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Ingeborg Bachmann: "Das schreibende Ich"

 

Ingeborg Bachmann: Das schreibende Ich“, in: dieselbe: Frankfurter Vorlesungen. Probleme zeitgenössischer Dichtung. Piper Verlag, München 1980. S. 41-61.

 

Ingeborg Bachmanns Poetikvorlesung „Das schreibende Ich“, gehalten an der Universität Frankfurt im Wintersemester 1959/60, ist insbesondere interessant, wenn man ihn mit Michel Foucaults Vortrag: „Was ist ein Autor“ aus dem Jahre 1969 parallel liest. Warum das so ist, sage ich am Ende dieses Textes.

Ingeborg Bachmann beginnt ihren Vortrag damit, dass es nicht so klar sei, was „Ich“ meint; relativ klar ist es noch, wenn ein Einzelner zu einem anderen Einzelnen spricht, sobald man aber zu vielen spräche, „so verändert sich das Ich unversehens, es entgleitet dem Sprecher, es wird formal oder rhetorisch.“ (S. 41) Aber: Was könnte denn das Ich sein, fragt sich Bachmann und antwortet: „…ein Gestirn, dessen Standort und dessen Bahnen nie ganz ausgemacht worden sind und dessen Kern in seiner Zusammensetzung nicht erkannt worden ist.“ (S. 42)

Sodann beginnt Bachmann ihre Untersuchung des Ich in der Literatur – und zwar beginnt sie sie mit dem einfachsten Fall: „Unproblematisch ist für uns das Ich, wenn eine historische Person, ein Politiker etwa, ein Staatsmann oder ein Militär mit ihrem Ich in Memoiren antreten.“ (S. 43) Ihr Ich habe dann keine andere Funktion, als ihren Bericht zu bestätigen, und es interessiere uns auch nicht weiter, als bloß als dieses konkrete Ich Churchills, de Gaulles oder wer immer es sei.

Dieses „einfachste Rollenfach“ könne zwar die Mehrzahl der Autoren literarischer Texte nicht besetzen, trotzdem, so Bachmann, wolle sie anfangen mit dem „einfachsten und darum zugleich frappierendsten Ich […], daß ein Autor […] uns sein Ich vorführt, ausgestattet mit seinem eigenen Namen und allen seinen Daten“ (S. 45). Henry Miller und Louis Ferdinand Céline haben das getan. Bachmann urteilt über diese Versuche mit einer gewissen Hochachtung vor dem schriftstellerischem Können, das dahinter steht, aber im Zusammenhang mit ihrer Ich-Methode doch eher negativ: „Daß Millers und Célines Ich sich halten können, liegt nur daran, daß sie eine Sprache haben, die gesteigert das Chaos wiederholt, sie reden, reden und reden, bis ihr Leben in Sprache aufgeht.“ (S. 46) Fazit: gutes Erzählen funktioniert auf diese Weise anscheinend nicht.

Interessanterweise funktioniert dieselbe Methode des unverblümten Ich-Vortrags – für Bachmann – aber schon im Tagebuch. Ein Tagebuch-Ich, wie das von André Gide, sei belastbarer als ein Roman-Ich, deshalb dürfe es (überflüssige) Gedanken vorbringen, mit denen man ein Roman-Ich nie belasten dürfe. Auch der Grund, warum es das darf, wird verraten: Das Tagebuch-Ich sei nämlich in Wahrheit wählerisch, in ihm posiere der Schriftsteller. Das Tagebuch, so sagt sie noch, erwecke den Eindruck einer intimen Äußerung und trotzdem verberge es doch eigentlich das Ich eher, der Autor wirke auf eine unerklärliche Weise entrückt. (S. 47-48)

Das Tagebuch habe die Ich-Form zwangsweise, Roman und Gedicht jedoch hätten die Wahl und deshalb hätten Roman und Gedicht auch Ich-Probleme. Eine originelle Lösung dieses Problems führt Bachmann anhand der Kreuzersonate von Leo Tolstoi vor: In einer Rahmenhandlung wird ein Ich vorgeschoben, dem die Hauptfigur der Erzählung, als zweites Ich, in der Folge seine Geschichte erzählt. Diese Methode funktioniert auch mit einem Herausgeber-Ich. Als Beispiel bringt Ingeborg Bachmann Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus vor: Hier gibt der Herausgeber vor, nach dem Tod eines Sibiriensträflings ein Heft voll mit Aufzeichnungen gefunden zu haben, die er nun veröffentliche – in Wirklichkeit jedoch tarnte sich Dostojewski, der selbst in Sibirien gewesen war.

