis ist, die für alle Menschen gilt. Oft sagen wissenschaftliche Menschen es auch so: Herauszufinden, was ein bestimmter Mensch will, ist nicht von allgemeinem Interesse. Und was nicht von allgemeinem Interesse ist, das existiert für die wissenschaftlichen Menschen nicht. Woraus umgekehrt folgt: Wer mit wissenschaftlicher Haltung durchs Leben geht, verliert den Blick für den Wert individueller Einsichten. Was auch der Grund ist, warum ich meine, es muss neben der Wissenschaft noch etwas anderes geben, das „Philosophie“ heißen sollte, weil sich sonst niemand um die individuellen Erkenntnisse kümmert und weil es beim Philosophieren doch traditionell ums Selberdenken geht.
Denn wenn es um den Umgang mit Dingen geht, dann behält die Wissenschaft ja immer recht: So unterschiedlich die Menschen auch sind, es wird trotzdem immer nur einen besten Weg geben, einen Kuchen zu backen oder einen Kühlschrank zu bauen. Aber wenn es um das Menschenleben geht, dann kann die Wissenschaft nicht sagen, wie es objektiv gelebt werden soll, ohne den konkreten Menschen, um den es geht, zu fragen, wie der denn leben will. Der Irrtum der wissenschaftlichen Menschen, die an die Allgemeingültigkeit der Wahrheit glauben, besteht in der Folge darin, dass sie meinen, individuelle Einsichten lassen sich nicht argumentieren und es mache keinen Sinn, sie anderen Menschen mitzuteilen. Auf diese Weise raubt die Wissenschaft dem einzelnen Menschen weitgehend die Möglichkeit, sich mit seinen Mitmenschen zu vergleichen und aus ihrem Beispiel für sein eigenes Leben zu lernen.

KONSEQUENZ: DER GLÜCKSBEGRIFF, WEIL INDIVIDUELL, VERLOR FÜR DIE MORALLEHRE AN WERT

„Diese radikale Privatisierung hatte im weiteren Verlauf der Geschichte zur Folge, daß der Glücksbegriff für die Morallehre immer mehr an Wert verlor. Denn dadurch, daß jeder nur allein über sein Glück entscheiden kann, deckt der Begriff alles Beliebige und wird weitgehend leer, so daß sich mit ihm keine allgemeingeltenden Verhaltensregeln mehr begründen lassen. Jeder darf und muß „nach seiner Fasson selig werden“. Das führte schließlich zu der heute in der westlichen Welt vorherrschenden liberalistischen und pluralistischen Auffassung, daß jeder die Ziele, die er in seinem Leben verfolge, sich selber setze und daß die allgemeingültigen Vorschriften sich darauf zu beschränken hätten, die Verträglichkeit der verschiedenen Ziele zu gewährleisten.“

MalteHossenfelder: Epikur. S. 55.

 

Wenn also das Glück – respektive die Lust – für einen jeden Menschen in etwas anderem besteht, dann ist es (aus Sicht der Gruppe) „beliebig“. Das bedeutet, dass man keine Aussage darüber treffen kann. Denn eine Aussage kann man (nach Meinung der Gemeinschaft) nur über dasjenige treffen, was allgemeingültig ist. Wenn das Glück für jeden Menschen in etwas anderem besteht, müsste man viele Aussagen darüber machen, verschiedene Aussagen über verschiedene Menschen. Da man sich aber weigert anzuerkennen, dass es mehr als eine Wahrheit gibt, entzieht sich ein jeder Gegenstand der Erkenntnis, über den sich nicht eine für alle Menschen gültige Aussage machen lässt. Jeder Mensch darf zwar auch weiterhin nach seinem persönlichen Weg zum Glück suchen, aber laut sprechen darf er darüber nicht, weil die Gemeinschaft nur Dinge hören will, die gemeinsam oder gemeinschaftlich sind.

