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Zu:Was
ist Philosophie? Anmerkung über zwei Aussagen von Bertrand
Russell
Es
ist erstaunlich, wie auch bei bekannten Philosophen an diesem
Punkt Verwirrung herrscht. So meinte etwa Bertrand Russell
einerseits sehr richtig:
„Der
Wert der Philosophie besteht im Gegenteil gerade wesentlich
in der Ungewissheit, die sie mit sich bringt. […]
Die Philosophie kann uns zwar nicht mit Sicherheit sagen,
wie die richtigen Antworten auf die gestellten Fragen heißen,
aber sie kann uns viele Möglichkeiten zu bedenken geben,
die unser Blickfeld erweitern und uns von der Tyrannei des
Gewohnten befreien. Sie vermindert unsere Gewissheit darüber,
was die Dinge sind, aber sie vermehrt unser Wissen darüber,
was die Dinge sein könnten.“
(Was
ist Philosophie? Programmatische Texte von Platon bis Derrida.
Reclam, Stuttgart 2006. S. 218.)
Aber an anderer Stelle schreibt er dann:
„Was
bei der Kontemplation noch persönlich oder privat
ist, alles, was von Gewohnheiten, eigenen Interessen
oder Wünschen abhängt, verzerrt den Gegenstand
und stört die Einheit, nach der der Intellekt strebt.
Indem sie so eine Barriere zwischen dem Subjekt und dem
Objekt aufrichten, werden diese persönlichen und
privaten Dinge zu einem Gefängnis des Geistes. Der
freie Intellekt will die Dinge sehen, wie Gott sie sehen
würde, frei vom Hier und Jetzt, von Hoffnungen
und Ängsten, ohne den Plunder gewohnter Meinungen und
traditioneller Vorurteile, ruhig, leidenschaftslos, nur
von dem einen und alle anderen ausschließenden Wunsch
nach Erkenntnis beseelt, nach einer Erkenntnis, die so unpersönlich,
so rein kontemplativ ist, wie das für Menschen möglich
ist. Deshalb wird der freie Intellekt auch die abstrakte
und allgemeine Erkenntnis, die von den Zufällen der
persönlichen Geschichte unberührt bleibt, höher
schätzen als die Erkenntnis durch die Sinne, die notwendigerweise
von einem ganz persönlichen Gesichtspunkt und einem
Körper abhängt, dessen Sinnesorgane entstellen,
was sie uns enthüllen.“
(Ebenda,
S. 219. Hervorhebungen von mir, H.H..)
Autsch! Das tut weh! So eine Aussage wie
diese letztere, das tut tatsächlich weh! Und –
hat Russell eigentlich nicht gesehen, dass sie sich mit
der ersteren Aussage widerspricht? In der ersten Aussage
haben wir es mit einem Menschen zu tun, der den Wunsch hat,
der „Tyrannei des Gewohnten“ zu entkommen, um
mehr Möglichkeiten in den Dingen zu sehen. Das ist
es ja auch gerade, was Philosophie leisten kann: Sie erhöht
nicht unbedingt unser Wissen über die Dinge, aber sie
steigert unseren Möglichkeitssinn. Die Dinge so zu
sehen, wie sie sein könnten - wieso, wozu könnte
man so etwas wollen? Man könnte das deshalb wollen,
damit man sehen kann, wo und wie man seine eigenen Wünsche
mit den Dingen in Verbindung bringen kann. Denn die Dinge
in ihren Möglichkeiten zu sehen, gibt uns die Möglichkeit,
etwas von ihnen zu wollen und etwas mit ihnen machen zu
wollen. Auf diese Weise erfährt dieser Mensch, den
wir da vor uns sehen, eine befreiende Erweiterung seines
Lebens, was umgekehrt auch bedeutet, dass er ein großes
Bedürfnis danach verspürt hatte.