Diese Methoden aber gehörten, so Bachmann, eher ins bekenntnisverliebte 19. Jahrhundert. Im 20. Jahrhundert dagegen wurde die Angelegenheit mit dem Ich komplizierter. Sie bringt als Beispiel Italo Svevos Roman Zeno Cosini. Es handelt sich dabei um die Aufzeichungen des Triester Kaufmanns Zeno Cosini, der die Psychoanalyse nicht ernst nahm und glaubte, sein eigenes Leben durch genaue Beschreibung besser analysieren zu können als ein Fachmann. Zeno Cosini, der eine „nichtige Existenz“ mit „Chaplin-Zügen“ führt, kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass ein geschriebenes Bekenntnis immer verlogen sei. Sobald wir anfangen, über uns zu erzählen, schmücken wir aus, lassen wir weg und schreiben die Vergangenheit immer neu – nämlich jeweils so, wie wir sie in Bezug auf die Gegenwart brauchen.

Hier haben wir also schon ein Ich vor uns, das ganz im Unklaren über sich selber ist, kurz danach komme mit Robert Musil ein Autor, der diese Zweifel am eigenen Ich in einem Buchtitel mit den Worten Der Mann ohne Eigenschaften fasst. Zwischen dem Ich des 19. Jahrhunderts (oder gar dem von Goethes Werther) und jenem von Italo Svevos Zeno Cosini, lägen Abgründe, so Bachmann – und sie versucht, die Veränderung zu beschreiben: „Die erste Veränderung, die das Ich erfahren hat, ist, daß es sich nicht mehr in der Geschichte aufhält, sondern dass sich neuerdings die Geschichte im Ich aufhält.“ (S. 54) Das Ich wird jetzt befragt, man traut es ihm nicht mehr zu, imstande zu sein, seine Geschichte erzählen zu können, man glaubt ihm diese Geschichte nicht mehr; mit der Auflösung des Ichs verliert aber auch die Geschichte, die Erzählung ihre Garantie – sie könnte eine falsche Erinnerung, ein Traum oder eine Fieberphantasie sein.

Marcel Proust spielte in seinem Romanwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit mit diesen neuen Möglichkeiten. Denn aus diesem anscheinenden Verlust, des Ich – an Selbstgewissheit – und der Erzählung – an Wahrheitsgarantie – erwächst auch ein Gewinn für den Schriftsteller, der in einer größeren Freiheit seinem Stoff gegenüber besteht. Das Besondere am Proustschen Roman sei, dass das Ich über lange Strecken ganz verschwinde. Der Grund dafür ist, dass Proust das Ich nicht als Handlungsfigur gebraucht, sondern bloß in seiner Eigenschaft als Erinnerungswesen – er behält das Ich nur als jene Einheit, die imstande ist sich zu erinnern, bei der gegenwärtige Düfte oder Geschmäcker Bilder von vergangenem Erlebten wachrufen können.

Ein weiteres rätselvolles Ich findet Bachmann in Hans Henny Jahns Roman Fluß ohne Ufer. Auch hier schreibt wieder, wie bei Italo Svevo, eine Romanfigur über sich selber, diesmal aber eine, die auf der Suche nach der eigenen Schuld an einem Verbrechen ist, nach der eigenen Verantwortlichkeit. Sie ist aber nicht in der Lage eine Konstante des Wesens zu finden, durch die sie verantwortlich gemacht und gerichtet werden könnte. Dieses Ich entdeckt sich nur als Instrument eines blinden Geschehens.

Mit dem letzten Ich-Beispiel, das Ingeborg Bachmann präsentiert, geht sie noch einen Schritt weiter und befindet sich nun also sozusagen schon auf einem Extrempunkt, es ist das das Ich von Mahood in Samuel Becketts Roman Der Namenlose. Mahood ist ein Wesen, das nur mehr aus Kopf und Rumpf besteht und in einem Blumenkübel lebt. Becketts Ich sei die Umwelt völlig abhanden gekommen, die übliche Ich- und Weltbefragung erübrige sich dadurch. Es finde eine „Liquidation der Inhalte überhaupt“ statt.

Nachdem nun Bachmann die Geschichte der Ich-Auflösung in der Dichtung vom 19. bis ins 20. Jahrhundert vorgeführt hat, bis zum Extrempunkt des Beckett’schen Ich hin, das nur mehr sinnlos quasseln kann, um sich seiner selbst zu versichern, weil ihm Selbst- und Weltbezug verloren gegangen sind, folgt ein recht sonderbarer Schluss:

„Das sind die letzten bedrückenden Verlautbarungen des Ich in der Dichtung […]. Aber wird von der Dichtung nicht, trotz seiner unbestimmbaren Größe, seiner unbestimmbaren Lage immer wieder das Ich hervorgebracht werden, einer neuen Lage entsprechend, mit einem Halt an einem neuen Wort? Denn es gibt keine letzte Verlautbarung. Es ist das Wunder des Ich, daß es, wo immer es spricht, lebt; es kann nicht sterben – ob es geschlagen ist oder im Zweifel, ohne Glaubwürdigkeit und verstümmelt – dieses Ich ohne Gewähr! Und wenn keiner ihm glaubt, und wenn es sich selbst nicht glaubt, man muß ihm glauben, es muß sich glauben, sowie es einsetzt, sowie es zu Wort kommt, sich löst aus dem uniformen Chor, aus der schweigenden Versammlung, wer es auch sei, was es auch sei. Und es wird seinen Triumph haben, heute wie eh und je – als Platzhalter der menschlichen Stimme.“ (S. 61)

Nach der analytischen Zersetzung des Ich durch den ganzen Vortrag hindurch folgt nun also als Schlusspunkt ein emphatisches Glaubensbekenntnis an das Ich. Woher kommt das? Und wo kommt das so plötzlich her?

Nun ist es an der Zeit, wieder auf Michel Foucault zurückzukommen. Man könnte in Anbetracht von Ingeborg Bachmanns Vortrag auf den Gedanken kommen, dass Foucaults Vortrag „Was ist ein Autor?“, in dem er durch die Darstellung der Tatsache, dass im Laufe der Geschichte die Rolle des Autors von der Gesellschaft immer wieder anders aufgefasst worden ist, nahe legt, dass es gar keinen Autor gibt, wie es die heutigen Literaturdozenten und Literaturprofessoren immer wieder freudestrahlend vortragen, (er legt es nahe, denn genau sagt er nirgendwo, was er mit dem Vorgebrachten eigentlich aussagen möchte) - man könnte also auf den Gedanken kommen, dass dieser Vortrag Foucaults am Ende einen ganz genauso überraschenden Schluss haben könnte wie der von Ingeborg Bachmann oder dass ihm dieser Schluss vielleicht sogar abgeht. (Tatsächlich folgt zumindest in der Suhrkamp-Ausgabe dieses Vortrags nach dem Ende desselben noch einmal ein Statement Foucaults und dann geht der Text über in die Aufzeichnung der Diskussion mit den Zuhörern.)

Michel Foucaults Vortrag könnte am Ende also ein ebenso emphatisches „Und den Autor gibt es doch!“ haben wie Bachmanns Vortrag ein emphatisches „das Ich lebt, wo immer es spricht“ und „es kann nicht sterben“ als Schluss hat. Es ist nun klar, dass Foucault das nicht wollte; er wollte eine andere Weise, wie über den Autor gesprochen werden sollte, nämlich nicht über den Autor selber, sondern über die Autor-Funktion in der Gesellschaft und über die Diskurse, die eine Autor-Funktion haben. Aber wenn wir die Angelegenheit nun einmal nicht von Foucaults Absicht her, sondern von der Sache her beurteilen: Was spricht dagegen? Spricht die Tatsache, dass sich die Geschichte und die Gesellschaft des Begriffs des Autors bedient haben, um Individualisierung erscheinen zu lassen oder vorzutäuschen, gegen den Autor? Spricht die Tatsache, dass sich der Autor mit seinem Schrifttum im Laufe der Geschichte als Autor nur recht ungenügend realisieren hat können oder Anerkennung für seine Autorschaft finden hat können, gegen den Autor? Ja, aber es spricht doch auch vieles gegen das Ich – und trotzdem hat Bachmann es gelten lassen. Möglicherweise ist das Ich innen hohl, möglicherweise ist es nur ein Platzhalter – aber dann ist es eben doch ein Platzhalter für die menschliche Stimme (weil Menschen immer nur einzeln, als Ichs, vorkommen, auch wenn sie sich dessen oft nur unzureichend bewusst sind).

Bei einem Text ist es so: Ein Text funktioniert auch ohne Autor. Viele Texte haben keine namentlich bekannten Autoren, Gesetzestexte zum Beispiel. Aber ich würde an vielen Texten das Interesse verlieren, wenn ich weiß, dass sie keinen Autor haben – weil der Autor (als wahre oder auch nur vorgestellte Person) das Einzige ist, was mich an diesen Texten interessiert. Mit Autoren ist es ähnlich wie mit dem Ich, sie erscheinen im oder hinter dem Text, als Luftspiegelungen vielleicht oder auch als Platzhalter, in die man sich selber mit seinem eigenen Ich einschreiben kann. Der Punkt ist nur: Wenn da von vornherein kein Autor ist, dann verliert ein Text auch seinen Autor-Reiz – das ist der Reiz, dass hier ein Mensch, ein Individuum, hinter dem Text stehen könnte, der/die etwas von sich gegeben hat, was ihm/ihr wichtig war.

 

12. Februar 2008

 

© helmut hofbauer 2008