Folgendes Beispiel zeigt aber deutlich, dass die gemeinschaftliche Perspektive nicht die des Einzelmenschen ist: Vor Epikur sind die Leute auch schon gestorben; aber der Tod war kein großes Thema für die Philosophie. Der Grund dafür ist der, dass die Gemeinschaft nicht stirbt. Individuen sterben, doch die Gemeinschaft lebt weiter. Erst wenn man die Perspektive des Individuums einnimmt, wird aus dem Tod jene Veränderung, mit der „alles aus ist“. Erst wenn man die individuelle Perspektive einnimmt, kann man sein Leben so leben, dass man seine zeitliche Beschränktheit miteinbezieht. Freilich kann man auch als einzelner Mensch sich selbst gleichsam von oben betrachten und sich als ein Mitglied der Gemeinschaft sehen. In dem Fall tut man aber so, als würde man ewig leben, weil die Gemeinschaft ja nach dem Tod der eigenen Person weiterleben wird. Eigentlich beschwindelt man sich auf diese Weise, denn das eigene Leben ist auf die Funktionsdauer des eigenen Körpers beschränkt.

Wenn also die Philosophen vor Epikur den einzelnen Menschen aus der Perspektive der Gemeinschaft betrachtet haben, dann haben sie sich damit gleichsam in die Position eines Gottes begeben, der den Einzelmenschen überlebt, weil er sich mit der ewiglebenden Gemeinschaft identifiziert – und auf diese Weise konnten sie den einzelnen Menschen in seiner zeitlichen Beschränkung, in seiner Zerbrechlichkeit und existenziellen Tragik gar nicht sehen. Wenn man den Einzelmenschen aus der Perspektive der Gemeinschaft sieht, also aus der Perspektive der einen und objektiven Wahrheit, dann sieht man den Tod nicht. Und weil der Tod für den einzelnen Menschen wesentlich ist, ist die kollektive, die gemeinschaftliche Perspektive die falsche, um das Leben des einzelnen Menschen zu begreifen. Die menschliche Gemeinschaft ist – notwendigerweise – blind für die Todesfurcht des einzelnen Menschen, weil sie den einzelnen Menschen überlebt, und das obwohl sie aus lauter einzelnen Menschen besteht.

DIE TODESFURCHT, WEIL EIN PROBLEM DES EINZELNEN MENSCHEN, SPIELTE VOR EPIKUR IN DER PHILOSOPHIE KEINE BESONDERE ROLLE

„Und daß der Tod unvermeidbar ist, ist ohnehin ein Gemeinplatz. Trotzdem spielt die Todesfurcht vor Epikur in der Philosophie, soweit ich sehe, keine besondere Rolle. Daß sie bei ihm so zentral wird, darf man vielleicht ferner so deuten, daß er für die neu aufkommenden [S. 79] Ängste der Epoche, die aus dem Individualismus erwachsen, besonders sensibel ist. Denn der Tod ist eine individuelle Angelegenheit, und je deutlicher der einzelne zum Sinnträger des Ganzen wird, um so mehr muß auch der Tod an Bedeutung gewinnen. Wo dagegen die Gemeinschaft Sinn und Zweck des Ganzen bildet, fällt das Ausscheiden des einzelnen weniger ins Gewicht.“

MalteHossenfelder: Epikur. S. 78-79

 

Erst die individualistische Perspektive ermöglicht es dem Menschen, darüber nachzudenken: Was ist es für mich? Was hat es für mich für einen Wert? Wie will ich mich dazu stellen? Wenn der Mensch die individualistische Perspektive einnimmt, dann bezieht er die ganze Welt auf sich. Er hört damit auf, sich auf die Welt zu beziehen, sich als einen Teil der Weltordnung zu sehen, sondern bezieht umgekehrt die Welt auf sich. Er fragt sich, ob ihm die Welt so gefällt, wie sie sich ihm zeigt. Erst dadurch kommt er zu der Frage: „Was will ICH eigentlich davon halten?“, in der sich der Bezug von allem auf ihn ausdrückt. Und erst mit dieser Frage kommt er zum Selberdenken. Denn solange er sich als Teil einer größeren Ordnung sieht, denkt er ja nur mit. Da kann er nur sagen: „Ich sehe das so, aber mal schauen, was die anderen davon halten und dann muss man zu einer gemeinsamen Lösung kommen.“ Er arbeitet nicht an der eigenen, sondern an der gemeinsamen Erkenntnis. Solange man zu einer gemeinsamen Lösung kommen muss, kann der Einzelne nicht selber denken. Damit ein Mensch selber denken kann, muss er die gesamte Wirklichkeit auf sich beziehen und als ihr oberster Richter sein persönliches Urteil über sie sprechen. Solange ihm andere Menschen dreinreden können, weil sie davon ausgehen, dass die Wahrheit eine für alle Menschen gemeinsame ist, kann der einzelne Mensch nicht selber denken. Es besteht dann die Grundvoraussetzung für seine geistige Autonomie nicht: dass man ihn denken lässt, dass man ihn zu seinen eigenen Schlüssen kommen lässt.