Und
jetzt, in der zweiten Aussage, soll er die Dinge plötzlich
ohne „eigene Wünsche oder Interessen“,
das heißt bedürfnislos, erkennen? Zuerst soll
er – er selber, höchstpersönlich –
ein Bedürfnis nach Philosophie oder ein Bedürfnis,
aus der „Tyrannei des Gewohnten“ zu entkommen,
haben und dann soll er kein Bedürfnis haben –
und bedürfnislos erkennen? Das funktioniert so nicht,
das ist ein Widerspruch in sich. Und dieser Widerspruch
wird ja auch im Text selber sichtbar, da, wo Russell sagt:
„Der freie Intellekt will die Dinge sehen, wie Gott
sie sehen würde...“ Hier sieht man, dass das
Unsinn ist, was Russell hier schrieb, denn wir Menschen
können eben nicht „wie Gott sehen“, wir
erkennen also durch diese Formulierung sehr deutlich, dass
es Russell selbst halb zu Bewusstsein gekommen sein muss,
dass diese unpersönliche Erkenntnis, die er hier beschrieb,
keine menschliche Erkenntnis ist, keine menschliche Form
von Erkennen, sondern eine übermenschliche –
wir Menschen können aber nur menschlich erkennen. Weil
aber das falsch und verkehrt herum ist, ist auch alles Übrige
in diesem Abschnitt verkehrt herum, so zum Beispiel, dass
unsere Wünsche und Interessen eine Barriere zwischen
dem Subjekt und dem Objekt angeblich sein sollen. Gerade
das Gegenteil ist wahr: Unsere Wünsche und Interessen
oder auch unsere Hoffnungen und Ängste sind dasjenige,
was uns – Subjekte – mit den Objekten in der
Welt verbindet!
Wenn wir uns etwas nicht wünschen oder
nicht Angst davor haben, dann interessiert es uns auch nicht
– und dann schauen wir es uns auch nicht an! Oder
wir schauen es uns zumindest nicht sehr aufmerksam an und
vergessen es sehr schnell wieder. Erkenntnis bedeutet nichts
anderes, als dass wir unsere Wünsche (oder Ängste)
mit der Welt in Verbindung bringen. Wenn wir also zum Beispiel
einen Hügel sehen, so kann dieser Hügel für
uns etwas zum Hinauflaufen sein. Wenn es ein sonniger Tag
ist und der Hügel mit einer schönen Blumenwiese
bedeckt ist, dann kann dieser Hügel für uns etwas
zum Hinsetzen und Ausrasten sein. Es bestehen aber noch
viele andere Möglichkeiten, vielleicht wollen wir den
Hügel kaufen und uns auf ihm ein Wohnhaus für
uns bauen. So sehen wir Menschen einen Hügel (zum Beispiel)
an. Was aber könnte Gott, wenn es einen gibt, in diesem
Hügel sehen? Würde er ihn hinauflaufen wollen?
Oder sich auf ihm niedersetzen? Sich ein Haus bauen? Ich
weiß es nicht, ich kann natürlich nicht wissen,
was ein Gott will, aber dass er diese Dinge will, würde
ich bezweifeln. Und hier liegt auch der Grund, warum wir
die Welt nicht so erkennen können, wie Gott sie erkennt:
weil wir nämlich nicht wissen, was Gott will. Und selbst
wenn wir es wüssten, einmal angenommen, wahrscheinlich
wäre dieses Wollen dann aufgrund der Göttlichkeit
des Wesens Gottes so komplex und aufgrund seiner Allmacht
und Allgegenwart so unfassbar für uns, dass wir es
nicht verstehen könnten. Daraus ergibt sich als Schluss:
Selbst wenn wir mal probeweise durch die Augen Gottes schauen
dürften, wir würden nichts sehen. Wir würden
deshalb nichts sehen, weil unsere, die menschliche Erkenntnis,
dadurch bestimmt ist, dass wir relativ einfach gestrickte
Wesen sind, die meistens zwei Arme und zwei Beine haben
und ein relativ beschränktes Spektrum von Gefühlen,
Wünschen und Ängsten. Und alles, was über
unsere Wünsche und Ängste hinausgeht, das können
wir nicht sehen, weil unsere Wünsche und Ängste
gewissermaßen unsere „Augen“ sind, mit
denen wir die Welt sehen.
Die wichtigste Erkenntnis aber, die diesem
Abschnitt von Russell abgeht und gleichzeitig doch irgendwie
da ist, in ihrer Verneinung, in ihrem Gegenteil, das ist
die Erkenntnis, wie sehr dasjenige, was uns mit der Welt
verbindet, unser Körper ist. Russell wünschte
sich eine körperlose, eine unsinnliche Erkenntnis,
aber so etwas gibt es nicht. Ich sagte schon, wir können
die Welt nicht so wie Gott erkennen, sondern nur so wie
Menschen. Unter anderem ist das deswegen so, weil Gott keinen
Körper hat, so wie wir einen haben. Hier ist nun noch
dazuzufügen, wir können die Welt nur so erkennen
wie Zweibeiner, wie Allesfresser, wie nackte Säugetiere,
die sich kleiden müssen, um nicht zu frieren; wie Wesen,
die schlechter sehen als Katzen und schlechter hören
als Hunde; wie Wesen, die nicht so gut klettern können
wie Katzen und nicht so schnell laufen wie Hunde; wie Wesen
übrigens auch, die nicht fliegen können, so wie
viele andere Tiere das können; wie Wesen, die mit Uhr
und Kalender leben und gewöhnlich einen Arbeitsplatz
haben, mit allen Pflichten, die damit verbunden sind.
Fazit,
wir erkennen so, wie wir sind – und alle diese zuvor
genannten Dinge, von unseren Wünschen und Ängsten
angefangen, über unseren Körper mit seinen genauen
Eigenschaften, bis hin zu unserer individuellen, persönlichen
Lebensgeschichte und unserem psychischen Temperament tragen
dazu bei, noch genauer zu bestimmen, wie wir sind und wie
wir erkennen. Am exaktesten wäre die individuelle Erkenntnis
zu einem bestimmten Zeitpunkt, wenn wir genau wüssten,
welche Umstände die Erkenntnis dieses Menschen bestimmen,
was praktisch nicht möglich ist. Wissenschaftliche
Erkenntnis ist als intersubjektive bei Weitem nicht so genau
und oft auch nicht einmal mehr verständlich und zwar
dann, wenn ein Autor seine Erkenntnisse unpersönlich
formuliert und die Dinge einfach beschreibt, wie sie sind.
Es passiert dann oft in wissenschaftlichen Texten, dass
man nicht weiß, was der Autor von den Dingen will
oder auch, was er uns sagen will – und man deshalb
seine Aussagen nicht einschätzen kann. Das passiert
gewissermaßen dann, wenn ein menschliches Wesen einem
anderen menschlichen Wesen etwas auf eine Weise erklärt,
so als ob es kein menschliches Wesen wäre – keine
schlechte Definition von Wissenschaft.
Im
Fall von Russell ist das wahrscheinlich – wie meistens
– ein Selbstmissverständnis. Russell meinte zwar,
eine abstrakte, allgemeinere und höhere Erkenntnis
zu suchen als diejenige, die durch „Interessen und
Wünsche“ geprägt ist, in Wirklichkeit aber
suchte er bestimmte Gefühle, sehr schöne Gefühle:
das Gefühl der Ruhe etwa, das Gefühl der Leidenschaftslosigkeit
auch. Durch die Tätigkeit der Kontemplation kann man
sehr schöne Gefühle erreichen, die wohl in diesen
zitierten Abschnitt von Russell (jedoch beleibe nicht nur
in ihm) Verwirrung gestiftet haben, weil sie allgemein nicht
als Gefühle gelten, sondern als das Gegenteil von Gefühlen.
Nein, wer nach dem (schönen) Gefühl der Ruhe strebt
oder auch nach dem (schönen) Gefühl der höheren
Erkenntnis, wer also die philosophische Erkenntnis benutzt,
um in einem gleichsam buddhistischen ozeanischen Gefühl
aufzugehen, der verfolgt damit genauso ein persönliches
Interesse, folgt genauso einem persönlichen Wunsch
wie der andere, welcher zugibt, dass er keine unpersönliche
Erkenntnis sucht, sondern eine, die seine „Interessen
und Wünsche“ befriedigt.
23. Februar
2007
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