Solange der Mensch geistig in der gemeinsamen Welt mit den anderen Menschen lebt, ist die Erkenntnis ein Herumgezerre. Jeder packt ein Thema oder eine Aussage und versucht, sie ein Stück in die Richtung zu ziehen, die er für die richtige hält. Das ist der richtige Weg, um zu politischen Kompromissen und wissenschaftlichen Gesetzen zu kommen, aber auf diesem Weg ist keine persönliche Erkenntnis zu erlangen. Warum nicht? Deshalb, weil ich ja sofort in eine andere Richtung gezogen werde, sobald in einen Denkschritt in die Richtung setze, in der ich die Wahrheit vermute. Sobald ich einen ersten Gedanken fasse, lässt man mich schon keinen zweiten mehr denken, weil man meinen ersten schon als absurd und unmöglich bezeichnet. In einer Diskussion ist man wie mit Ketten an die anderen Diskussionsteilnehmer angehängt und kann keinen eigenen Denkweg gehen. Deshalb kann man nur dann nachdenken, wenn man sich zurückzieht. Nur wenn man für sich ist, kann man für sich nachdenken und herausfinden, was man selber für richtig hält.

Diesen Rückzug nennt die Gruppe „Privatisierung“. Denn für die Gruppe ist die Öffentlichkeit der Ort, wo Wahrheit festgestellt wird. Alles, was also nicht in der Öffentlichkeit verhandelt und ausgemacht wird, kann aus der Sicht der Gemeinschaft keine Erkenntnis sein. Das Private ist dasjenige, was dem Öffentlichen entzogen ist, worauf die Öffentlichkeit keinen Zugriff hat. Lust und Schmerz sind privat, weil der einzelne Mensch sie allein empfindet und die anderen Menschen ihm nicht dabei dreinreden können, weil die Emotionen ihnen verborgen bleiben. Indem Epikur Lust und (das Vermeiden von) Schmerz zum Zentrum seiner Philosophie gemacht hat, hat er es dem einzelnen Menschen erst ermöglicht, selbst zu denken und zu philosophieren, denn er hat ihm einen Ausgangspunkt und ein Kriterium zur Hand gegeben, über das er allein die Kontrolle behält und bei dem ihm niemand von außen das Urteil absprechen kann. Erst die Existenz eines solchen Maßstabes im Menschen, den die anderen Menschen nicht wahrnehmen können, ermöglicht es dem einzelnen Menschen, selbst zu denken und seine eigene Beschreibung der Wirklichkeit anzufertigen, die für ihn wahr ist, wenn auch andere Menschen nicht mit ihr einverstanden sein mögen.

DIE PRIVATISIERUNG DER WERTE ALS KONSEQUENZ DES HELLENISTISCHEN INDIVIDUALISMUS

„Der Individualismus nun führt zur Privatisierung aller Werte, wie wir sie bei Epikur angetroffen haben. Die Gedanken mögen etwa diesen Weg genommen haben: Höchster Wert ist das Heil des individuellen Menschen. […Anm.: Hossenberger erklärt den Begriff „telos“.] Wenn nun der einzelne Mensch dieser Endzweck sein soll, dann muß jeder einzelne alle seine Zwecke schlechthin, einschließlich seiner selbst als Endzweck, sich selbst gesetzt haben. Denn angenommen, alle Zwecke seien zwar um des einzelnen willen, aber nicht von ihm selbst gesetzt, dann ließe sich dies nur so denken, daß eine übergreifende Ordnung existierte, durch die eine Wert- und Zweckhierarchie festgelegt wäre, durch die also bestimmt würde, daß das Individuum Zweck alles Übrigen sei. Aber in diesem Fall wäre eben diese Ordnung der höchste Zweck; denn wenn gefragt würde, warum alle Dinge um des einzelnen willen zu geschehen hätten, so wäre zu antworten: „Damit die vorgegebene Ordnung erfüllt werde“, und erst die Frage nach dem Sinn dieser Ordnung wäre nicht mehr beantwortbar (es sei denn man ginge noch einen Schritt weiter und beriefe sich etwa auf einen göttlichen Willen als [S. 54] höchstes Gut). Wenn der einzelne dagegen alle seine Zwecke selbst setzt, dann allein ist er der absolute Endzweck; denn auf die Frage, warum gerade diese und nicht andere Zwecke für ihn gölten, gibt es nur die Antwort: „Weil er es so will.“ Die Privatisierung aller Werte und Zwecke ist somit eine Konsequenz des hellenistischen Individualismus.“

MalteHossenfelder: Epikur. S. 53-54.

Die Gemeinschaft regiert auf „Privatisierung“ mit Entwertung. Wenn das Glück, auf Griechisch: Eudämonie, etwas ist, das vom Lustempfinden des einzelnen Menschen abhängt und von Mensch zu Mensch verschieden sein kann, dann ist es offenbar nichts Objektives, nichts Reales, sondern nur ein „psychologisches Phänomen“. Wenn etwas als „psychologisches Phänomen“ bezeichnet wird, dann soll damit zum Ausdruck gebracht werden, dass es nicht mehr als eine bloße Einbildung ist, ein Spleen, ein Hirngespinst eines Menschen.

KONSEQUENZ: GLÜCK WIRD ZU EINEM "PSYCHOLOGISCHEN PHÄNOMEN" - ZU EINER BLOSSEN EINBILDUNG

„Die strikte Subjektivierung der Eudämonie im Hellenismus hatte die weitere Folge, daß die Eudämonie zu einem rein psychologischen Phänomen wurde, das seinen Wert nicht mehr aus der Übereinstimmung mit der Weltordnung, sondern ganz aus sich selbst schöpfen mußte. Epikur umschreibt den Zustand der Glückseligkeit, wie vor ihm schon der Skeptiker Pyrrhon, mit ataraxia, was wir gemeinhin mit „Seelenruhe“ übersetzen. Die Stoiker gebrauchen den Ausdruck apatheia. Gemeint ist jedesmal dasselbe, nämlich das Freisein von jeglicher Erregung, die Ruhe und Ausgeglichenheit des Gemüts, der vollkommene innere Friede, vergleichbar mit der „Meeresstille“.“

MalteHossenfelder: Epikur. S. 56.

Mich hat die Lektüre von Hossenfelders Buch über Epikur an die Definition von Philosophie von José Ortega y Gasset erinnert: Bilanz ziehen mit sich selber. „Was habe ich erwartet, und was ist dabei herausgekommen?“ Philosophieren besteht darin, dass man mit sich selbst übereinkommt – und nicht darin, dass man mit den Anderen zu einer gemeinsamen Einsicht gelangt. „Bilanz ziehen“ bringt das zum Ausdruck: Der einzelne Mensch macht mit sich selber seine Wahrheit aus. Beim Philosophieren streben wir nicht nach einer gemeinsamen Wahrheit. Wir wollen ja nur wissen, was wir selber wirklich denken. Das können wir aber nur allein finden, wenn man uns in Ruhe lässt.

Die Tatsache, dass in der Philosophie der einzelne Mensch die Wahrheit mit sich selber ausmacht, hat auch die Konsequenz, dass es keine Philosophie gibt; jedenfalls gibt es sie nicht als (gemeinsames) Fach, bei dem man nur mitreden kann, wenn man darüber Bescheid weiß. Auch die Vorstellung, dass es Philosophieprofessoren gibt, die das Fach Philosophie vertreten und die deshalb dafür qualifiziert sind, weil sie besonders viel über das gemeinsame philosophische Wissen wissen, ist absurd. Im Grund sind die Existenz des Fachs Philosophie und von Philosophieprofessoren nur Versuche der Gesellschaft, die einzelnen Menschen einzuschüchtern und sie vom selbstständigen Philosophieren abzuhalten. Indem die Gesellschaft sagt: „Deine Gedanken sind doch dumm und peinlich; hör lieber diesem oder jenem anerkannten Philosophen zu – der kann viel besser philosophieren als du!“ – hält sie uns vom Philosophieren ab.

Professoren der Philosophiegeschichte kann es natürlich schon geben, denn es kann sehr inspirierend sein, von den Gedanken früherer Menschen zu erfahren, so wie uns etwa Malte Hossenfelder diejenigen von Epikur vermittelt.
Nach der Lektüre seines Buches hatte ich Lust, diesen Text zu schreiben, weil man mir während meines Studiums an der Universität öfter gesagt hatte, der Individualismus sei eine späte Entwicklung in der Geschichte, die Menschen des Mittelalters bis herauf ins 18. Jahrhundert hätten sich noch nicht als Individuen begriffen und überhaupt sei der Individualismus eine oberflächliche Erscheinung und man könne nicht davon ausgehen, dass die Menschen sich selbst wirklich als Individuen auffassen. Blödsinn – mit dem hellenistischen Individualismus war schon alles da. Und im Grunde noch früher: Mit dem platonischen Höhlengleichnis war schon alles da. Die Idee, dass die Gesellschaft mir vielleicht etwas vorschwindelt und ich selbst mir ein eigenes Urteil bilden muss, weil ich niemandem außer mir selbst trauen kann, ist der erkenntnistheoretische Individualismus in der Philosophie von Platon und Sokrates. Im Grund liegt der Individualismus sogar in der Idee der Philosophie selber, wie sie die Vorsokratiker entwickelt haben. In der Gestalt nämlich, dass man religiöse Vorstellungen und gesellschaftliche Traditionen nicht einfach so hinnehmen kann, sondern über sie nachdenken sollte, was von ihnen gut und richtig ist und was nicht. Die Philosophie kam als kritische Auseinandersetzung mit der gemeinsamen Wahrheit auf die Welt, also als Abkehr von dieser Gemeinsamkeit. Sie hat die Form: „Ihr alle sagt das und das, ich aber halte etwas anderes für richtig.“

Und, auch wenn ich mich wiederhole: Wenn wir miteinander philosophisch diskutieren, dann erinnert euch daran, dass es dabei nicht um die gemeinsame Erkenntnis geht, sondern um die Überzeugungen, mit denen ich leben muss. Sagt also nicht etwas in der Art von: „Das ist kompletter Blödsinn!“ und „So kann man das nicht sehen!“ und was man sonst so sagt, wenn man bestrebt ist, einem Gesprächspartner die Kompetenz zur Mitbestimmung der gemeinsamen Erkenntnis abzusprechen. Denn es geht beim Philosophieren nicht um die gemeinsame Erkenntnis, sondern um den philosophierenden Menschen und um die Vorstellungen in seinem Kopf, die ihn glücklich oder unglücklich machen. Dass es in der Philosophie um den einzelnen Menschen und um seine persönliche Lebensqualität geht – und nicht um die Gruppe und ihre gemeinsame Wahrheit – folgt daraus, dass Epikur das Lustprinzip ins Zentrum seiner Philosophie gestellt hat. Nicht die Lust folgt daraus oder die Gier nach Genuss, sondern die Autonomie des einzelnen Menschen über seine eigene Erkenntnis. Dass die anderen Menschen einem nichts dreinreden können, weil sie nicht wahrnehmen können, wie man selbst die Welt erlebt, ist aus meiner Sicht der Kern der Philosophie Epikurs. In diesem Text wollte ich nur festhalten, dass es dieser Umstand ist, der das Selberdenken erst ermöglicht. Denn nur über die eigene Weltsicht kann man selber, also ungestört und unbeeinträchtigt durch die Anderen, nachdenken.

JOSÉ ORTEGA Y GASSETS DEFINITION VON PHILOSOPHIE ALS BILANZMACHEN MIT SICH SELBER

"Es handelt sich also um die Notwendigkeit, dass der Mensch periodisch die Rechnungen jenes Geschäfts klarstellen muss, welches sein Leben ist und für das nur er verantwortlich ist, indem wir von der Optik, in der wir sehen und in der wir die Dinge erleben, insofern wir Mitglieder der Gesellschaft sind, zu derjenigen Optik zurückkehren, in der die Dinge erscheinen, wenn wir uns in unsere Einsamkeit zurückziehen. In der Einsamkeit ist der Mensch seine Wahrheit – in der Gesellschaft tendiert er dazu, ihre bloße Konventionalität oder Falsifikation zu sein. In der authentischen Realität des Menschlichen Erlebens ist die Verpflichtung zum häufigen Rückzug zum einsamen Untergrund von einem selbst inkludiert. Dieser Rückzug, in dem wir von den bloßen Wahrscheinlichkeiten, wenn nicht gar einfachen Schwindeln und Illusionen, in denen wir leben, ihre Beglaubigungen authentischer Realität verlangen, ist das, was man mit einem affektierten, lächerlichen und verwirrenden Namen Philosophie nennt."

José Ortega y Gasset: El hombre y la gente. Alianza Editorial, Madrid 1980. S. 105-106. [Übersetzung: Helmut Hofbauer]


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